Baudrillard: Als die Menschenrechte und die Demokratie anfingen wie Öl und Kapital zu zirkulieren

In seinem aktuellen Essay »Europa Fata Morgana« spricht Georg Seeßlen von der Postdemokratie als einem permanenten Ausnahmezustand, in dem die Vielfachkrisen (Krieg gegen den Terror, Finanzkrise, Griechenland-Krise, Flüchtlingskrise etc.) die Funktion erfüllten, jenen gerade aufrechtzuerhalten. Seeßlen schreibt: »Der Ausnahmezustand kann nur dann aufrecht erhalten werden, wenn ein Problem nicht gelöst, sondern in serielle Schwingungen versetzt wird. Da und solange wir uns in einem permanenten Ausnahmezustand befinden, in einer Art Krisenmanagement als Unterhaltung (im doppelten Sinn), sind die großen Projekte der schwindenden Moderne: Demokratie, Aufklärung, Humanismus, suspendiert.« Das deckt sich weitgehend mit der von Jean Baudrillard in seinem Buch »Der Geist des Terrorismus« vorgenommenen Diagnose, dass heute das Universelle durch das Globale absorbiert werde. (Baudrillard 2011: 50f.) Baudrillard konstatiert zunächst eine »trügerische Analogie« zwischen den Begriffen des Universellen und des Globalen. Während Menschenrechte, Freiheit und Demokratie den universellen Werten der westlichen Aufklärung zugerechnet werden könnten, zeichne sich die Globalisierung durch »Techniken, Markt, Tourismus, Finanz, Information« aus. Wie Seeßlen sieht Baudrillard die westliche Universalität im Schwinden begriffen, während die Globalisierung anscheinend irreversibel ist. Jede Kultur, die sich zu universalisieren versuche, verlöre ihre Singularität und müsse unweigerlich absterben, so die Diagnose von Baudrillard. Er konstatiert, dass die Universalisierung, die sich in der Aufklärung noch als Fortschrittsdiskurs dargestellt habe, sich heute als endlose Wucherung der Werte inklusive ihrer Neutralisierung vollziehe. Er schreibt: »Dasselbe geschieht unter anderem den Menschenrechten, der Demokratie; ihre Expansion entspricht ihrer schwächsten Definition, ihrer maximalen Entropie.« (ebd.: 51).  Menschenrechte, Demokratie und Freiheit zirkulieren heute global in einem entropischen Modus. Baudrillard scheint hin- und hergerissen; einerseits konstatiert er wie Seeßlen die Suspension der westlichen Leitwerte oder sogar den Untergang derselben in der Globalisierung, die wiederum nur den Tausch universalisiert habe, andererseits spricht er von der entropischen und zugleich endlosen Zirkulation der universellen Werte im kapitalistischen Modus. Baudrillard schreibt: «Zunächst globalisiert sich der Markt, die Promiskuität jeglichen Tausches und aller Produkte, der fortgesetzte Fluss des Geldes. Kulturell bedeutet dies die Promiskuität aller Zeichen, aller Werte, das heißt Pornographie … Am Ende diese Prozesses gibt es keine Differenz zwischen dem Globalen und dem Universellen mehr, das Universelle wird selbst globalisiert, die Demokratie und die Menschenrechte zirkulieren genau wie jedes andere globale Produkt, wie Erdöl oder das Kapital« (ebd.: 51). Dass Baudrillard unentschieden zu sein scheint und nicht konsequent die zweite Position einnimmt, mag damit zusammenhängen, dass er unterschwellig die Gleichsetzung von Moderne, Technokultur und Kapital/Kapitalismus vornimmt. Dieser Gleichsetzung folgend hat dann die Postmoderne als eine besondere kulturelle Formation bzw. als eine Phase des Kapitalismus zu gelten, die wahlweise als Informationskapitalismus, Konsumgesellschaft, kognitiver oder simulativer oder kybernetischer Kapitalismus beschrieben wird. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass in einer derartig philosophisch überdeterminierten Darstellung des Kapitalismus die von Ellen Meiksins Woods festgestellte Naturalisierung des Kapitalismus statthat. Sie schreibt: »Die Spezifität des Kapitalismus geht wieder in den Kontinuitäten der Geschichte verloren, und das kapitalistische System wird in dem unvermeidlichen Prozess der ewig auf steigenden Bourgeoisie naturalisiert.« (Meiksins Wood 2015: 220) Aber auch Woods bleibt an diesem Punkt ungenau, weil sie nicht zwischen Kapital und Kapitalismus unterscheidet.

Der Kapitalismus ist als eine – unter ökonomischen, politischen und kulturellen Gesichtspunkten – durchaus heterogene historische Formation zu verstehen, die aber im wesentlichen von den Produktions- und Zirkulationslogiken des Kapitals determiniert wird. Dabei findet man im Kapitalismus neben der dominanten Produktionsweise des Kapitals auch nicht-kapitalbestimmte Produktionsweisen vor, seien es neofeudale, slumähnliche, korrupte und kriminelle Ökonomien, aber auch genossenschaftliche Ökonomien, die nur teilweise an das Kapital gekoppelt oder gar nicht an es angebunden sind (nur ca. 40-50% aller weltweit geleisteten Arbeit unterliegt direkt dem Kapitalverhältnis). Das Kapital sollte man hingegen als ein begriffliches und semiotisches »Modell« oder als ein differenzielles System fassen, dessen Produktions- und Zirkulationskreisläufe einer spezifischen immanenten Gesetzlichkeit folgen, die es im Gleichgewicht hält wie sie es auch krisenhaft macht. Das Kapital und die ihm eigene Methode der Kapitalisierung fungiert sozusagen als der Motor (der von einer Relation nicht zu trennen ist) der Formation »Kapitalismus«, in der die Ökonomie in der letzten Instanz alle anderen Bereiche wie Politik, Kultur, Kunst, Wissenschaft etc. determiniert. Durchaus lässt sich dies als »kapitalozentrisch« verstehen, und dieser Begriff ist auch gegen den in Mode gekommenene Begriff des »Anthropozän« gerichet. (Vgl. Moore 2015) Louis Althusser spricht an dieser Stelle von der kapitalistischen Produktionsweise, die er als ein begriffliches Objekt bzw. Gegenstand begreift, das die Relation zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen impliziert. (Althusser/Balibar 1972) Die kapitalistische Produktionsweise ist nach Althusser die determinierende, komplexe »Kerngestalt« einer noch komplexeren kapitalistischen Gesellschaftsformation, die von mehreren Produktionsweisen durchzogen ist. Die theoretische Analyse des historisch existierenden Kapitals, das sich heute als Globalisierung artikuliert, benötigt den Einbezug möglichst vieler empirischer Sachverhalte. Innerhalb der Globalisierung gibt es eine Reihe von ungleichen Gliedern, seien es die national agierenden Einzelkapitale, die multinationalen Konzerne, das jeweils nationale Gesamtkapital und die Staaten. Dabei besitzen diese Entitäten ein einziges gemeinsames Interesse, nämlich die Aufrechterhaltung des Kapitalsystems. Der global vernetzte Zusammenhang, von manchen marxistischen Autoren auch als imperialistische Kette bezeichnet, muss – komme was wolle – reproduziert werden. Dabei ist die Globalisierung nicht einfach als die Summe der Handlungen von Agenten, sondern als der ortlose Ort der erweiterten Reproduktion des Kapitals zu verstehen. Dafür stellen die digitalen Informations-.und Kommunikationstechnologien und der entsprechende Diskurs zu den globalen Netzwerken die materiell-diskursiven Infrastrukturen bereit.

In diesem Kontext muss die Aussage Baudrillards verstanden werden, dass die Absorption des Universellen durch das Globale einerseits Homogenisierung, andererseits  Fragmentierung und Diskriminierung beinhaltet, die sich durch wachsende Exklusion auszeichnen, man denke an den unnützen Anteil der Menschheit, an die Arbeitsnomaden und Migranten. Seeßlen schreibt zur Exklusion: »Man schließt vom Markt aus, wer keinen Profit bringt (und zwar den richtigen Leuten), man schließt von der Arbeit aus, wer nicht genug „Leistung“ und Willen zu Ausbeutung und Selbstausbeutung bringt, man schließt von Bildung aus, wer sich nicht in die Elitenbildung fügt, man schließt von Versorgung aus, wer zuviel Kosten verursacht, und so weiter. Der Neoliberalismus schließt nicht nur Menschen aus, sondern auch Wirtschaftsträume, Kulturen, Ansichten, schließlich ganze Kontinente.«

Solange die universellen Werte noch eine gewisse Legitimität besaßen, konnten die Singularitäten als Differenzen in ein System integriert werden. Baudrillard hat das Mantra der Differenzphilosophie, noch bevor Laruelle seinen umfassenden Angriff auf diese gestartet hat, im Konsum entdeckt. Baudrillard schreibt diesbezüglich: «Entscheidend jedoch ist dieser Zwang zur Relativität insofern, als er den Bezugsrahmen für eine nie endende differenzielle Positionierung bildet.« (Baudrillard 2015: 90) Damit sei es nun aber im Zuge der Globalsierung vorbei: »…nun aber gelingt es ihnen (den Werten) nicht mehr, da die triumphierende Gloabalisierung mit allen Differenzen und Werten tabula rasa macht, indem sie eine vollkommen indifferente Kultur oder Unkultur einbringt.« (Baudrillard 2011: 53). Baudrillard bleibt auch hier begrifflich ungenau, erkennt aber durchaus eine Tendenz. Randy Martin hat in seinem Buch »Empire of Indifference» gezeigt, dass Indifferenz und endlose Zirkulation zuammengehören und heute selbst noch die asymmetrischen, kleinen Kriege im globalen Netz zirkulieren. (Martin 2007) Mehr noch, die entsprechenden Interventionen drehen sich um die Möglichkeit zu zirkulieren, im Gegensatz zur Möglichkeit Souveränität zu proklamieren. Für Martin handelt es sich dabei um einen ähnlichen Shift wie den vom Shareholder, der die Aktien eines Unternhemens hält, zu dem des Traders von Derivaten, der Reichtum durch des Management von Risiken erzeugt. Die unbeabsichtigte Konsequenz dieses Risikomanagements, das Martin sowohl bei der globalen Finanzialisierung als auch beim US-Empire am Werk sieht, besteht in der bloßen Verschärfung der Volatilität dessen, was sie beinhaltet. Daraus ergibt sich ein teuflischer Kreislauf der Destabilisierung und der derivativen Kriege, eine Charakterisierung, die Martin das “empire of indifference” nennt. Dieses Empire zeichne sich nicht länger durch Fortschritt oder Entwicklung aus, sondern verspricht seinen Insassen nur noch das Management einer immerwährenden Gegenwart von Risikomöglichkeiten. In der totalitären, i.e. indifferenten Sichtweise des Neoliberalismus gibt es schließlich nur noch Kapital, inklusive Humankapital. Folgerichtig intendieren und multiplizieren gegenwärtige neoliberale Politiken die beständige Modulation des ökonomischen Risikos für den Einzelnen und die statistische Sortierung der Bevölkerung, nämlich in diejenigen, die angesichts des Risikos erfolgreich sind und solche, die es definitiv nicht sind – und nichts anderes heißt eben »at-risk« zu sein. Und entsprechend bewegt sich die neoliberale Governance in der Tendenz von der geschlossenen Institution hin zum digitalen Netzwerk, von der Institution hin zum Prozess, vom Befehl hin zur (repressiven) Selbstorganisation. Obgleich er ein politisches Programm beinhaltet, gestaltet sich der Neoliberalismus anti-sozial, mehr noch das Anti-Soziale ist der modus operandi des neoliberalen Staates, und dies bedeutet zugleich Indifferenz als Teil seiner öffentlichen Fratze. Risikopoluationen beinhalten Governance als die Gouvernementalität der Indifferenz. Die Governance übersieht aber nicht einfach das Hedgen von Interessen gegen Interessen, sondern sie testet die Möglichkeit der Bevölkerung Interessen zu produzieren, und dies im Namen der spekulativen Kapitalakkumulation. Diese Art des Risikomanagements impliziert das universelle Zirkulieren des monetären Kapitals und mit ihm das der Werte, der Menschenrechte und der Demokratie. Der Zirkulation wiederum korrespondiert die digitale Vernetzung bzw. der Bildschirm des Globalen als eindimensionales Universum.

Baudrillard konstatiert hier wieder eine Tendenz: Kapitalisierung und die ihr entsprechenden digitalen Netzwerke emergieren eine sanfte Vernichtung, eine kommunikationelle und genetische Gewalt, die viral prozessiert und auf den totalitären Konsens aus ist. Sei es dahin gestellt, ob Baudrillards Theorie des Viralen hier angebracht ist, so ist doch richtig, dass diese Art der Gewalt jede Negativität und Singularität auszuschließen versucht. Mehr noch, und dies stellt wiederum den Begriff der Homogenisierung und den der Indifferenz in Frage: Die umfassende Inklusion kann sich heute auch über Divergenz oder Disjunktion vollziehen. Disjunktion ist eine pure Relation, eine Bewegung von reziproken und zugleich asymmetríschen Implikationen, die Differenz als solche ausdrücken. Und Differenz ist Kommunikation, Infektion oder Virulenz durch Heterogenitäten, wobei die Vernetzung hier darin besteht, dass verschiedene Seiten so miteinander kommunizieren, dass keine Einheit, Fusion oder Synthesis zustande kommt. Inklusive Disjunktion bedeutet fremde Elemente in Kommunikation zu versetzen, ohne dass eine einheitliche Logik benötigt wird. Man muss heute über die Konnektivität pessimistisch denken. Deleuze spricht von der Kommunikation als einem kommerziellen professionellen Training, vom Marketing und der Transformation der Philosophie in Werbeslogans. Dem hält er Leerstellen der Nicht-Kommunikation entgegen, die sowohl dem Zirkel der Kommunikation und der Kontrolle wie auch der Diffussion der Differenzen durch Inklusion entkommen können. Innerhalb des Systems der Inklusion ist die Differenz ein Mittel, mit dem die Macht und das Kapital ihre Herrschaft perpetuieren wollen. Die Effekte dieser temporalen Modulation sind Ereignisse, eine Menge von unverifizierbaren Stories, unüberprüfbaren Statistiken und unhaltbaren Begründungen. Die sich beschleunigende Geschwindigkeit macht Netzwerk-Medien wie das Internet zu einer brodelnden Suppe für Verschwörungen und Unterstellungen, insofern das schiere Volumen der Teilnehmer und die unglaubliche Geschwindigkeit der Akkumulation von Informationen dazu führt, dass in der Zeit, in der eine konspirative Theorie zu Grabe getragen wird, längst neues Material für viele weitere Verschwörungstheorien schon zu zirkulieren begonnen hat. Alles zirkuliert. Der panoptische Blick des Souveräns wird heute durch Berechnung und das Management des Risikos ergänzt und erweitert, wobei die Agenten als Informationsschatten zirkulieren. Die totale Kontrolle der Informationsschatten wird durch die algorithmische Einschließung erreicht. Das Risikomanagement ist konstitutiver Teil der Zirkulation des Geldkapitals und mit dessen globaler Zirkulation beginnt alles andere zu zirkulieren, Demokratie und Menschenrechte inklusive.

François Laruelle spricht an dieser Stelle anstatt vom »Kapital« vom »universellen Kapital«, und zwar nicht im Sinne einer historisch-sozialen Formation, sondern einer universellen »Logik«, der alle ökonomischen, sozialen und politischen Phänomene zu- und untergeordnet sind. Die monetäre Profitproduktion des Kapitals umfasst heute eine allgemeine Surplusproduktion, die den Geldmehrwert nicht nur aus der Arbeit, sondern aus der Kommunikation, aus der Geschwindigkeit und aus der Dringlichkeit des Wandels  extrahiert. Und das Kapital generiert den Surplus sogar durch die Herstellung von Wissen, Bildern, Marketing und Slogans. (Laruelle 2012: 16f.) Möglicherweise extrahiert es ihn aus der Demokratie und aus den Menschenrechten. Dieses »universelle Kapital« arbeitet hartnäckiger als jede bisher historisch vorfindbare Formation an der Besitzergreifung des Surplus, es ist aktiver und verfolgt, sortiert und leitet die Menschen intensiver als jede bisherige Form der Kontrolle, es agiert softer und zugleich hinterlistiger als alle bisherigen Formen der frontalen Attacke, bleibt dabei aber pervers wie jede Form der Spionage und der Anklage und zeigt sich zugleich weniger brutal als die offene Vernichtung, weniger ritualisiert als die Inquisition – oder, um es kurz auszudrücken: Das »universelle Kapital« geht soft und dispersiv, instantan und bösartig vor. Es ist die reine Schikane. (Ebd.)

Wir können daraus den Schluss ziehen, dass das Kapital immer auch seine philosophische und politische Legitimation benötigt. Und so lässt es nicht nur das Geld, den Kredit und sich selbst als Kapital zirkulieren, sondern auch seine legitimatorischen Diskurse, bis hin zu den allgemeinsten Werten, den Menschenrechten und der Demokratie. Als derart zirkulierende Zeichen sind die universellen Werte aber, und darin ist Baudrillard rechtzugeben, neutralisiert und differenziert zugleich, jeder Bedeutung entleert. In der Tat: »Ihre Expansion entspricht der schwächsten Definition, ihrer maximalen Entropie.«

 

Althusser, Louis/Balibar, Étienne (1972a): Das Kapital lesen I. Hamburg.

Baudrillard, Jean (2011): Der Geist des Terrorismus.Wien

– (2015): Die Konsumgesellschaft. Ihre Mythen, ihre Strukturen. Berlin.

Laruelle, François (2012): Struggle and Utopia at the End Times of Philosophy. Minneapolis.

– (2015): Introduction to Non-Marxism.Minneapolis.

Martin, Randy (2007): An Empire of Indifference: American War and the Financial Logic of Risk Management.Durham.

Meiksins Wood, Ellen (2015): Der Ursprung des Kapitalismus. Eine Spurensuche. Hamburg.

Moore, Jason W. (2015): Capitalism in the Web of Life.Ecology and the Accumulation of Capital. London.

 

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