Bemerkungen zu Anwar Shaikh`s „Capitalism: Competition, Conflict, Crises“ (3)

Die traditionelle Theorie des internationalen Handels basiert auf zwei grundlegenden Thesen: 1) Der freie Handel wird durch die Theorie der komparativen Kosten geregelt. 2) Er führt zur Vollbeschäftigung in jeder Nation. Die erste These besagt, dass eine Nation vom internationalen Handel profitiert, wenn sie einen Teil der Waren, die mit komparativ niedrigen Kosten produziert wurden, exportiert, und ein gleich gewichtetes Produktionspaket aus dem Ausland importiert. Dabei gleichen sich die Werte der Importe und Exporte aus, i.e. Handelsdefizite und -überschüsse werden immer eliminiert, und dies gilt für reiche und arme Länder. Empirisch ist dies natürlich völlig unhaltbar, wenn man bedenkt, dass gegenwärtig große Teile der proletarischen Klasse, die derzeit circa drei Milliarden Menschen weltweit umfasst, arbeitslos sind (weit über eine Milliarde). Zudem sind im heutigen globalen Kapitalismus Handelsungleichgewichte die Regel und nicht die Ausnahme. Keynesianer modifizieren deswegen die Standardpositionen der Theorie der komparativen Kosten, indem sie Oligopole, Skalenerträge, differente Elastizitäten in der Nachfrage, der Technologie und des technologischen Wissens ins Spiel bringen. Dies gibt wiederum der staatlichen Intervention einen gewissen Spielraum. Für Shaikh ist aber das Gründübel der bürgerlichen Theorie schon in Ricardos Theorie der komparativen Kosten angelegt. Im realen Wettbewerb innerhalb einer Nation versuchen die Firmen nämlich die Kosten und die Preise zu senken, um ihre Konkurrenten zu schlagen. Firmen mit niedrigen Kosten erscheinen als Gewinner, Firmen mit hohen Kosten als Verlierer. Smith und Ricardo stimmen dem zu, wobei Ricardo darüber hinaus zu zeigen versucht, wie bestimmte internationale Handelsmuster entstehen, wenn profitsuchende Einzelkapitale in verschiedenen Ländern operieren.

Das Ricardo Beispiel ist bekannt: Verzeichnen die Einzelkapitale in Portugal niedrigere Kosten als die Einzelkapitale Englands (bei allen Waren), so dominieren sie beide Märkte. Da nun Geld von England nach Portugal fließt, steigen in Portugal die Kosten und Preise, umgekehrt in England. Schließlich wird das portugiesische Einzelkapital mit der Ware, die den geringsten Kostenvorteil gegenüber dem Mitkonkurrenten in England besitzt, von der Gewinn- auf die Verlustseite fallen. Umgekehrt in England, dort wird das Einzelkapital mit dem geringsten Kostennachteil auf die Gewinnerseite wandern. Dieser Prozess wird sich sukzessive fortsetzen, bis er eine gewisse Balance erreicht, das heißt die portugiesischen Einzelkapitale werden sich auf die Produktion von Waren konzentrieren, bei denen sie komparative Kostenvorteile besitzen, die sie – für die gleichen Beträge – mit Waren austauschen, die in England komparative Kostenvorteile erzielen. Ricardos Verschmelzung von Handelsgleichgewicht und Gleichgewicht der Zahlungen ist hier wichtig. Die Zahlungsbilanz eines Landes enthält die in ein Land fließenden Nettobeträge, Exporte minus Importe, Direktinvestionen von Ausländern im eigenen Land minus die der inländischen Firmen im Ausland, kurzfristige Kapitalzuflüsse, bspw. Bonds, die von ausländischen Investoren erworben werden minus den Bondkäufen von einheimischen Investoren im Ausland etc. Ricardo geht paradoxerweise davon aus, dass die Handelsströme der Waren von den finanziellen Strömen getrennt sind, wobei eine ausgeglichene Handelsbilanz identisch mit einer ausgeglichenen Zahlungsbilanz ist. Das ist deswegen möglich, weil das Geld nur als Zirkulationsmittel erscheint, niemals als finanzielles Kapital. Und dies ist seltsam, da die Exporte und Importe von finanziellem Kapital qua Kredit intrinsisch mit dem Export und Import von Waren verbunden sind. Der Handel mit Waren ist bei Ricardo also komplett von den Geldkapitalströmen getrennt, was Marx hinreichend kritisiert hat.

Shaikh schreibt auch an dieser Stelle eine andere Ökono-Fiction. In der Theorie der realen Konkurrenz ist der Preisführer bzw. das regulierende Einzelkapital in jeder Branche dasjenige mit den niedrigsten Stückkosten (Kosten als die Summe der Ausgaben für Material, Löhnen und Abschreibung). Verschiebungen in den relativen Preisen von Waren führen zu Veränderungen der relativen Kosten dieser Waren. Das ist die logische Konsequenz aus Sraffas Annahme, dass Kosten und Preise mit einander verschlungen sind. Bei allen möglichen realen Veränderungen der Tauschraten müssen die komparativen Kosten sich überhaupt nicht ändern, sodass bspw. die stärksten Einzelkapitale in allen Industrien Portugals Preisführer bleiben können und die englischen Einzelkapitale eliminieren. Absolute Kostenvorteile werden also nicht durch Effekte bei den realen Austauschraten gekippt, ja die komparativen Kosten können sich sogar dahingehend entwickeln, dass die Vorteile der Einzelkapitale Portugals gegenüber denen Englands noch größer werden. Solange die realen Kosten (Reallöhne und Produktivität) auf nationalem Level determiniert werden, werden sich die komparativen Kosten nicht in die Richtung bewegen, die Ricardo angenommen hat. Die Bewegung der komparativen Kosten (lineare Funktion der internationalen relativen Preise) wird letztendlich durch die relativen Strukturen der Produktion determiniert, das heißt, die internationale Wettbewerbsfähigkeit bleibt an Effizienz, Reallöhne und technische Proportionen der Einzelkapitale gebunden, und es gibt nichts am freien Handel, das absolute Kostenvorteile und -nachteile für bestimmte Einzelkapitale verhindern könnte.

Wenn Handelsungleichgewichte auftauchen, müssen sich die realen Austauschraten nicht verändern. Marx argumentierte, dass ein Land mit einem Handelsüberschuss eine Zufluss von Liquidität erfährt, der die Zinsrate senkt, während bei einem Land mit Handelsdefizit die Liquidität schrumpft und die Zinsrate sich erhöht; dies sind die normalen Funktionen der Kapitalmärkte. Im internationalen realen Wettbewerb haben die regulierenden Kapitale die niedrigsten integrierten Arbeitskosten pro Einheit. Wenn ein Land Waren exportiert, die mit den niedrigsten Kosten hergestellt wurden, dann hängen die Terms of Trade von der Rate der real ingetrierten Kosten der exportierten Güter im Verhältnis zu denen der Produzenten ab, von denen sie Importe erhalten. Die Terms of Trade werden durch nationale Reallöhne und Kostenstrukturen bestimmt, sodass sie sich nicht automatisch in die von Ricardo angenommene Richtung bewegen. Für Shaikh werden schließlich die Terms of Trade und die komparativen Kosten durch die relativen Reallöhne, die relative Produktivität der regulierenden Kapitale und die Effekte der gehandelten und nicht gehandelten Güter bestimmt. Die Richtung der Handelsbewegung einer Nation wird also durch seine absoluten Kostenvorteile determiniert, während die Größe auch durch die relativen nationalen Einkommen bestimmt wird. Letzteres kann den Handel beeinflussen, aber die Kosten nicht radikal verändern. Handelsungleichgewichte führen zwangsläufig zu Zahlungsungleichgewichten, die die Zinsrate affizieren und kurzfristig internationale Kapitalflüsse induzieren: Länder mit absoluten Kostenvorteilen werden ihre Handelsüberschüsse über fremde Kreditvergaben recyceln, während Länder mit Defiziten auf Kreditaufnahmen angewiesen sind.

Im dritten Teil seines Buches untersucht Shaikh die turbulenten Dynamiken in der Makroökonomie. Im realen Wettbewerb werden die Firmen mit abwärts verlaufenden Nachfragekurven konfrontiert, sie setzen Preise und haben differente Kosten und teilen sich in Preisführer und -folger auf. Geld ist endogen und nicht neutral, und die aggregierte Nachfrage und das aggregierte Angebot basieren auf der Profitabilität. Auf einem aggregierten Level kann der ex ante Nachfrageüberschuss folgendermaßen angeschrieben werden:

ED=D-Y= ((C+I)-(Y-T)+(G-T))+(EX-IM)=(I-S)+(G-T)+(EX-IM)

wobei D für die aggregierte Nachfrage für einheimische Güter steht, und dies ist gleich der Summe der Konsumtion (C), des Investments in fixes Kapital und Equipment (I), Staatsausgaben (G) und Export (EX). T steht für die die totalen Steuern von Haushalten und Unternehmen, Y= das nationale Angebot (incl. Importe (IM)). Im allgemeinsten Fall wird der Nachfrageüberhang auf die Gleichheit von Ersparnissen und Investition reduziert: ED: I-S

Wenn umgekehrt ein Angebotsüberschuss durch die Räumung des Bestands der Firmen reduziert wird, dann kann man die entsprechende ex post Identität in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung dadurch herleiten, dass man die ungeplanten Veränderungen des Bestandes ΔINVu für den Nachfrageüberhang ED substituiert, um dann fogendes zu erhalten: ((I+ΔInVu)-S)+(G-T)+(EX-IM)=0

ED kann gleich Null sein, kann aber auch negative oder positive Werte annehmen: (I-S)+(G-T)+(EX-IM) Null. Die Neoklassik verspricht hingegen instantanes und kontinuierliches Gleichgewicht: Ed(I-S). Während das Investment eine Nachfrage für verleihbare Geldmittel hervorbringt, stellen die Ersparnisse die Geldmittel bereit, und beide antworten auf die reale Zinsrate. Das Gleichgewicht am Markt für verleihbare Geldmittel sorgt dafür, dass I=S ist und ED=0. Es wird ein Output produziert, der zur Vollbeschäftigung und zur entsprechenden Nachfrage führt, um das Angebot zu konsumieren.

Keynes hingegen widerspricht der Behauptung, dass der Reallohn der Vollbeschäftigung entspricht und dass die reale Zinsrate automatisch zu einer entsprechenden aggregierten Nachfrage führt. Für Keynes stellt sich hingegen die Bewegung folgendermaßen dar: Firmen müssen investieren und der einzige Beweggrund ist die Realisierung einer bestimmten Profitrate (Erwartungen auf die Profitrate, die volatil ist), die mit der erwarteten Nachfrage korreliert ist. Umgekehrt korreliert die aggregierte Nachfrage der Haushalte mit den aktuellen Einkommen. Es gibt keine Garantie, dass die aggregrierte Nachfrage der Haushalte mit der erwarteten Nachfrage der Firmen identisch ist, sodass eben Ungleichgewicht der normale Zustand ist. Da Keynes das Investment zumindest kurzfristig für stabil hält, müssen über die Ersparnisse die notwendigen Angleichungen vollzogen werden, um zum Gleichgewicht zu gelangen. Ersparnisse sind der Teil des Einkommens, der nicht konsumiert wird, und die Konsumtion ist wiederum abhängig vom Einkommen, das in der Produktion erzeugt wird. Am Ende muss die Produktion und damit die Beschäftigung dafür sorgen, dass die Ersparnisse gleich der Investition sind. Das ist Keynes` Antwort auf das Say`sche Gesetz. Keynes nimmt an, dass die Ersparnisse ein stabiler Teil des Einkommens sind. Wenn das Investment um 100 ansteigt und die Ersparnisse ein Fünftel des Einkommens ausmachen, dann muss der Output 500 sein, damit die Rendite auf Ersparnisse gleich dem Investment ist. Das ist der Keynes´sche Multiplikator. Ein Anstieg der Rendite auf Ersparnisse lässt nun die Ersparnisse über das Investment steigen, sodass der Output und die Beschäftigung fallen müssen, damit es wieder zu einem Gleichgewicht zwischen Investment und Ersparnissen kommt. Dies gilt allerdings nur für das kurzfristige Investment. Keynes bestimmt wie Marx die erwartete Nettoprofitabilität als die Differenz zwischen der erwarteten Profitrate (die marginale Effizienz des Investments) und der Zinsrate. Ein Sinken der Beschäftigung dämpft die Gewinnerwartungen und steigert die Zinsrate aufgrund wachsender Risiken, sodass das Investment weiter fällt. Keyes war sich zwar klar, dass ein Fall der Reallöhne die Profitrate erhöhen würde, aber ein Sinken der Nachfrage würde zu einem weiteren Fall der Preise führen und die Reallöhne wieder erhöhen, aber am Ende die Profiterwartungen weiter dämpfen.

Keynes fokussiert sich auf komparative Statik, sodass der Zeitbezug an dieser Stelle weitgehend wegfällt. Die Zinsrate wird durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage nach Geld bestimmt. Während das Geldangebot vom Staat bestimmt wird, hängt die Nachfrage nach Geld von den Einkommen ab und die Zinsrate gilt als eine Belohnung auf das Halten des Geldes, das vielleicht später investiert wird. All dies erfordert wiederum das Vertrauen auf die Zukunft, wobei ein Vertrauensverlust in der Krise zum Abzug aus finanziellen Titeln hin zum Cash und zu einem Anstieg der Zinsrate führt, und das gerade dann, wenn eine Senkung benötigt wird, sodass es schließlich effektiver ist, wenn der Staat durch deficit spending in der Krise für die aggregierte Nachfrage sorgt.

Die Annahmen von Keynes wurden schnell in das IS-LM Modell von Hicks integriert. Für Keynes wird der Gleichgewichts-Output durch das Investment und den Multiplikator (IS) determiniert, und das Investment hängt vom Exzess der volatilen, erwarteten Profitrate über die Zinsrate ab. Hicks eliminiert nun die erwartete Profitrate, sodass das Investment zu einer simplen passiven Funktion der Zinsrate mutiert. Was aber, wenn wie in der gegenwärtigen Krise sichtbar, eine niedrige Zinsrate nicht zu neuen Investitionen führt? Hicks Behandlung der Geldnachfrage (LM) grenzt wiederum die Volatilität aus, sodass sie eine stabile positive Funktion des gegenwärtigen Einkommens und eine negative Funktion der Zinsrate wird (eine höhere Zinsrate für finanzielle Assets veranlasst Investoren dazu, weniger Cash zu halten). Das IS-LM-Gleichgewicht erfordert eine spezifische Kombínation zwischen Einkommen (Output) und Zinsrate. Über die Intervention des Staates und den Export soll die Nachfrage gesteigert werden, i.e. eine expansionistische Fiskalpolitik soll das Gleichgewichtslevel des Outputs erhöhen. Und eine expansionistische Geldpolitik soll das Geldangebot erhöhen und die LM-Kurve verschieben, das heißt den Output erhöhen, aber die Zinsrate senken, sodass der Staat mittels seiner Fiskal- und Geldpolitik immer Vollbeschäftigung erzielen kann, ohne dass sich Zinsrate und Preislevel verändern. Das Preislevel steigt dann nur, wenn die aggregierte Nachfrage den Output bei voller Beschäftigung übersteigt. Joan Robinson hat vermutet, dass die Preise schon vor dem kritischen Punkt steigen und deswegen hat man im Keynesianismus eine Inflation-Unterbeschäftigung Kurve (Philipps) eingeführt, bei der es eine negative Korrelation zwischen Inflation und Unterbeschäftigung gibt, was allerdings hinfällig wurde, als wir es Anfang der 1980er Jahre mit dem Phänomen der Stagflation zu tun bekamen.

Foto: Bernhard Weber

Nach oben scrollen