Der heutige Mensch hat die Vitalität eines Regenwurms

Adorno schreibt den Kunstwerken eine Vitalität, ja sogar Subjektivität zu, insofern es als ein sich entfaltendes Subjekt der Erfahrung fungiert und sich autopoetisch zu entfalten hat. Diese vitalistische Ansicht zeigt sich, wenn Adorno von den Kunstwerken spricht, sie „altern, erkalten, sterben“, sie seien „Leben sui generis“, Im spekulativen Realismus wird diese Position verdreht und die Vitalität in einen Panpsychismus überführt, der die Grenze zwischen Organischem und Anorganischem auflöst.

Deleuze scheint der Vorgänger der letzteren Konzeption zu sein, wenn er den Todestrieb mobilisiert, der zu Herstellung von intensiven Differenzen führt, die aber nicht den Tod, sondern das Leben anzeigen; ein intensives und zugleich anorganisches Leben, das die Organisation des Organismus unterwandert, verschiebt und gegebenenfalls auch zerstört. Organisches und Anorganisches beruhen auf Differenzen, die sie ständig verschieben, und insofern sollte man von einem Anorganisch-Werden des Organischen und einem Organisch-Werden des Anorganischen sprechen. Dies führt zum organlosen Körper, dem die Maschinen nicht als etwas Äußerliches erscheinen, sondern als sein inneres Prinzip, als Differenzmaschinen, die ihn falten und ihn mit dem Anorganischen verbinden, wobei das Leben nun mit der Dosierung, dem Ertragen und der Überfülle des Lärms der Maschinen und ihrem Schweigen konfrontiert wird. Aber da für Deleuze das Leben nicht völlig vereinnahmt werden kann, begegnen wir ihm weiterhin in seiner Unmöglichkeit und Gewalt. Die Frage des anorganischen Lebens wird immer auch die sein, ob wir es noch vermögen, Neigungen nachzugehen. Für Deleuze gibt es den organlosen Körper nicht ohne den Organismus, gegen den er rebelliert; Deleuze hat immer wieder betont, dass man sich davor hüten sollte ein n leeren Körper zu gestalten, ja man müsse genügend Organismus bewahren, damit er sich bei jeder Morgendämmerung neugestalten kann.

Für den italienischen Philosophen Mario Perniola markiert der Begriff „Sex-Appeal des Anorganischen“ den Übergang von einer organischen, körperlichen Sexualität zu einer anorganischen, künstlichen Sexualität der Dinge. Er beschreibt die Fakelore um die Idee des dinglichen Körperkleides, in das man die Leitfigur der ewigen Jugend einpackt: Die Kleidung verhüllt weniger als dass sie enthüllt, nämlich, die Selbst-Intensivierung der Körper, die durch Athletik & Sport, Fitness-Management, Tätowierung, Dietätik und Energiemaschinen produziert und reguliert werden. Man greift heute auf zahllose maschinelle Angebote zu und konsumiert, um einerseits dem Schönheitsideal als etwas sehr Vitalem, Sinnlichen oder Neospirituellen so nahe wie möglich zu kommen, und um andererseits die Komplexität einer hohen Artifizialität und Artistik zu erreichen.

Damit sind wir aber gerade der Zurichtung der Subjekte als Dividuen nahe. Die maschinische Indienstnahme teilt qua maschineller Prozesse die Subjekte und setzt sie neu zusammen, macht damit sie fluider, geschmeidiger und variabler und transformiert sie zu Dividuen. Diese Art der Verkopplung zwischen Maschine und Mensch bezieht sich bei Deleuze/Guattari zunächst auf die kybernetische Figur der Kommunikation, die den Verkehr zwischen Organismen und Maschinen regelt. Die gegenwärtigen Maschinen der Kybernetik dienen Deleuze/Guattari zufolge einem System, “das ein Regime allgemeiner Unterjochung wiederherstellt: rückläufige und umkehrbare ›Menschen-Maschinen-Systeme‹ ersetzen die alten, nicht rückläufigen und nicht umkehrbaren Beziehungen zwischen den beiden Teilen. Die Beziehung zwischen Mensch und Maschine beruht auf wechselseitiger, innerer Kommunikation, und nicht mehr auf Benutzung oder Tätigkeit.” Nicht zufälligerweise verwenden Deleuze/Guattari hier den Begriff “Kommunikation”, und dies lässt sich zunächst in den Kontext dessen stellen, was man in der Systemtheorie als “strukturelle Kopplung” oder “Interpenetration” bezeichnet. Dabei muss die maschinische Indienstnahme stets auf a-signifikante Semiotiken zurückgreifen, die kaum noch das Bewusstsein der Agenten ansprechen oder auf Repräsentation setzen und deshalb in letzter Konsequenz auch kein Subjekt als einen anzusprechenden Referenten mehr benötigen. Generell zeichnen sich hier sowohl das Subjekt als auch das Objekt durch Ambiguität aus, denn beide Begriffe lassen sich Guattari zufolge als Hybride, als Teile von Subjektivierungs-Objektivierungskomplexen auffassen, wobei Objekte ihre Objektivität und Subjekte ihre Subjektivität verlieren. Im Modus der maschinischen Indienstnahme fungiert die Person nicht länger als ein unternehmerisches Subjekt (Humankapital oder Unternehmensform), sondern sie ko-existiert mit den Maschinen als funktionales Teil, oder sie ko-variiert mit den Maschinen als eine variable Komponente der noch weitaus variableren maschinellen Gefüge.

Eine weit verbreitete Form der Arbeit, die ganz in maschinelle Komplee integriert ist, ist heute die des Arbeitsmannequins, das in bestimmten Zyklen die Tätigkeit des Wartens oder des getakteten Tastendrucks ausführt, der in Abhängigkeit von einer anderswo programmierten Abfolge eines maschinellen Feedback-Systems erfolgt. So besteht die Wendigkeit, Cleverness und Schnelligkeit des heutigen Dividuums, ein Prozak und Ritalin-Mutant, vielfach im niederschmetternden Warten, im Warten darauf, den roten Knopf drücken zu dürfen, während die Entscheidung anderswo längst schon abläuft oder gefallen ist, nämlich in den rekursiven Schleifen des maschinellen System selbst.

Georg Friedrich Jünger hatte in seinen Schriften die Begriffsfigur des Automatendieners (Günther Anders) oder die des Arbeitsmannequins (Baudrillard) vorweggenommen, und dies muss man durchaus als eine anthropologische Revolution verstehen. Jünger betont in seiner Technikkritik sehr stark den Aspekt der Adaption des Menschen an die Technik, ohne den Gedanken der Optimierung des Menschen durch die Axiomatik des Technologischen näher ins Spiel zu bringen. Jünger scheibt: „Ich kann nicht im Auto fahren, ohne dass sich mein Sehen verändert, nicht ins Lichtspiel gehen, ohne daß Auge und Ohr sich verändern. Ich sehe, höre, denke kinetisch, ich bin einbezogen in die Bahn von Automatismus und Normung.“

Guattari wiederum akzentuiert das Beispiel des Autofahrens hinsichtlich der Subjektivierungsprozesse anders, wenn er etwa beschreibt, wie Subjektivität und Bewusstsein im maschinischen Angencement des Automobils funktionieren. (Guattari macht allerdings hier schon klar, dass er Subjektivität auf gar keinen Fall auf Affekte, intrasubjektive Momente oder intrasubjektive Beziehungen reduziert sehen will.) Die Komponenten Bewusstsein und Subjektivität sind in die technischen Mechanismen des Automobils eingebunden; man fährt zwar mit dem Auto, ohne allerdings noch massiv das reflexive Bewusstein einzuschalten, das vielleicht repräsentiert, was man da tut. Der Fahrer wird durch das und mit dem maschinisch-digitalen Gefüge des Autos sozusagen geführt, seine subjektiven Komponenten (Gedächtnis, Perzeption, Aufmerksamkeit) und seine Aktionen sind zumindest teilweise automatisiert, sind Teil des digitalen, hydraulischen und elektronischen Netzwerkes. Beim Fahren mobilisiert der Fahrer verschiedene Stufen der Verkettung seiner Aktionen, währenddessen – fast schon in eine Art Pseudoschlaf eingebettet – verschiedene Systeme des Bewusstseins parallel ablaufen, wobei manche in den Vordergrund treten und andere eben nicht. So konstituiert sich nicht nur eine Abhängigkeit von der Automaschine, die im Procedere eines konstanten an die Maschine-Angehängtseins geradezu Sucht erzeugend wirken kann, sondern der Fahrer wird regel-gerecht mit der Maschine und ihrer Elektronik verschmolzen, von ihr umhüllt, indem er sie zunehmend nur noch ertastet. Hans-Dieter Bahr spricht hier von einer „machine Celibataire, von einem „Fließbandarbeiter, der mit Händen und Füßen Hebel und Knöpfe bedient und diese eingeschliffenen Bewegungen „kontrolliert“, und dies die Augen und den Sinn, den Tod zu vermeiden.“ Zudem wird das Fahrzeug in weitgefächerte Maschinen- bzw. Verkehrssysteme eingefädelt, deren Funktionieren keinem noch so genialen Ingeniuer zu verdanken und dessen Quintessenz die Autobahn und ihr Netz ist, das die Gesteuerten, so schreibt im Gleichklang mit Bahr das Autorenkollektiv Tiqqun, mit einer kalkulierten und signalisierten Gleichförmigkeit zu ihrem Zielort gleiten lässt. In modernen Fahrzeugen ist die Anzahl der durch ECUs gesteuerten Funktionen extrem angestiegen. Selbstfahrende Automobile sind Maschinen, die durch Tausch, Kommunikation, Konnexion und Prozessualität der Daten-Ströme hin zur Selbstbewegung drängen. Zwar vermittelt man dem Fahrer weiterhin das Gefühl der souveränen Steuerung, zugleich regulieren sich jedoch sämtliche Komponenten, sei es Maschine, Mensch oder sozialer Verkehr, im Rahmen des maschinischen Trackings selbst.

Die Praktiken der maschinischen Indienstnahme verzahnen heute das permanente Online-Leben mit dem Imperativ des lebenslangen Lernens, und dies gemäß dem unauflöslichen Ineinanderfließen von individueller Unternehmensform und präindividuellen Affekten. Man ist nun immer stärker im Sinne eines komplexen Mit-Seins mit den sich beschleunigendne Maschinen vernäht, was regel(ge)recht ein Suchtverhalten induziert, das jedoch im Gegensatz zur Drogenabhängigkeit nicht den Selbstmord auf Raten befördert, vielmehr den Drang nach einem authentischen Leben auf Dauer mobilisiert. Wenn die Leute heute nach Intertnetsex, Teleshopping, Videogames und Automobilität (Jogging, Auto und Internet) süchtig werden, dann schießt der Wunsch nach Selbständigkeit und Authentizität mit der grandiosen Abhängigkeit von den Maschinen zusammen. Man giert einerseits nach unbedingter Selbständigkeit, während man andererseits, wenn man auch nur eine Sekunde nicht mobil oder online ist, in eine totale Frustration verfällt, weil man gerade auch die Abgetrenntheit vom Netz als Abhängigkeit empfindet. So wird die reale Abhängigkeit nicht negiert, sondern sie wird gewissermaßen pervers und of course online ausgelebt. Gerade die Möglichkeit, seine Geschäfte, Handlungen und Affekte im selbständigen Geschwindigkeitsmodus und auf eigene Faust zu verrichten, wobei man allerdings weiß, dass die Befriedigung der eigenen Triebströme ohne das ubiquitären Anhängen an die medialen Maschinen gar nicht möglich ist, scheint im immensen Maße die seltsamsten Süchte hervorzubringen.Die Sucht verhindert gerade das lebendige Anorganisch-Werden des Lebens.

Schließlich geht es hier immer auch um eine Affektlogik, die aus Bescheidungen und Abhängigkeiten einen neuen Exzess macht. Längst ist das Begehren des Geizhalses libidinös besetzt (Geiz ist geil), wenn etwa das exzessive Ausgeben betrieben wird, um zu sparen bzw. den Rabatt einzuheimsen, was wiederum einen Anreiz dafür bietet, immer weiter zu konsumieren. Demgegenüber erscheint das materielle Eindringen der technischen Maschine in den menschlichen Körper geradezu als ein Schreckensszenario zweiten Grades.

Die Sucht ist wie die Leistung operational  und zielt rein auf die Formel des Körpers, seine Virtualitiät als ein  Operationsfeld, etwas, das nichts als funktionieren kann, wie jede beliebige Maschine das reibungslose Funktionieren erfordert (und es doch nicht zustande bringt). Die Mechanismen der Sucht lassen das Subjekt leerlaufen, die Sucht ermüdet und endet im Burnout. In sie ist letztendlich auch die Aufforderung nach permanenter Selbststeigerung eingeschrieben, die in der Konkurrenz mit den andern erlebt und ausgefochten werden will. Da unter dem Produktivitätszwang schließlich alles der Selbststeigerung dienen soll, diese aber immer wieder leer laufen muss, ermüden die Individuen schließlich an sich selbst, insgeheim wissend, dass sie Authentizität nur simulieren, während sie zugleich als Dividuen weiterhin das Arbeitsmannequin verkörpern müssen … die Vitalität eines Regenwurms.

Foto: Bernhard Weber

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