Der Sieg des Terrorismus

Für Baudrillard waren die Anschläge auf das World Trade Center das erste und das letzte symbolische Ereignis von globaler Bedeutung. Mit dem World Trade Center hat der Terrorismus das Zentrum des weltweit bestehenden westlichen Imperialismus zerstört.

Die terroristischen Ereignisse danach haben nicht mehr diese Dimension erreicht, sie haben nur noch immer weiter beschleunigt, sodass es eigentlich für das System längst an der Zeit wäre zu entschleunigen oder aus dem Spiel auszusteigen. Das Gegenteil ist aber der Fall: „In all den Reden und Kommentaren kommt eine gigantische Abreaktion auf das Ereignis selbst und die Faszination, die es ausübt, zum Ausdruck. Die moralische Verurteilung, die heilige Allianz gegen den Terrorismus entspricht dem erstaunlichen Triumph, der Zerstörung dieser weltweiten Supermacht beizuwohnen, oder besser: zu sehen, wie sie sich selbst zerstört, wie sie in vollendeter Form Selbstmord begeht. Denn sie selbst hat durch ihre unerträgliche Macht nicht nur all diese Gewalt geschürt, von der die Welt erfüllt ist, sondern – ohne es zu wissen – auch jene terroristische Imagination, die in uns allen wohnt.” (Baudrillard, Der Geist des Terrorismus, 12).

Mehr noch, wie die Posts in den sozialen Medien zeigen, hat der Terrorismus nicht nur den (Alb-)Traum der in den Komfortzonen Hausenden vom Exorzismus des Bösen in die Tat umgesetzt, er ist vielmehr noch Katalysator einer kollektiv inszenierten Welle von Hyper-Narzissten geworden, die sich nur notdürftig mit ihren Mitleidsbekundigungen in den sozialen Netzwerken tarnen. Diese Hyper-Narzissten träumen nicht von der Zerstörung einer hegemonial gewordenen Macht, wie sie der westliche Imperialismus darstellt, vielmehr sind sie in ihrem Wahn den Exorzismus des Bösen zu betreiben selbst vom Bösen getrieben: Daher der ganze Wahn des Exorzismus des Bösen: weil es da ist, überall, wie ein obskures Objekt der Begierde. Ohne diese tiefgreifende Komplizenschaft der westlich Saturierten fände das Ereignis nicht jenen Widerhall, den es bei jedem Anschlag hat, und die Terroristen wissen in ihrer symbolischen Strategie ganz genau, dass sie auf diese Komplizenschaft, die nie eingestanden werden kann, zählen können.

Baudrillard schreibt: “Das geht weit über den Haß hinaus, den die Enterbten und Ausgebeuteten, jene, die auf der Schattenseite der Weltordnung gelandet sind, gegenüber der dominierenden Weltmacht empfinden. Dieses bösartige Begehren steckt auch in den Herzen derer, die von dieser Weltordnung profitieren. Glücklicherweise ist die Allergie gegen jede definitive Ordnung, jede definitive Macht ein universelles Phänomen, und die beiden Türme des World Trade Center waren gerade in ihrer Zwillingshaftigkeit eine perfekte Verkörperung dieser definitiven Ordnung.

Es bedarf hier keines Todes- oder Zerstörungstriebs, nicht einmal eines perversen Effekts. Es ist vollkommen logisch und unausweichlich, daß die stete Machtzunahme einer Macht auch den Wunsch verstärkt, sie zu zerstören. Und diese Macht ist die Komplizin ihrer eigenen Zerstörung. Als die beiden Türme einstürzten, hatte man den Eindruck, daß sie auf die Selbstmordattacke aus der Luft mit ihrem eigenen Selbstmord antworteten. Es hieß einmal: “Gott selbst kann sich nicht den Krieg erklären.” O doch. Der Westen, der die Position Gottes (die Position göttlicher Allmacht und absoluter moralischer Legitimität) eingenommen hat, wird selbstmörderisch und erklärt sich selbst den Krieg“ (ebd.13).

Der westliche Imperialismus hat heute sämtliche Macht, sämtliche  Funktionen in seinen Finanzmaschinen, seinen technokratischen Apparaten und seinem totalitären Denken konzentriert und damit für Baudrilard erst die die objektiven Bedingungen für die brutale Politik der Terroristen geschaffen. Der westliche Imperialismus zwingt ausnahmslos jedem seine Spielregeln auf und behält sich selbst alle Mittel vor den Globus zu regieren, sodass den Terrorristen nichts übrig bleibt als auf ihre Weise die Spielregeln zu ändern, die letztlich nur in der Bereitschaft bestehen, mit der letzten, der unaustauschbaren Waffe zu reagieren, nämlich mit dem eigenen Tod zu bezahlen.

Der Terrorismus ist heute Baudrillard zufolge in gewisser Weise überall. Er verbreitet sich wie Viren. Das Böse, so Baudrillard, ist viral geworden. Es verbreitet sich unbemerkt weltweit, ohne dass es eine klare Linie gibt, die es erlauben würde, es zu identifizieren. Der Terrorismus ist als eine eine virale Epidemie heute noch perfekter geschützt und noch unberechenbarer geworden als die Attentäter des 11. Septembers es waren. Und das Böse ist insofern viral geworden, als es sich im Inneren des westlichen Imperialismus selbst befindet: „Es ersteht ein phantomhafter Feind, der sich über den ganzen Planet ausbreitet, wie ein Virus überall einsickert und in sämtliche Ritzen der Macht dringt“ (ebd. 20).

Der westliche Imperialismus ist virtuell mit seinen planetaren monetären Kapitalexkursionen und  -strömen längst nicht an seine Grenzen angekommen, wie Baudrillard dies annimmt, und dennoch bekämpft er wie ein Pavlowscher Hund jeden nur erahnbaren Antagonismus. Aber schon gegen die Viralität des Terrorismus scheinen seine Mittel beschränkt zu sein, er greift zu seiner Selbstverteidigung nicht nur zum Mittel des Krieges, sondern schiebt seine medialen Propagandamaschinen immer weiter voran, die aber in ihrem simultan erzeugten Rollback selbst ersticken oder von den Terroristen geschickt benutzt werden, in dem sie den manichäischen Fundamentalismus einfach umkehren, demgemäss es nicht nur den Gott Geld, sondern auch noch den authentischen Gott  gibt, wobei Gott immer mit ihnen ist. Im Rahmen dieses manichäischen Weltbildes sah sich ja auch Obama von Anfang an von Gott heimgesucht und in seinem Glauben herausgefordert, und geanwortet wurde vom westlichen Imperialismus mit weiteren Exzessen des finanziellen Kapitals, der Macht und der Technologien, mit dem Ausbaus der Komfortzonen für die Eliten und Teile der Mittelklassen, und alles firmiert heute als die Repräsentation des Guten. Aber dieser Fortschritt des Guten, seine Zirkulation in allen Bereichen (Wissenschaft, Kapital, Technik, Demokratie, Menschenrechte) entspricht keineswegs einer Niederlage des Bösen, denn, so Baudrillard, Gut und Böse gehen heute immer gleichzeitig einher und verstärken sich in derselben reziproken Bewegung.

Aber das ist längst nicht alles, der westliche Imperialismus und seine vermeintlich linken Gegner ersaufen heute, wie Andrew Culp in Dark Deleuze dargelegt hat, in einer Orgie der Affirmation. In einer Ära banaler Aufrufe, Marktslogans und Werbung fühlt es sich aber seltsam an, affirmativ und konstruktiv zu sein. Man kennt die Slogans und Redewendungen: “Wenn du nichts Freundliches zu sagen hast, dann sage lieber gar nichts”, »wenn konstruktive Gedanken verbreitet werden, dann wird dies positive Folgen haben«, oder einfach, »sei konstruktiv, nicht destruktiv.” In Wirklichkeit wohnt dieser Positivität, die Han als die Gewalt des Gleichen und Baudrillard als die Fettleibigkeit des Systems bezeichnet, selbst etwas Destruktives, rein Akkumulatives und Komatöses inne, das entweder im kollektiven Infarkt oder zumindest in einer allgegenwärtigen merkwürdigen Stimmung mündet; Melancholie im Inneren, verschnitten mit einer Menge Wahnsinn an der Oberfläche. Man glotzt, kommuniziert und designt bis zur Bewusstlosigkeit.

Die Affirmation muss als ein simples Mehr gelesen werden. Diese Sichtweise beruht auf dem Prinzip der Akkumulation, dem eine Theorie der Exploitation fehlt und das die Macht der Unterbrechung gar nicht erst in Augenschein nimmt. Das mächtigste System der Autoproduktion ist das Kapital selbst, das auf globaler Ebene zugleich Hunderte von Millionen Menschen in die Armut wirft und eine riesige Surplusbevölkerung produziert, der selbst noch das Recht, die Arbeitskraft zu verkaufen, verwehrt bleibt, das Kriege der Verwüstung anzettelt und die Subjekte peniblen Kontrollsystemen unterwirft. Auch in den Kernzonen des Kapitals entsteht längst ein Surplus Proletariat, das zu arm zur Verschuldung und zu reich zur Einsperrung ist.

Mit seiner globalen Vernichtungspolitik, die insbesondere auch die Jugend in der Welt betrifft, treibt der westliche Imperialismus den Terrorismus geradezu aus sich heraus.

Oder, um es in den Worten von Baudrillard zu sagen: „Bisher war es der integrierenden Macht weitestgehend gelungen, jede Krise, jede Negativität zu absorbieren und zu resorbieren, wodurch eine zutiefst verzweifelte Situation geschaffen wurde (nicht nur für die Verdammten dieser Erde, sondern auch für die Wohlhabenden und Privilegierten in ihrem radikalen Komfort). Das grundlegende Ereignis besteht darin, daß die Terroristen aufgehört haben, völlig umsonst Selbstmord zu begehen, daß sie ihren eigenen Tod auf offensive und wirksame Weise ins Spiel bringen, gemäß einer strategischen Intuition, die schlicht und einfach die immense Fragilität des Gegners erkennt, die Fragilität eines Systems, das seine Beinahe-Perfektion erreicht hat und beim kleinsten Funken sofort verletzlich ist. Es ist ihnen gelungen, ihren eigenen Tod zu einer absoluten Waffe gegen ein System zu machen, das von der Ausschließung des Todes lebt, dessen Ideal die Parole “Null Tote” ist. Jedes System mit “null Toten” ist ein Nullsummenspiel. Alle Abschreckungs- und Vernichtungsmittel vermögen nichts gegen einen Feind, der den eigenen Tod bereits zu einer Waffe der Gegenoffensive gemacht hat. “Was kümmern uns die amerikanischen Bombardements! Unsere Männer sind ebenso begierig zu sterben, wie die Amerikaner begierig sind zu leben!” Deshalb sind 7.000 Tote auf einen Schlag so unvergleichlich viel, wenn sie einem System zufügt werden, das der Parole “Null Tote” folgt.

Auf diese Weise geht es hier also stets um den Tod, nicht nur um den brutalen Einbruch des Todes in Echtzeit und Direktübertragung, sondern auch um den Einbruch eines Todes, der mehr als real ist: eines symbolischen und eines Opfertodes – das heißt um ein absolutes und unwiderrufliches Ereignis.

Das ist der Geist des Terrorismus.

Das System nie in Form von Kräftebeziehungen zu attackieren. Das nämlich wäre das (revolutionäre) Imaginäre, das einem vom System selbst aufgezwungen wird, welches nur dadurch überlebt, daß jene, die es attackieren, dazu gebracht werden, sich auf dem Feld der Realität zu schlagen, das stets das dem System eigene Terrain sein wird. Statt dessen aber den Kampf in die symbolische Sphäre zu verlegen, in der die Regel der Herausforderung, des Rückstoßes, der Überbietung gilt. So wie der Tod nur durch einen gleich- oder höherwertigen Tod beantwortet werden kann. Das System durch eine Gabe herausfordern, die es nicht erwidern kann, es sei denn durch seinen eigenen Tod und Zusammenbruch.“

Wir haben es hier mit implosiven Katastrophen zu tun, ähnlich denen eines physikalischen Systems, das implodiert, wenn es zu saturiert ist und eine genügend große Dichte besitzt, und analog implodiert eine totalitäre Macht, erreicht in einem bestimmten Moment den Zustand der totalen Saturiertheit und Affirmation und bricht in sich zusammen.

Dises Entwicklung hat von seiten der imperialistischen Mächte zu einer neuen Logik von Terror und Gegenterror geführt, die keine Ideologie oder Politik mehr kontrollieren kann, ja noch nicht einmal eine Religion, selbst der Islam kann der „Energie nicht Rechnung tragen, die den Terror nährt“ (ebd.16). Für Baudrillard setzen die Terroristen ihre brutale Gewalt gegen den Terror des Systems, ja ihr eigener asymmetrischen Terror fordert das System auf, sich weiter zu radikalisieren und seine repressiven Reaktionen zu steigern, aber die Asymmetrie der Gewalt macht den westlichen Imperialismus wehrlos, da er nur die eigene Logik der Kapitalisierung und der symmetrischen Kräftebeziehungen kennt und sich auf das Feld der symbolischen Herausforderung und der Selbstopferung nicht begeben kann.

Der IS hat sich längst alle Technologien und Instrumente des westlichen Kapitalismus angeeignet, vom (rudimentären) Kapital und der Börsenspekulation, über die Informationstechnologien bis hin zu den medialen Medien. Baudrillard: »Sie haben sich alle Errungenschaften der Moderne und der globalen Zivilisation zu eigen gemacht, ohne ihr Ziel aus den Augen zu verlieren, das darin besteht, ebendiese zu zerstören« (ebd, 23). Die Terorristen adaptieren längst die Banalität des westlichen Alltagslebens und verschwinden in ihm, bevor sie wie aus dem Nichts zu lebenden Bomben mutieren, sodass umgekehrt ,jedes x-beliebige Individuum vom Saat als Terrorist verdächtigt werden kann und damit zugleich die verstärkte Verunsicherung der Bevölkerung vorangetrieben werden kann.

Für Baudrillard ist der Opfertod der Terroristen in Echtzeit und als Live-Übertragung ein absolutes und unwiderrufliches Ereignis, ja die absolute Waffe gegen ein System, das den Tod verdrängt und dessen Parole „Pazifismus für Immer“ lautet. Die Transformation des Kampfes ins Spektakel heißt, das System auf einem Feld herauszufordern, auf dem es nicht antworten kann, außer unter Hinnahme des eigenen Todes, der eigenen Zerstörung. Und darauf zielen die Terroristen ab: Das System soll „in Reaktion auf die vielfältigen Herausforderungen durch Tod und Selbstmord seinerseits Selbstmord begehen“ (ebd. 22).

Der Terrorismus verweigert sich damit auch der westlichen Logik und seinem ökonomischen Kalkül: Ursache, Beweis, Wahrheit, Belohnung, Zweck und Mittel sind Baudrillard zufolge die Begriffe des Preis-Leistungs-Verhältnisses, mit denen der Tod bewertet wird, wobei die Terroristen bereit sind, den Preis nicht zu zahlen, vielmehr haben sie dieses ökonomische Paradigma, das Adorno in der Universalität des Tauschprinzips sieht, edurchbrochen. Der Terrorismus hat eine Zone geschaffen, in der der Tausch unmöglich ist und durch die Singularität in Form des Selbstmords ersetzt wird. Der Terrorismus ist abgrundtief unmoralisch wie das Kapital selbst, ja nicht weniger wie die Globalisierug.n Deshalb zählt heute nur das Ereignis, das im Gegenspiel zur abstrakten Universalität geschieht, und dazu gehört auch der Islam, da er sich als Alternative zu den westlichen Werten präsentiert. ,

Der westliche Imperialismus kann nur suggerieren, den Terrorismus zu vernichten, und niemand wkann auch nur ahnen, wo und wann die Repression, die polizeiliche Überwachung, die Kontrolle bis hin zum Sicherheitsterror des Systems letztlich enden wird. Und aus den Gewohnheiten und dem Alltag der Bevölkerung ist die Idee der Freiheit längst verschwunden, vielmehr wird sich das System selbst einem brutalen und zugleich subtilen Techno-Fundamentalismus annähern, und dies ist für Baudrillard der wahre Sieg des Terrorismus.

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