Die Finanzialisierung und die Konstitution des Risiko-Subjekts

Die Finanzialisierung ist als ein in die Zukunft vorausgreifender Prozess der monetären Kapitalverwertung zu verstehen, mit dem zunehmend auch die sozialen Beziehungen in den verschiedendsten Sektoren des Gesellschaftlichen ständig neu rekonfiguriert werden, um den Profit mittels der verschiedenen Methoden des Risikomanagements – Vergleich der Risiken und ihre Regulierung – zu extrahieren. Wo die globalen Eliten permanent potenzielle Bedrohungen in aktuelle Konflikte verwandeln, da transferieren die unilateralen Kriege gegen den Terror (während die eine Seite im gemütlichen Kokon ihrer klimatisierten Safe-Zone (Gregoire Chamayou) verweilt, gibt es auf der Seite der Klone die Opfer zu vermelden) zukünftige Unsicherheiten in aktuelle Risiken. Ein wichtiges Moment der Finanzialisierung, die wir an dieser Stelle als einen vielschichtigen Prozess der kollektiven Subjektivierung untersuchen wollen, besteht in der Implementierung des Risiko-Managements in das Soziale hinein, um die kollektiven und die individuellen Entscheidungen, die Handlungen und die Wahrnehmungen zu gestalten, Die moderne Finance muss unbedingt als eine Technologie der Macht verstanden werden, welche die Machtbeziehungen in den verschiedenen sozialen Feldern zunehmend konstituiert und reproduziert.

Eine der vielen irrwitzigen Facetten in der Geschichte des Neoliberalismus in den USA bestand sicherlich darin, dass vor der ausbrechenden Subprime Krise im Jahr 2007 Kreditnehmer, die ihre in der Höhe gestiegenen Ratenzahlungen für Hypothekenkredite aus laufenden Einkommen nicht mehr bedienen konnten, simultan Beteiligte eines Fonds waren, der Mortgage-Based Securities finanzierte und gleichzeitig die Nachfrage nach den Subprimes (looking for greater profitability) förderte. Vielleicht waren die Kreditnehmer zudem noch Halter eines finanziellen Anteils von Pensionen, wobei die Versicherungen, in die sie investiert hatten,unter Umständen auf den Fall ihrer Securities gewettet hatten. Ihr Leben nahm so die Form einer völlig verqueren finanziellen Bilanz an, während es wie ein verwertbares Portfolio aufgeteilt wurde, dessen Schicksal von Preisbewegungen an den Finanzmärkten abhing. Man muss beachten, dass Hypotheken auf Wohnungen und Häuser die Grundlage für eine Kaskade von Finanz-Instrumenten bilden, wobei jene eben keine einfache Form des Eigentums darstellen, denn die Abnehmer der Hypotheken besitzen nicht das Haus, zumindest nicht bis zum Ende des Prozesses der Amortisierung. Die kreditgebende Bank ist die wirkliche Eigentümerin, während die sog. Hypothekeneigentümer mit ihren Zinszahlungen den Profit der Bank realisieren. Während die sichtbare und materielle Form des hypothekenbelasteten Hauses relativ fest, begrenzt und unteilbar ist, haben die Hypotheken mit dem Weiterverkauf und der Verbriefung potenziell die strukurelle Dynamik der endlosen Teilbarkeit, Rekombinierbarkeit und Kapitalisierung angenommen. Es kommt hier zu einem stufenförmigen und zugleich simultanen Prozess: Am Anfang erfolgt die Integration des Hauses in die Finanzmärkte, womit es zur Hypothek wird. Gleichzeitig wird die Hypothek zu einer finanziellen Anlage, die von den Banken kapitalisert wird. Die Anlage kann wiederum Teil einer Sicherheit oder eines CDO werden, eines Derivats, das an speziellen Märkten getauscht wird.

Die Finanzialisierung stellt ein wichtiges historisches Dispositiv in der Funktionsweise des Kapitals dar, welches die je schon auf die Zukunft bezogene Verwertung des Geldkapitals erweitert und redefiniert, und zugleich die Verschuldung als ein generelles Feature installiert. Dabei ist das entsprechende Risikomanagement nicht einfach nur als eine Form der Kalkulation kapitalistischer Unternehmen oder als eine Art des ökonomischen Wissens der Finanzeliten zu verstehen, sondern es artikuliert und generiert heute eine umfassende Dynamik des sozio-ökonomischen „Seins“.

Über die Funktionsweisen der Finance definiert das monetäre Kapital heute nahezu alle wichtigen sozialen Relationen. Unter Finanzialisierung versteht der amerikanische Soziologe Randy Martin einen Prozess, in und mit dem die sozialen Beziehungen permanent von der Finanzindustrie generiert, rekalibriert und rekonfiguriert werden. Finance ist nicht nur als ein Modus des spekulativen Geldkapitals zu verstehen, sondern als ein multiples Set von normalisierenden Protokollen und Machttechniken, die dazu dienen, dass Menschen ihr alltägliches soziales Leben ego-orientiert, flexibel und zugleich regelkonform organisieren. Finanzialisierung und die ihr inhärierenden Verschuldungsprozesse durchqueren heute sämtliche Fraktionen des Kapitals, die verschiedenen Sektoren der Arbeit und die gelebten Erfahrungen der Individuen. Und der Spekulant gerinnt endgültig zur signifikanten Leitfigur der Ökonomie, wenn er es denn versteht, seine geschäftlichen Arrangements, seine Objektbeziehungen bis hin zu seinen privatesten Affairen zu seiner eigenen Zufriedenheit (und zur Zufriedenheit aller) zu managen, seine eigene Zukunft im Zuge der Realisierung des Verwertungsimperativs jetzt schon zu koordinieren. Selbstmanagement – unter der weisen Voraussicht, dass man nur selbst leisten kann, was ansonsten niemand für einen leistet – ist heute eines der großen Schlagworte (erfunden in den höheren Managementebenen bzw. der personalen Finance) – ein performatives Trendwort, das auffordert, in den Tests, den Evaluierungsprogrammen und den Prüfungen der ubiquitären neoliberalen Assessmentcenter zu bestehen, was of course die besten Aussichten auf Erfolg hat, wenn man von Anfang an in Eliteschulen, Internaten und Nachwuchszentren gecastet wird, um sein Leben zu üben und zu gestalten, und zwar als die freie Form der Kultivierung des Operierens und des Operieren-Lassens, als Fokussierung, wobei gerade derjenige belohnt wird, der sich in das leistungsfähige Team integrieren kann, aber dennoch etwas mehr leistet, als sich nur an- und einzupassen.

In der neoliberalen Ökonomie des Kapitals findet man mindestens eine Trinität von siginifikanten Subjektpositionen vor: Der Neo-Bürger diszipliniert und kanalisiert den Immigranten, wenn er ihn nicht mittels des Staates und seiner Institutionen gleich ausweisen lässt, der Konsument befreit die Arbeit in Richtung der Gestaltung eines zukünftigen Traums, und schließlich privilegiert der Spekulant die Risikokapazitäten, um ständig Myriaden von Arbitrage-Möglichkeiten aufzubauen. Und jede dieser drei Subjekt-Identifikationen, die Deleuze/Guattari als Modi der sozialen Unterwerfung beschrieben hatten, ist nicht nur auf die Finanzialisierung als hegemonialem sozio-ökonomischem Dispositiv, sondern auch auf ein regulatorisches Governance-Regime bezogen, dass seine Bevölkerung mit den Instrumenten der Statistik, der Demoskopie und der Bildung so zu organisieren versucht, dass, um es kurz zu sagen, ein kleiner herrschender Block auf der Gewinnerseite und die Mehrheit der Bevölkerung sich auf der Verlustseite befindet. (Und gerade die onlineabhängige und konsuminfizierte Mittelschicht stabilisiert und perpetuiert ihren sozialen Status heute infolge der ganz praktischen Unterscheidung von sich selbst erfolgreich managenden Personen und nicht managbaren Personen. Unter den Bedingungen der Finanzialisierung werden die Agenten eingeladen, ihr Leben so zu behandeln, als ob es als Teil einer finanziellen Tabellenkalkulationen aufgegliedert, neu zusammengesetzt und die rekombinierten Teile einer erfolgreichen Aktivität zugeführt werden könnten. Einige Dinge werden konsolidiert und andere verstreut. Wird das Leben unter das Dispostiv der sich im Geld realisierenden Risikos gestellt, so tendieren selbst noch die Körper – ihre Kommunikation im digitalen Medium vorausgesetzt – dazu, zu einer rekombinanten Ware zu transformieren, die „wie ein hochvernetzter Sequencer, der mittels Splicing das Überschuß-Material der vernetzten Ökonomie in elektronische Bytes verwandelt“, Körper-Bytes erzeugt, will heißen, der Körper übergibt sich im doppelten Sinne (Kotzen und Übertragen) in die Kybernetik eines organlosen elektronischen Körpers, der kontinuierlich und diskret in die Netzwerke des finanziellen Kapitals eingespeist wird. “(Kroker, Weinstein. datenmüll)

Die meisten biopolitischen Regierungstechniken intervenieren mittels der Dispositive der Kontrolle in sozio-ökonomischen Räumen und Zeiten, sie profitieren »von einer mathematischen Unterstützung […], die zugleich eine Art Integrationskraft im Inneren der zu der Zeit akzeptablen und akzeptierten Rationalitätsfelder ist.« (Foucault. Gouvermentalitätsstudien1) Hinsichtlich der Produktion von Subjektivität sind es aber längst nicht mehr nur die Dispositive der Sicherheit, die nach Foucault »ein Mehr an Freiheit durch ein Mehr an Kontrolle und Intervention« hervorbringen (vgl. Foucalt. Gouvernementalitätsstudien2), sondern vor allem die Dispositive der Finanzialisierung, exakter der finanzialisierten Selbstoptimierung und Selbstkontrolle, die es ermöglichen, eine glaubende und beglaubigte und zugleich hoch emotionalisierte Selbstverwertung entlang der regulierend-regulierten, monetär operierenden Selbstmodelle zu betreiben. Damit wird der Einfluss der Sicherheit begrenzt, weil sie angeblich nur dazu führt, dass die Agenten faul werden. Insofern könnte man den Neoliberalismus auch als einen Angriff gegen die soziale Sicherheit im Allgemeinen verstehen – also nicht nur im spezifischen Sinn von gekürzten Sozialleistungen und dergleichen. Es gilt nun, das eigene Leben als konstant fluktuierende Risikoproduktion zu gestalten, die sowohl die mögliche Prekarisierung als auch die Verfahren der Optimierung ins Blickfeld nehmen muss. Finance und Kreativindustrie teilen eine moralische Ökonomie. Dabei wird die Transformation der kapitalistischen oder calvinistischen Arbeitsethik in die Propaganda der freien Arbeit (zum Teil auch des do-it-yourself Phantasmas) von einer gigantischen Ratgeberindustrie, diversen Investmentclubs und Coaching-Unternehmen supplementiert.

Finanzialisierung generiert laut Randy Martin eher eine Technik, als dass sie als Idee/Begriff gefasst werden könnte, sie ist eher als Effekt denn als (kollektive) Intention aufzufassen, und sie ist weniger auf den Konsens als auf die Dispersion von Konsequenzen ausgelegt. Die Finanzialisierung markiert zudem den Schnittpunkt einer konsensuellen Sozialisierung des Kapitals und der Arbeit. Mit Hilfe der verschiedenen Derivate, bonds, securities, promissory notes, die unter die diversen finanziellen Unternehmen verstreut sind, entstehen globale Netzwerke der Verschuldung, die auch die Instrumente der sozialen Verschuldung wie Konsumentenkredite und Hypotheken enthalten, eine Reihe von Relationen und Potenzialitäten, die man als diversifizierte Teile in synthetische Wertpapiere bündelt, um einen singulären cashflow und ein abstraktes Risiko zu erzeugen, das wiederum qua Derivate versichert und gehandelt werden kann. Finanzinstrumente wie Derivate dienen dazu, die erregbaren Mutationen des Gedkapitals, die sich in einer Vielzahl konkreter Risiken anzeigen, zu verstreuen, differenzieren und wieder zusammenzufassen, sodass verdickte Ströme und Rhythmiken einer spekulativen Volatilität entstehen. Finanzialisierung eröffnet ein multiples Feld oder einen expansiven Bereich der Zirkulation von differenzierenden Differenzen, wobei einige der synthetischen Derivate nachvollziehbare Referenzen auf klassische Waren oder Kredite besitzen und andere eben nicht.

Das aktuelle Risikomanagement kümmert sich nur noch wenig um die Figur des konservativen Unternehmers, der im Rahmen seines Unternehmens Innen- und Außenverhältnisse sichtete, Ideen in Besitz nahm und Initiativen ergriff, um einen neuen Raum zu eröffnen (Innovation Schumpeter) – stattdessen wird heute das Risiko eher durch den Arbitrageur verkörpert, der permanent Volatilitäten bearbeitet, Möglichkeiten intendiert und realisiert, um Gewinne zu erzielen, die allerdings im nächsten Moment schon wieder vergessen sind, sodass der Prozess der Arbitrage von vorne beginnen kann, der als solcher ja den Willen zur Virtualität ausweist. Der Arbitrageur oder Spekulant operiert also im Vergleich zum klassischen Unternehmer am Schnittpunkt ganz anderer Projekte, Funktionen und Initiativen, wenn er etwa nach Aktien Ausschau hält, die unterbewertet sind, oder wenn er kontingente Derivatverträge schreibt, die durch die potenzielle Abweichung gegenüber den fixierten/erwarteten Preisen Gewinne erzielen sollen, was wiederum bedeutet, dass man von den Verlusten oder den Wertminderungen der Spielzüge anderer Spieler profitieren kann. Es gilt auch von der Antizipation der Aktionen der anderen Mitspieler zu leben, sozusagen beim derivativen Handel mit einem Auge über der Schulter der Konkurrenten zu sehen, und es gilt die eigenen Portfolios ständig gemäß der antizipierten Margen zu diversifizieren.

Die Möglichkeit durch das eigene Risikomanagement profitieren zu können, besteht stärker denn je in der kontinuierlichen Ausnutzung der Arbitrage (auch der Ausnutzung der Arbitrage der anderen, der Ausnutzung von kleinsten Differenzen, die Volatilität erzeugen), und dies als eine bevorzugte Weise der finanzialisierten Subjektivierung. Zugleich ermöglicht ein derartig strukturierter und motivierter Arbitrage-Handel seltsamerweise die Verleugnung der Abhängigkeit, die nun auschließlich als befreiender Wettbewerb, der sich individuell-souverän aneignen lässt, erfahren und zugleich zelebriert werden will, als ob dieser Wettbewerb, der im Prinzip jede Form des Agonismus möglich macht, einzig und allein aus der Perspektive der eigenen kontrollierbaren Inputs und Outputs gemessen werden könnte, oder um es anders zu sagen, manche gewinnen, manche verlieren. Gegenwärtige finanzialisierte Biopolitiken inkludieren die beständige Modulation des Risikos und die statistische Sortierung der Bevölkerung, nämlich in die, die im Angesicht des Risikos erfolgreich sind, und die, die es definitiv nicht sind – und nichts anderes heißt eben at-risk zu sein. (Und es gibt kaum eine Funktionsweise des modernen Staates, so Foucault, die sich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einer bestimmten Grenze und unter bestimmten Bedingungen des Rassismus bedient. (Mbembe. Kritik der schwarzen Vernunft: 72. “Die Tötungsfunktion des Staates kann, sobald der Staat nach dem Modus der Bio-Macht funktioniert, nicht anders gesichert werden als durch Rassismus.”)

Während der Erfolg sich primar über die Funktionsweisen der kollektiven Ansteckung fortpflanzt, gerät die Niederlage unweigerlich zum persönlichen Fehler. Es hat sich eine monströse finanzielle Industrie entwickelt, welche die Verantwortlichkeit und Strategien der Akteure gegenüber dem at-risk-Sein bewertet, berechnet und behandelt (von Konsumentenkrediten über privatisierte öffentliche Güter wie Schulen und Gefängnisse, bis hin zum Tod). Dabei kann es zu einer tiefen Spaltung zwischen der jeweiligen Verfügbarkeit des Risikos für den einzelnen Akteur und seinem aktuellen at-risk-Sein kommen. Andererseits wird das at-risk-Sein gerade auch für den Erfolgreichen als eine permanente Bedrohung der Sicherheit konfiguriert. Natürlich ist der Wunsch nach Sicherheit selbst mit der Aufforderung zur beständigen Exploitation des Risikos nicht ganz verschwunden, nur muss man heute mit der Tatsache kämpfen, dass zu seiner Befriedigung unter Umständen hohe Summen gebündelter Schulden aufgebracht und versichert werden müssen. Schließlich stehen die verschiedenen at-risk Populationen — sie inkludieren neben ökonomischen Parametern auch Faktoren wie Rasse, Gender, Sexualität, Jugend und Kultur, und zwar als verschiedene Dimensionen der Differenz – auch für eine Bedrohung der gegenwärtigen kapitalistischen Weltordnung. Gerade die vielfach imaginierte Bedrohung der Sicherheit induziert einen risk-shift (Hacker), der eine Bedrohung vor allem für diejenigen darstellt, die mit den dominierenden Verfahren der kalkulatorischen Berechnung von Zukunft im Reinen sind. Der vektorielle hack fordert ständig die technische Innovation heraus, indem er an das Virtuelle rührt. (Vgl. Wark.Hacker-Manifesto)

Wenn man heute in den aktuellen finanzwissenschaftlichen Diskursen propagiert, man müsse stets die Zukunft in die Gegenwart zurück-führen, dann handelt es sich um eine spezifische Temporalisierung von finanzialisierten Risiken. Das Vorkaufsrecht gilt hier als ein bevorzugter Modus der Aktivierung. Man muss im Feld der finanziellen Kriegsmaschinen und den sie begleitenden präventiven Sicherheitsmodi unverzüglich, am besten noch entscheiden, bevor eine Aktion verdampfen könnte, man muss intervenieren, bevor der Feind überhaupt aufgetaucht ist, man muss bestrafen, bevor das Verbrechen begangen wird, man muss messen, bevor ein Output erzielt ist, und man muss verkaufen, bevor das Produkt produziert wird – und all dies berührt die berühmt-berüchtigte hyperaktive attention-deficit inducing disorder. Die Tatsache, dass zukünftige Gewinne heute schon realisert werden (Overtrading), zeigt die generelle Inversion der Operationen der Zirkulation im Verhältnis zu denen der Produktion an. Und zudem bricht die Finanzialisierung als doppelte Bewegung in die industrielle Produktion und Konsumtion ein, in die Register der Produktion und der sozialen Reproduktion. Sie prozessiert heute das, was die beiden disparaten Bereiche gemeinsam haben und was sie miteinander vernäht, nämlich das Gelkapital und seine Akkumulation. Damit ist sicherlich nicht gemeint, dass die Bereiche verschmelzen. Vielmehr muss man die Finanzialisierung als die Artikulation eines Feldes von Differenzen verstehen, die sie bewertet, verteilt und verstärkt zugleich, und sie erscheint damit nicht nur als ein Feld der Homogenisierung (das sie qua abstraktem Risiko, dem Vergleich von konkreten Risiken auchist), sondern auch der Ausstreuung und Verwertung von Differenzen. Die Potenzialität der Kapitalisierung und der ihr inhärenten Verschuldung, ihre Infektionen und Verteilungen, ist heute direkt an die derivate Preisbewegung gebunden.

Es stellt sich hier die Frage, wie gerade das Ungewisse des Derivats als ein Momentum des Kapitals, aber vielleicht auch unter der Perspektive, wie man aus der Sackgasse des Kapitals entkommt, konzeptualisiert werden kann. Randy Martin führt hinsichtlich des letzteren verschiedene Punkte auf. Es geht um die undulatorische Verbindung des Fragmentierten, das sich aber nicht wieder sich zu einem totalitären Ganzen schließen soll, sondern stattdessen das Problem der Verkettung der Singularitäten in den Mittelpunkt stellt. Schon im gegenwärtigen Finanzregime ist die Identität jedes einzelnen synthetischen Derivats auflösbar, und zwar in diverse Fetzen und Fragmente, die wiederum differente Eigenschaften besitzen; es regieren fulminant die Differenzen, die die gegenwärtige Identität eines Assets sozusagen schlucken, um ganz rigide Unordnungen der neuen Klassen von Derivaten herzustellen. Und somit führt die Verkettung der synthetischen Tauschgeschäfte zumindest potenziell zu einer Ad-infinitum-Proliferation von differenziellen Geldströmen und Risiken.

Randy Martin erwähnt desweiteren die Möglichkeit mit den Derivaten das Problem der Prekarisierung, Volatilität und Ungewissheit der Arbeit neu zu artikulieren. Mit dem Schreiben der Derivate sei zudem die Möglichkeit eröffnet, minimalste Differenzen zu nutzen, um ein schöpferisches Risiko zu kreieren, das in den Strukturen des gegenwärtigen Finanzregimes eben nicht zu finden ist, sondern sein Außen dasrtellt, wenn nicht das Außen der Ökonomie sui generis. Martin schreibt: „Die Derivate strömen aus dieser Bresche, sie lösen die Gegebenheit nationaler Bevölkerungen auf und eröffnen andere Aussichten auf wechselseitige Assoziierung.“ Die derivative Sozialität erscheint als transnational im starken Sinn – jenseits von Nationalität, als Aussicht auf eine ganz andere Form der Verkettung auf planetarischem Niveau. „Während Derivate in einer Sprache der futures und forwards, der gegenwärtigen Vorwegnahme dessen, was zukünftig ist, konzipiert sind, […] spricht der Akt der Bündelung von Attributen für eine Orientierung nach allen Seiten hin, die ein Effekt von gegenseitiger Kommensurabilität ist.“ Nach allen Seiten hin, als Deterritorialisierung der Grenze und als maschinisch-dividuelle Verkettung scheinbar nicht zusammengehörender Teile, so zieht sich die abstrakte Linie des Derivats. Die Zeitlichkeit der sozialen Logik des Derivats ist für Martin weniger die Vorwegnahme der Zukunft in den futures als die Herstellung einer ausgedehnten Gegenwart, die sich in multilateralem und wechselseitigem Austausch im Hier und Jetzt ausbreitet.

Hingegen wird die Ökonomie von den Adepten der cultural studies oder einer Reihe von Marxisten auf ein rein deskriptives Feld reduziert, auf das man ein paar Daten zur ungleichen Verteilung des Reichtums kritzelt, um eventuell numerische Zeitserien hinsichtlich kommender Krisenzyklen und Umverteilungen vorherzusagen oder diese schriftlich zu bezeugen. Wenn der Staat heute vielfach die sozialen Fluchtlinien bis hin zur Regulation der Migrantenströme verstopft, während das Kapital gleichzeitig selbst fast sämtliche Felder der politischen Autonomie besetzt hält oder gar eliminiert, dann benötigen die cultural studies mit ihren diversen turns, vom linguistischen bis hin zum visuellen turn, dringend eine Erneuerung. Indem man die finanzielle Vernunft untersucht, die sich heute als universelles Risiko-Management manifestiert, und zwar selbst noch in den Bereichen wie Bildung, Krieg etc., dann erkennt man sehr schnell, dass man es hinsichtlich der Finanzialisierung keineswegs mit einem stabilen Objekt zu tun hat oder einem stabilen Gegenstand des Wissens, sondern eher schon mit einem sich permanent differenzierenden System des hegemonialen Geldkapitals und der es inhärierenden materiell-diskursiven Praxen, die ständig Anlass zu Reformulierungen der Reproduktionspraxen und Rekalibrierungen der Finanzstrategien bis in die politischen Felder hinein ergeben. Der Sachverhalt, dass wir es in der letzten Instanz mit dem finanziellen Kapital und der es begleitenden langfristigen Instabilität von Profitraten, synthetischen Marktrationalitäten und korporativen organisatorischen Strukturen zu tun haben, erfordert dringend neue Untersuchungen, allerdings bestimmt nicht derart, dass man die Finanzialisierung als eine Art Parallaxe begreift, mit der man die Finance einerseits als eine Firmenaktivität, die als Serviceleistung die Zirkulation des Kapitals absichert, andererseits als eine Dimension, die die gelebte Erfahrung mit Spekulation anreichert, definiert.

Der Großteil der wirtschaftswissenschaftlichen Diskurse stützt seine Analysen bezüglich der Funktionsweisen der modernen Finance nach wie vor auf die These von einem beständigen ökonomischen Wachstum im Kapitalismus und beharrt zum Teil zumindest immer noch auf der angeblich notwendigen und stabilen Unterscheidung zwischen der „realen“ und der fiktiven Ökonomie, wobei die „perverse“ Spekulation of course der letzteren zugerechnet wird – so lässt man die Unterscheidung von Struktur und (asymmetrischem) Prozess intakt. Die Hypothese, dass die Akkumulation des finanziellen Kapitals sich so bewege, als sei sie von jedwelchen sozio-ökonomischen Schranken unabhängig – sie lässt sich auch auf andere Kreisläufe des Kapitals durchaus anwenden, wenn bspw. der Wert der zu realisierenden Ware nicht mehr direkt auf die geleistete Arbeit verweist, das heißt infolge des Marketings und Brandings und den daraus resultierenden höheren Preisen nicht mehr an arbeitsorientierte Wertschöpfungsketten gebunden ist. Dennoch bleibt das Prozessuale der kapitalistischen Wachstumsentwicklung fragil, insofern der Konkurrenzkampf zwischen den Unternehmen ein spekulatives Moment besitzt. So muss ein Unternehmen unabhängig davon, ob ein Bedürfnis nach neuen Maschinen im Rahmen einer Gebrauchswertproduktion besteht, Innovationen in Hinsicht auf eine zukünftige Stabilisierung anvisieren. Damit wird der Mangel an Maschinen oder der Druck zur Rationalisierung antizipiert, und dies nennt man einen virtuell antizipierten Mangel. Die Innovation und ihre Realsierung ist hier das Produkt eines simulierten Bedürfnisses. Bahr spricht folgerichtig von einem virtuell antizipierenden Marx: “Dass Maschinen, anstatt aus Bedürfnissen … vielmehr aus spekulativen Vorstellungen über künftig mögliche Bedürfnisse entstehen könnten, die zudem nur negativ aus einer antizipierenden Vermeidung der möglichen Selbstauflösung des Betriebes, nicht aber aus Befriedigungsabsichten hervorgehen, – diese großartige Entdeckung Marxens war es, die ihn zugleich beunruhigte.” (Bahr 1983.Über den Umgang mit Maschinen) Marx antizipierte zwar die ökonomisch spekulierende Einbildungskraft des Kapitals, aber die reine Gebrauchswertorientierung kommunistischer Produktionsweisen verstellte eine Perspektive, wie sie etwa Randy Martin mit der Sozialität der Derivate anvisiert. (Verkörpert heute der einzelne Akte in der Tendenz eine Unternehmensform, so ist das Leben selbst als die antizipierende Vermeidung seiner Selbstauflösung gesetzt. )

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