Dispositiv II: Unterworfenes, verarbeitetes und aufgelöstes Wissen

Eine längere Fußnote zu „Das deutsche Dispositiv“

Wir stellen uns seit geraumer Zeit das Wissen nicht mehr als eine „objektive“ oder auch nur konsistente Sache vor, welche „die Menschheit“ erwirbt und damit sich selber verändert. Wissen mag mehr oder weniger modellhaft ein unumkehrbares und (mehr oder weniger) unleugbares narratives Gut sein – die „Tatsache“ (der Begriff selbst ist eine Praxis des Wissens vom Wissen), dass die Erde rund ist und sich um die Sonne dreht, ist nicht mehr zu leugnen (außer von Paranoikern oder Schriftstellern, die etwa, wie Terry Pratchett eine „Scheibenwelt“ erfinden), ansonsten aber gilt es, so wie die alten Griechen zwischen dem Leben an sich, und dem gelebten Leben (bios) unterschieden, zwischen einem Wissen an sich (das, wie das Leben an sich eher transzendental zu verstehen ist) und dem wirkenden Wissen zu unterscheiden, das sich in einem unentwegten Anwendungs- und Transformationsprozess befindet.

Wissen – eine Funktion der Macht

Dieses Wissen ist weder an bestimmte Diskurse noch an bestimmte Sprachen noch an bestimmte Medien gebunden, wohl aber an Interessen, an Hegemonien und Strukturen. Das Wissen, mit einem Wort, ist in erster Linie eine Funktion der Macht. Dadurch unterwirft sich nicht nur sein „Inhalt“, sondern auch seine „Gestalt“. Nicht zuletzt wird, wenn es um die Realisierung von Macht geht, aus dem diskursiven Wissen das Bild oder das Narrativ. Und umgekehrt wird auch das unterdrückte und „verbotene“ Wissen in die Form von Bildern, Erzählungen, Riten usw. gebracht. Man kann dabei, zumindest als Sonderfall, mit Michel Foucault von „unterworfenem Wissen“ sprechen.

Foucault definiert das unterworfene Wissen auf der einen Seite als „Verschleierung“ – „Inhalte, die verschüttet, in funktionalen Zusammenhängen oder in formalen Systematisierungen verschleiert wurden“[1] – und auf der anderen Seite als „nicht-begriffliches Wissen, als unzureichend ausgearbeitetes Wissen, als naives Wissen, als hierarchisch untergeordnetes Wissen, als Wissen unterhalb des Niveaus der Erkenntnis oder der erforderlichen Wissenschaftlichkeit disqualifiziert fanden“[2].

Vereinfacht und drastisch gesehen gibt es also ein unterworfenes Wissen, das in der Begrifflichkeit und in der Verwaltung eingeschlossen ist, und ein unterworfenes Wissen, das aus Begrifflichkeit und Kontrolle ausgeschlossen ist. In gewisser Weise können wir also auch hier eine Teilung erkennen, die der von Beute und Gespenst in den Dingen entspricht.

Ganz nebenbei lässt sich so erkennen, dass es ein Wissen als Fundus, Repertoire, Lager oder Archiv nicht wirklich gibt; jedes Wissen muss auf eine spezielle Weise erobert und befreit werden. Das jedenfalls ist das Aktivum.

Das Passivum hingegen besteht in einer steten „Wiederkehr des Wissens“; es taucht gleichsam in immer neuen Verkleidungen, Auflösungen und Maskierungen an unerwarteten Stellungen – eben als „Gespenst des Wissens“ – wieder auf. Das Wissen als Beute kann nicht beliebig verwaltet und angewandt werden, und schon gar nicht unter den Verwertungsbedingungen des Kapitals. Denn so wie das Objekt, die Natur und schließlich auch das Subjekt verwandelt sich auch das Wissen zuerst in eine Ware (und konnte unter anderem dadurch der Emanzipation des Bürgertums dienlich sein) und dann in ein Element des Finanzmarktes, das sich bewegt, um Profit zu generieren.

Das Wissen, das zunächst eine feste Form in den Bibliotheken, den Universitäten und den Archiven annahm, eine subjektive Form in den „großen Geistern“ (einschließlich der kritischen Geister am Rand), das sich schließlich verflüssigte in den Diskursen und im Wissen über die Grenzen und die Widersprüche des Wissens, nimmt nun eine gleichsam gasförmige Gestalt an.

Das von der Macht bzw. den Mächten zurückgehaltene, verwaltete und begrifflich eingesperrte Wissen, und das von der Macht bzw. den Mächten verbreitete, aufgelöste und transformierte Wissen (in der verbraucherfreundlichsten Form von Entertainment schließlich) bewegen sich immer weiter auseinander. Das einzige, was sie phänotypisch aneinander bindet, ist das Wachstum.

Märkte des Wissens

Ist das Wissen als nicht nur ökonomisches Gut, sondern als Element der Kapitalisierung erkannt, muss zum „natürlichen“ Wachstum des Wissens, das wir einem menschlichen Wissensdrang zuordnen, den unsere Erzählungen fälschlich dem „Menschen an sich“ andichten, ein zyklisches, angeheiztes und manipuliertes Wachstum kommen. Diesem Wachstum entspricht eine ständige Ausdifferenzierung und Neustrukturierung der Märkte des Wissens. Und wie auf den anderen Märkten, erkennen wir auch auf den Märkten des Wissens nicht nur Formen inkludierender Attraktion (Wissen, das verspricht, gut zu sein für die Karriere, für den Status, für das Wohlbefinden etc.), sondern auch des Ausschlusses. Unnütz zu sagen, dass solcher Ausschluss nun nicht mehr unbedingt mit den Formen der alten Disziplinargesellschaft verwirklicht wird, sondern in einer Mischung aus ökonomischem Druck und kultureller Auflösung. Die soziale Maschine der Unterhaltung verwandelt die makrosoziale Mechanik des Ausschließens vom Wissen in eine mikrosoziale „Befreiung“: Das Wissen, das ich nicht bekomme, verwandelt sich in ein Wissen, das ich nicht brauche, in einem Bild bzw. einem Narrativ, das mir erklärt, um wie vieles leichter und besser ich ohne dieses Wissen lebe, welches sich in den Händen von uncoolen, komischen und erfolglosen Menschen befindet, oder in fernen Festungen des Wissens gut verwahrt ist.

Unterhaltung verweigert nicht einfach Wissen, sondern verwandelt es in die zweite Form von Foucaults „unterworfenem Wissen“. Oder anders gesagt: Unterhaltung verwandelt Diskurse in Dispositive.

Ausgehend von Foucaults Gebrauch des Begriffs Dispositiv fasst Giorgio Agamben zusammen:

„a) Es ist eine heterogene Gesamtheit, die potentiell alles Erdenkliche, sei es sprachlich oder nichtsprachlich, einschließt: Diskurse, Institutionen, Gebäude, Gesetze, polizeiliche Maßnahmen, philosophische Lehrsätze usw. Das Dispositiv ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann.

b) Das Dispositiv hat immer eine konkrete strategische Funktion und ist immer in ein Machtverhältnis eingeschrieben.

c) Als solches geht es aus einer Verschränkung von Macht- und Wissensverhältnissen hervor.“[3]

Man könnte noch hinzufügen, dass das Dispositiv auf eine bestimmte Art mit „Positivität“ aufgeladen ist („Positivité“ als Begriffssvorläufer bei Foucault), das heißt die „Gestimmtheit“ zu einer Akzeptanz, einer Bereitschaft, einer ihrer selbst nicht gewahren Bewegung, entsteht aus einer Bejahung, man könnte vielleicht sogar sagen aus einer unbewussten Erwartung einer „Belohnung“. Das Dispositiv erzeugt eine Zustimmung, die ihrerseits auf Zustimmung hoffen darf. Die sich verstärkende Zustimmung verschleiert immer weiter das ursprüngliche Wissen, auch das ursprüngliche Nicht-Wissen natürlich. Positivität meint in diesem Fall aber auch eine (immerhin vage) Vorstellung von Fortschritt oder Verbesserung in der Geschichte. Oder etwas derb gesagt: Wer einem Dispositiv folgt, meint immer, vorwärts zu stürmen und nicht zurück zu weichen (auch dann wenn die Legitimierung durch ein Zurück zu alten Werten erzeugt werden mag). Aber diese Positivität ist, zweifellos und nicht beliebig zu kaschieren, auch ein Zwang. Zwar mag dieser Zwang nicht mehr in der gewaltsamen und hierarchischen Weise erlebt werden, wie es in der „Positiven Religion“ nach Hegel der Fall ist (und die sie fundamental und nicht unabscheulich von einer „natürlichen Religion“ unterscheidet), aber er ist noch im „unverbindlichsten“ Dispositiv (sagen wir: in einer Werbekampagne, die bestimmte, etwa haushälterische Eigenschaften mit Glücksversprechen durch den Gebrauch einer bestimmten Ware verknüpft) ausgeprägt genug, um ein Neben-Empfinden des Unbehagens – und damit das Gespenstische – zu erzeugen.

Wenn das Dispositiv nun in der Tat mit dieser Form der Positivität verbunden ist, das heißt also auch: mit einem Zwang, in der Biographie und in der Geschichte fortzuschreiten, dann enthält es automatisch nicht nur den Zwang gegenüber sich selbst, sondern auch den gegenüber anderen. Das Dispositiv weiß zwar nicht genau wo es herkommt, aber durchaus, wo hin es muss. Und so wie jede positive Religion den doppelten Zwang enthält, sich selbst zu unterwerfen und andere zu unterwerfen, so enthält das Dispositiv den doppelten Zwang, das eigene Wissen und das Wissen der anderen zu unterwerfen.

Die Herrschaft der Dispositive weitet sich also zwanghaft aus.

Als einfaches Modell eines Dispositives, scheinbar „harmlos“ insofern seine Auswirkungen begrenzt sind und „der guten Sache“, nämlich dem „Markt“, dienen, kann man die Werbekampagne ansehen. Sie erfüllt alle die Kriterien, die Agamben zusammengestellt hat. Alles, Bilder, „wissenschaftliche“ Diskurse, Gebäude, Mythen, Sprechweisen etc. können von ihr benutzt werden. Die doppelte konkrete strategische Funktion liegt auf der Hand: Der Absatz von Waren einer bestimmten Marke und die positive Veränderung des Status dieser Marke nicht nur auf dem Markt, sondern auch in der Kultur. Und schließlich ist die „Verschränkung von Macht- und Wissensverhältnissen“ nur allzu evident. Jede Werbekampagne ist die Entfaltung von unterworfenem Wissen.

Beim Übergang von der Disziplinar- in die Kontrollgesellschaft verwandeln sich immer mehr Diskurse (die Aushandlungen und versuchten Festschreibungen dessen, was als gut, richtig, wahr, vernünftig, wertvoll usw. angesehen wird und was nicht) in Dispositive („Werbekampagnen“, die keine Waren oder Dienstleistungen, sondern positive Gestimmtheiten in politischer, ökonomischer und kultureller Praxis vermitteln). Im Dispositiv weiß man nicht, wo die Macht und das Wissen herkommen, und wie sie sich verschränken, aber man bewegt sich in die „richtige“ Richtung.

So einfach es nun sein mag, eine Werbekampagne und was nach ihrem Vorbild von allerlei „spin doctors“, Image-Beratern, Media Experten etc. „gefahren“ werden kann, als Modell – vielleicht auch als Karikatur – eines Dispositivs anzusehen, so schwierig ist es dennoch, sich eine Gesellschaft unter der Herrschaft der Dispositive vorzustellen.

Macht und Wissen

Soviel jedenfalls ist klar: Das Dispositiv als Erbe und als Technik der Positivität will eine gesellschaftliche Situation nicht stabilisieren, sondern verändern. Ein einfaches, der „unsichtbaren Hand“ des Marktes abgeschautes Modell freilich könnte beschreiben, wie ein allgemeines „Brodeln“ der Dispositive eine Gesellschaft zwar wärmen aber doch auch homogenisieren würde. Denn, um zu den Werbekampagnen zurück zu kommen: Auch Dispositive stehen ja untereinander in Wettbewerb, begrenzen und neutralisieren sich gegenseitig. Die Dispositive, mit anderen Worten, spiegeln auch die Macht- und Wissensverhältnisse wider, die sie miteinander verknüpfen.

Eine „Herrschaft“ der Dispositive, wie sie eine kritische Haltung nun fürchten kann, ist demnach abhängig von der Verteilung von Macht und Wissen in der Gesellschaft, so wie aber zugleich jedes Dispositiv Macht, Wissen und ihre Verschränkung verändert.

Was ist es, was sich verändert? Durch die Dispositive und vermittels ihrer? Es ist die Funktion des Staates gegenüber „seiner“ Gesellschaft, die Realisierungsmöglichkeiten von Macht, die Techniken des Regierens und nicht zuletzt die Darstellungs-, die Repräsentationsformen von Herrschaft. Warum müssen sie sich ändern? Man kann dies aus den Krisen der nationalen Demokratien ebenso erklären wie aus den Transformationskrisen des westlichen Kapitalismus zum globalen, digitalen Neoliberalismus. Ebenso könnte man sagen, dass die Kapitalisierung der Politik eine neue Verschränkung von Macht- und Wissensverhältnissen benötigt. All dies würde sich decken mit Agambens zweitem Punkt, nämlich der „konkreten strategischen Funktion“ des Dispositivs.

Aber gerade mit dieser Funktion erlegen wir dem Dispositiv vielleicht eine Begrenzung auf, die es gar nicht hat, nämlich indem wir ihm immerhin überwiegend einen rationalen Einsatz durch ein traditionelles Subjekt von Macht und Wissen zuschreiben. Wie aber, wenn sich beides selbst im Zustand einer dispositiven Auflösung befänden? Wenn sich, zum Beispiel, das Dispositiv nicht im Sinne von „Kapitalisten“, nicht einmal im Sinne des Kapitals, sondern im Sinne einer Kapitalisierung entfaltete, und wie, wenn es nicht allein mehr oder weniger neues Instrument des Regierungshandelns würde (bis zu den Techniken des „Nudging“ als staatliche Form der Verhaltens-Werbekampagnen) sondern Regierungshandeln in gewissem Sinne auch ersetzte? Denn, wohlgemerkt: Die Rede ist am Ende nicht von der Herrschaft durch Dispositive, sondern von der Herrschaft der Dispositive.

Was an Macht und Wissen im Dispositiv zusammenkommt hat kein zentrales Steuerungs- und kein (demokratisches) Kontrollorgan. Der neoliberale Protagonist würde wohl auch hier sagen: Das regelt der Markt (wissend oder nicht, dass dieser Markt Schimäre, Narrativ, „religiöses“ Gespinst ist). Tatsächlich immerhin ist das Dispositiv durch das bestimmt, was an Macht und Wissen investiert wird. Wenn wir nun davon ausgehen, dass Macht und Wissen selber kapitalisiert sind, also Profit erwirtschaften, indem sie auf der einen Seite Reichtum und auf der anderen Seite Armut erzeugen, indem sie immer weiter Kapital auf- und Arbeit abwerten, dann können wir wohl annehmen dass „Herrschaft der Dispositive“ nichts anderes bedeutet als Herrschaft der Kapitalisierung.

Das Dispositiv, das wir in unserem Zusammenhang hergeleitet haben als Fortsetzung, Erweiterung und Ersetzung von Regierungshandeln und Markteroberung, und das wir in Widerspruch gesetzt haben zum Diskurs (dem Aushandeln und Abwägen, der „Meinungsbildung“ etc.) hat aber auch einen technischen und einen jurstischen Aspekt. So beschreibt der Duden „dispositives Recht“ als

„gesetzliche Regelungen, von denen im Einzelfall durch Vertrag (in den Grenzen, die durch die guten Sitten gezogen sind) abgewichen werden kann. So können z. B. die Parteien eines privaten Kaufvertrages abweichend von den gesetzlichen Gewährleistungsrechten in § 437 BGB einen Haftungsausschluss für Mängel der Kaufsache vereinbaren. Andererseits können die Rechte eines Käufers aber auch gegenüber den BGB-Regelungen verstärkt werden, z. B. durch eine Verlängerung der Verjährungsfrist oder durch Einräumung einer Garantie. Gegensatz: zwingendes Recht (lateinisch Ius cogens).“[4]

Dispositives Recht, mit anderen Worten, ist eines, dessen Regeln den Parteien, vor allem denjenigen mit der entsprechenden Macht, zur Disposition stehen. Man könnte wohl auch sagen, dispositives Recht sei eines, das nach Maßgaben von Macht, Wissen und ihrer Verschränkung dehnbar oder nutzbar sei. Noch einmal drastischer gesagt: Dispositives Recht ist das Recht der Macht, gegen die das „zwingende Recht“ (eben jenes, das für alle gleich gelten soll) schützen müsste. Dispositives Recht hebt also den „Zwang“ mitnichten auf, sondern verlagert ihn vielmehr außerhalb des Gesetzes, weshalb es uns auch kaum weiter verwundern kann, dass dieses dispositive Gesetz vor allem im Wirtschaftsrecht zur Anwendung kommt.

In einer Maschine ist das Dispositiv jene Anordnung der Elemente, die eine Steuerung und ihre Kontrolle ermöglichen. Die Anzahl der Dispositive also gibt Auskunft über die Steuerbarkeit, und damit die Produktivität und die „Kreativität“, welche in und an einer Maschine möglich sind. Auch hier haben wir es letztlich wieder mit einer strategischen Verwirklichung von Macht und Wissen in einem Bewegungsablauf zu tun.

Und wenn man schon bei der „Strategie“ ist, dann darf auch die militärische Bedeutung des „Dispositivs“ nicht fehlen. Dort nämlich beschreibt der Begriff den Status der Soldaten, die einer Armee zur Verfügung stehen, oder schlicht die „Kampfbereitschaft“ in technischer (wie auch „moralischer“) Hinsicht. In offiziellen Statements wird angesichts einer äußeren Gefahr stets vom „glaubwürdigen“ militärischen Dispositiv gesprochen, man könnte es mithin wohl auch als realisierbares Drohpotential begreifen.

Der soziologische Begriff des Dispositivs ist also nur auf den ersten Blick tiefgreifend vom juristischen, militärischen und technischen Begriff unterschieden. Die „strategische Absicht“, die „Verschränkung von Macht und Wissen“ sowie eine „heterogene Gesamtheit“ sind indes in allen vier Bereichen gleich. Nur die Grammatik wird im gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Bereich ungleich komplizierter, weil man es, im Gegensatz zu den anderen Bereichen, nicht so sehr mit zuvor entmachteten und an sich widerstandsunfähigen Objekten und klar definierten Subjekten der Macht und des Wissens zu tun hat, sondern mit polymorphen und dynamischen Elementen. Das Dispositiv kann nicht einfach Elemente benutzen und organisieren (so gern es dies auch täte); Dispositiv trifft auf Dispositiv.

Mythos und Dispositiv

Was also ist denn nun ein Dispositiv und wie zum Teufel konnte es zur „Herrschaft“ gelangen? Bei Foucault finden wir etliche Beispiele für Dispositive: das soziale Geschlecht, die Kontrolle des Wahnsinns, die Ecole Militaire als architektonisches Dispositi … Heißt das etwa, alles, was an Schnittstellen von Macht und Wissen in einer Gesellschaft aktiv sei, könne „Dispositiv“ werden – so wie alles, was in ihr gedacht, geträumt, gesprochen und erzählt würde, zum Mythos werden könne?

Tatsächlich erscheint der Zusammenhang von Mythos und Dispositiv, den, wie es scheint, bislang niemand in Augenschein nehmen wollte, von zentraler Bedeutung. Recht einsichtig wird das, wenn wir erst einmal wieder zu unserem Beispiel der Werbekampagne zurückkehren: So wie die soziale Absicht einer Werbekampagne ist, etwas zu verkaufen (und sei es ein Kandidat in einem Wahlkampf), so ist die semantische Absicht die Kreation eines Mythos. Der Mythos, der sich im Sinne von Roland Barthes über einem unauflöslichen Widerspruch (des Wissens oder/und der Macht) bildet und auf die Frage „Warum ist das so?“ die Antwort gibt: „Weil es immer so war, und weil es immer so sein wird“. Barthes selbst hat in „Mythen des Alltags“ einige Werbekampagnen als Produktion von Mythen beschrieben, aber auch „Dinge“ wie den Citroen DS (gesprochen De-esse, also „Göttin“).

Wenn also die „Positivität“ und im Anschluss daran das Dispositiv den Menschen dazu zwingt, eine direkt oder indirekt gewalttätige Bewegung in Geschichte und Gesellschaft auszuführen (geleitet von einer Verbindung von Macht und Wissen), dann vollzieht der Mythos als legitimierende Begleitung genau den entgegengesetzten Vorgang, nämlich die Projektion ins Über-Geschichtliche und Über-Gesellschaftliche. Beides trifft sich nur in eben jenem Zwang, der sich als solcher nicht erkennt. Beides entsteht aber auch aus demselben Grund. Nämlich der Reaktion auf unauflösbare Widersprüche in der gesellschaftlichen Praxis und in der kulturellen Deutung, oder, anders gesagt: Der Mythos wie das Dispositiv entstehen aus unauflösbaren Widersprüchen von Macht und Wissen (in einander und unter einander).

Dreieinigkeit und göttliche „oikonomia“

Aber sowohl Dispositiv als auch Mythos sind eigentlich nur Vorformen, Potentiale einer weiteren Lösung der Widersprüche. Diese „eigentliche“ Lösung können wir „oikonomia“ nennen, eine (neue) Ordnung des Hauses, wie wir sie von Aristoteles kennen. Diese oikonomia ist nicht die Ökonomie späterer Zeiten mit ihren Märkten und Lohn-Preis-Profit-Relationen, sondern eine durchdachte Zuordnung aller Objekte und Arbeitsabläufe zum Zwecke einer systemischen Perfektion. (Kein Wunder also, dass für die alten Griechen eine solche oikonomia immer auch etwas mit Schönheit zu tun hatte.) Oikonomia ist mithin immer eine äußere Ordnung, die einer inneren entspricht. Giorgio Agamben setzt die Einführung der „göttlichen“ oikonomia in die christliche Theologie mit der Entstehung eines unlösbaren Widerspruchs auf, nämlich mit dem Konzept der Dreieinigkeit Gottes (das im übrigen seinerseits notwendig wurde, um auf die Mensch / Gott-Widersprüche in der Christus-Figur zu reagieren – beides mithin, Dreieinigkeit und göttliche oikonomia notwendige Bestandteile eines monotheistischen Dispositivs, das dringlich von der natürlichen zur positiven Religion gewandelt werden musste). Um den Rückfall in die Mehrgötterei zu verhindern, dem sich starke Fraktionen entgegenstellten, musste zwischen den drei disparaten Erscheinungsformen, Vater, Sohn und Heiliger Geist, eine unauflösliche Bindung hergestellt werden. Sie sollte nach dem Willen ihrer Vertreter in eben der „oikonomia“, der Ordnung des göttlichen Hauses (als geschlossenes System) bestehen. Man versuchte, derb gesprochen, in einem paranoid gewordenen Himmel die Ordnung wieder herzustellen, indem man alles drei einsetzte: das Dispositiv (das Christentum musste sich ausbreiten, um glaubhaft zu bleiben), den Mythos (das ins Bild gebannte Gleichzeitige von Drei-Sein und Eins-Sein, unter anderem durch die ikonographische Zusammenführung verschiedener Abbildungscodes: Zeichen – Heiliger Geist, Symbol – Gottvater, Realität – der Mensch gewordene Gottessohn), und oikonomia (das Ordnung schaffende Arrangement). Das Dispositiv wurde zur strengen Kirche (einschließlich eines Kriegs- und Tötungsapparats), der Mythos zum Dogma, und die oikonomia wurde zur Ökonomie, in der sich nach und nach Schuld durch Schulden und Erlösung durch Zinsen ausdrücken ließ.

Es bleibt zu erwähnen, dass diese Transformation zwar eine ungeheure historische und kulturelle (und natürlich nicht zuletzt ökonomische) Dynamik entfaltete, letzten Endes aber nie wirklich „funktioniert“ hat. Einerseits handelte man sich auf jeder der drei Ebenen mit temporären Lösungen auch wieder neue Probleme ein. Im Dogma spukte das neue unauflösbare Widerspruchspaar von Sein und Handeln Gottes, aber damit auf fatale Weise auch des Menschen, die Kirche musste sich, da sie sich nicht erneuern konnte, spalten, und die oikonomia wurde als Ökonomie nicht bloß Abbild sondern auch Widerpart des Christentums. Schon die Kirche scheiterte, wie Jahrhunderte später die Demokratie auch, an einer Bändigung oder Bindung der Ökonomie im Stadium des Kapitalismus. (Wobei wir in beiden Fällen beim Scheitern auch eine Portion der Komplizenschaft mitdenken.)

Dispositiv, Mythos und Ökonomie

Denken wir uns also nun, die von Foucault und Agamben beschrittenen Pfade frech verlassend, eine andere Form der Dreieinigkeit, die von Dispositiv, Mythos und Ökonomie. Denken wir uns weiter, alle Elemente, alle Ideen, Maschinen, Interessen, Mächte, Bilder, Dienstleistungen und Waren, alle Gebäude, Kleidungen und Kunstgegenstände seien nicht durch Vernunft, nicht durch Natur oder Kultur, sondern durch das Zusammenwirken eben dieser dreieinigen Techniken von Macht und Wissen bestimmt. Was ist den dreien, außer dass sie alle aufgrund unlösbarer Widersprüche entstanden sind, außer, dass sie immer wieder neue Verbindungen von Macht und Wissen erzeugen, außer, dass sie historische, kulturelle und ökonomische Dynamik erzwingen, noch gemein? Man könnte es das Prinzip der Ausschließung nennen. Was Dispositiv, Mythos und Ökonomie erzeugen, duldet keinen Widerspruch und keine Alternative. Obwohl alles drei nicht durch das Dekret, nicht durch den einen Spruch des einen Herrschers, nicht durch die eine Erkenntnis und nicht einmal den einen Glauben entstanden ist, sondern sich, unter Berufung auf die heteronome Entstehung als „natürlich“ ausgeben können, als gewordenes und gewachsenes, erzeugt es den einen Weg, erzeugt es die eine Zukunft, hier als „Vorsehung“, dort als „Fortschritt“, und da eben als „Natur“.

Dispositiv, Mythos und Ökonomie sind nicht voneinander getrennte Elemente eines Systems, sondern in einander eingeschrieben, aus einander entwickelt, mit einander verbunden. Tatsächlich wurde ja die göttliche oikonomia, wie Agamben betont, als „dispositio“ ins Kirchenlatein übersetzt, dem Stamm des Begriffs „Dispositiv“.

„Der Terminus Dispositiv bezeichnet also etwas, in dem und durch das ein reines Regierungshandeln ohne jegliche Begründung im Sein realisiert wird. Deshalb schließen die Dispositive immer einen Subjektivierungsprozess ein, da sie ihr Subjekt selbst hervorbringen müssen“ (Agamben)[5]. Auf einer eher pragmatischen Ebene kann das, als Beispiel, bedeuten, dass das Dispositiv nicht zur Lösung eines Problems sondern zur Bearbeitung eines Widerspruchs benutzt wird. Nehmen wir den Widerspruch zwischen Freiheit und Gerechtigkeit in einer demokratischen und kapitalistischen Gesellschaft, vielleicht sogar den Widerspruch zwischen Demokratie und Kapitalismus selbst. Da sich weder der eine noch der andere Widerspruch politisch und diskursiv auflösen lässt, „helfen“ nur die drei beschriebenen Elemente, die Verwandlung des Diskurses in das Dispotiv (was einerseits bedeutet: weniger „sichtbares“ Regierungshandeln, andererseits aber auch „unbedingteres“, der Legitimierung und sogar Legalisierung entzogenes Regierungshandeln), der Mythos (das ideale Subjekt löst den Widerspruch, und mehr noch kann es die „Marke“ als Mythos, so als wäre die einzig mögliche Antwort auf den Widerspruch zwischen Freiheit und Gerechtigkeit ein Automobil der Marke Volkswagen) und die Ökonomisierung: Auf einem Markt, auf dem sowohl Freiheit als auch Gerechtigkeit eine „Ware“ bzw. eine Ressource sein kann, werden die beiden, sagen wir in Form von Bewegungs- und Reglementierungsfreiheit (die „negative Freiheit“ des Neoliberalismus) und in Form einer ökonomischen Akkumulation (dem Ausgleich von Wettbewerbsnachteilen) miteinander tauschbar. Unnütz zu sagen: Dispositiv (den Widerspruch zwischen Freiheit und Gerechtigkeit ertragen ohne zu revoltieren), Mythos (den Widerspruch zwischen Freiheit und Gerechtigkeit in einem Bild von trans-realer Bedeutung auflösen) und Ökonomisierung (den Widerspruch zwischen Freiheit und Gerechtigkeit als Tauschvorgang im System von Lohn, Preis und Profit fassen) bleiben untereinander widersprüchlich und „funktionieren“, insofern sie gleichzeitig wirken aber nichts voneinander wissen. Zwischen ihnen vermittelt indes eine neue Form der „oikonomia“, die wir, weit gefasst und zunächst wenig präzis, „die Medien“ nennen. Damit unterstellen wir einer weiteren „heterogenen Gesamtheit“, dass sie, während es auf der Ebene der Diskurse nach wie vor und mehr denn je um die Anrichtung eines „Scherbenhaufens“ geht, wie Hans Magnus Enzensberger einst in Bezug auf das damalige Medium der „Wochenschau“ im Kino urteilte,[6] auf der Ebene von Dispositiven, Mythen und Ökonomisierungen (einschließlich der aktuellen Kapitalisierungen) Ordnung(en) schafft. Eine semantische oikonomia in der neuen Dreieinigkeit der Macht, eine oikonomia, das heißt „eine Gesamtheit von Praxen, Kenntnissen, Maßnahmen und Institutionen, deren Ziel es ist, das Verhalten, die Gesten und die Gedanken der Menschen zu verwalten, zu registrieren, zu kontrollieren und in eine vorgeblich nützliche Richtung zu lenken“ (Agamben).[7]

Dispositiv, Ökonomisierung und Mythos stehen in einer Geschichte; was sich gleich bleibt, das sind vor allem der Umstand ihrer Heterogenität und gewisse Techniken der Bearbeitung. Alles kann Mythos werden, sagt Roland Barthes, aber nicht alles wird Mythos; doch alles, was Mythos wird, wird es aus ähnlichen Gründen (die unauflösbaren Widersprüche) und zu ähnlichen Zwecken (eine Akzeptanz, die der Macht dient und unter anderem der Unterwerfung des Wissens nutzt). Alles kann ökonomisiert werden und alles kann kapitalisiert werden, und doch ist es für Ökonomie und Kapital stets notwendig, ein „außen“ zu haben, etwas, das sich für eine äußere oder eine innere Landnahme eignet. Daher wird wohlweislich nicht alles ökonomisiert, oder es werden neue Objekte und Areale (wie die Kunst, wie das „Dispositiv der Kreativität“) erzeugt, die sich wiederum ökonomisieren lassen. Und schließlich kann alles Dispositiv werden, doch selbst in einer Herrschaft der Dispositive wird nicht alles Dispositiv sein, da die „alten Formen“ der Ordnung, der Glaube, die Repräsentation der Herrschaft oder die Legitimierung und Rationalisierung von Macht in der Demokratie, nicht einfach verschwinden (es sei denn, man befände sich in dystopischer Science Fiction). So werden wir „Neoliberalismus“ beschreiben können als einen Wandel von Dispositiv, Mythos und Ökonomisierung.

Neoliberalismus – ein „Systemwechsel“

Damit wird, nebenbei, vielleicht auch klar, warum wir uns so schwer damit tun, den Neoliberalismus als „Diskurswechsel“ oder sogar als „Systemwechsel“ politischer und ökonomischer Regierung zu beschreiben, obwohl beinahe jeder, Opfer wie Nutznießer, ahnt, dass es genau auf dies hinausläuft. Nämlich auf die Umwandlung des Konsum-Kapitalismus in einen oligopolistischen Finanzkapitalismus und dann die Umwandlung der Demokratie zunächst zum Zwischenstadium der Postdemokratie und dann neue heteronome Regierungsformen, die partialfaschistische ebenso wie medienpopulistische, technokratische, terroristische und sogar anarchistische Elemente aufsaugen wird. Wir sehen augenblicklich, einigermaßen ohnmächtig, der Erzeugung von Dispositiven, Mythen und Ökonomisierungen zu, welche diesen Übergang geschmeidig vermitteln und beschleunigen. Um ihren Zweck zu verstehen, ist es hilfreich, die unlösbaren Widersprüche der „alten“ Systeme, Demokratie und Kapitalismus, zu analysieren und auf der anderen Seite die Interessen der neuen, sich gleichsam rasend akkumulierenden und transformierenden Mächte zu betrachten. Umwandlungen sind a/. notwendig und werden b/. nicht nur im Interesse sondern auch mit den Mitteln der neuen ökonomisch-politischen Herrschaft oder Hegemonie durchgeführt. Beides ist durchaus Gegenstand von Kritik, Dissens und mehr oder weniger wissenschaftlicher Behandlung. (Das Wissen rebelliert auch, was dies anbelangt, doch immer wieder gegen seine Unterwerfung.) Doch ein großer Teil der Bevölkerung ist offenbar bereit, diese Umwandlung mitzutragen, und es handelt sich dabei nicht einfach nur um eine verblödete, verrohte und manipulierte Masse, die sich zur „Tyrannei der Mehrheit“ aufgefordert fühlt. Möglicherweise kann man einen „klammheimlichen“ Diskurs ausmachen, in dem man sich, ohne es explizit zu formulieren, darüber einigt, dass der Tausch weniger Demokratie für mehr Sicherheit ebenso in Ordnung geht wie weniger Demokratie für mehr ökonomische Kraft. Mindestens ebenso wahrscheinlich aber ist es, das Wirken von Dispositiven, Mythen und Ökonomisierungen am Werk zu sehen, was in der Tat Kritik und Aufklärung vor neue Aufgaben stellte, denn dann wäre eine rationale Widerlegung des Nutzens der beiden Gleichungen des Demokratie-Abbaus kaum erfolgreich.

 

[1] Michel Foucault: Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. Berlin 2010. S.13

[2] ebd.

[3] Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv? Zürich/Berlin 2008. S. 9

[4] Stichwort „dispositives Recht“ in: Duden Recht A-Z. Fachlexikon für Studium, Ausbildung und Beruf. 2. Aufl. Mannheim 2010.

[5] Agamben a.a.O. S. 24

[6] Hans Magnus Enzensberger: Die Welt als Scherbenhaufen. In: Einzelheiten. Frankfurt/M 1962

[7] Giorgio Agamben a.a.O. S. 24

 

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