Ein Sturz vom Pferd – Ein neuer Futurismus macht von sich reden

In Geschwindigkeit und Beschleunigung will sich der Traum von Allmacht verwirklichen. Denn eine absolute, von allen Bedingungen befreite Geschwindigkeit käme einer Allgegenwart gleich, die einst als Attribut göttlicher Omnipotenz galt. Endliche, weil menschliche Wesen können von ihr nur wie von einer Versuchung überfallen werden, wie von einem Rausch, einer Affektion, die die Körper umso zwingender erfasst und unterwirft. So ist die Geschwindigkeit, Inbegriff möglicher Überwältigung, allemal das Geheimnis des Krieges. Hier entspricht sie der Fähigkeit, feindlichen Kräften zuvorzukommen, ihnen alle Rückzugsmöglichkeiten zu nehmen, und blitzartig Angriffe zu führen, die ihnen jede Gegenwehr unmöglich machen. Diesen Gesetzen des Krieges folgte auch die Ökonomie. Technologische Revolutionen beschleunigten den Warenausstoß, reduzierten die notwendige Arbeitszeit, verringerten die Produktionskosten. Dies macht die Kapitalien konkurrenzfähiger, das heißt: schlagkräftiger auf den Schlachtfeldern der „Märkte“. Die Beschleunigung der Distribution von Waren und Dienstleistungen schließlich senkt Kosten für Lagerhaltung und Service, wie der Internethandel eindrucksvoll zeigt. Und die mediale Mobilmachung, die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung soll immer genauere Prognosen ermöglichen, die zukünftige Entwicklungen antizipieren, Macht über sie gewinnen und wie eine Kolonie der Zukunft beherrschen sollen. Denn nie ist genug Mehrwert erwirtschaftet; immer steht ein „absoluter Mehrwert“ aus, und deshalb ist der beständige Übergriff auf eine derart kalkulierte Zukunft Merkmal einer Ökonomie, die von der Beschleunigung, vom Übergriff aufs Kommende wie besessen ist. Sie unterwirft sich den Raum im Medium der Zeit; sie usurpiert die Zukunft in Form spekulativen Kapitals. So hebt Marx die Rolle von Kredit und Spekulation in Techniken der Beschleunigung im dritten Kapitalband eindringlich hervor:

„Beschleunigung, durch den Kredit, der einzelnen Phasen der Zirkulation oder der Warenmetamorphose, weiter der Metamorphose des Kapitals und damit Beschleunigung des Reproduktionsprozesses überhaupt. (Andrerseits erlaubt der Kredit, die Akte des Kaufens und Verkaufens länger auseinanderzuhalten, und dient daher der Spekulation als Basis.)“ (MEW 25, 452)

Dieser Rausch eskalierender Geschwindigkeit, dieser Taumel der Beschleunigung zertrümmert aber nicht nur soziale Strukturen und vermeintliche Sicherheiten. Was neuerdings „Globalisierung“ genannt wird, wirkt umso mehr wie eine Droge auf Körper und Denkformen ein. Sie beherrscht die Affektionen, sie blendet sie mit Trugbildern vermeintlicher Allmacht. Selbst die Zerstörung des Sozialen können die Unterworfenen dann wie im Rausch erleben. Doch zugleich, unheimlich und bedrohlich, greift sie als Zerrissenheit, als permanente Bedrohung und ungreifbare Angst auf sie zu. Wie ein Stoßseufzer erklingt deshalb der immer neue Wunsch nach einer „Entschleunigung“. Er beherrscht die Welt der Ratgeber, gehört zur Ausstattung eines Mittelstandes, der sich in Trugbilder der Beschaulichkeit, der Ausgeglichenheit und Seelenruhe flüchtet. Die Frage der Zeit allerdings trägt strategischen Charakter, doch mit Parolen einer „Entschleunigung“ ist ihr umso weniger beizukommen. Vielleicht deshalb intervenierte hier kürzlich ein anderes Denken der Zeit, das aus Beschleunigung und Geschwindigkeit in Waffen verwandeln will. Programmatisch fasste es sich in einem kleinen Bändchen zusammen, das jüngst bei Merve erschien und schlicht und einfach mit Akzeleration, Beschleunigung, betitelt ist. Programmatisch heißt es da im Vorwort von Armen Avanessian:

„Statt einer rückwärtsgerichteten Verlangsamung bedarf programmatisches Denken und Handeln einer epistemischen Akzeleration. Ohne eine entsprechende kognitive Karte, ein cognitive mapping auf der Höhe des wissenschaftlichen, technologischen und medialen Status quo ist politisches Handeln nicht möglich – es sei denn, man verwechselt Politik mit dem, was, so Rancière poleimsch, eher als gouvernementale Adminstration oder polizeiliche Praxis zu verstehen ist.“ (10)

Es wäre nicht uninteressant, die Parallelen nachzuzeichnen, die dieser Akzelerationismus zum Futurismus im beginnenden 20.Jahrhunderts aufweist, dem er gleichsam ein fernes Echo gibt. Bereits in dessen Feier der Beschleunigung war ja die Vorstellung einer Linearität der Zeit eingelassen, die sich langsam oder schnell, rasend oder wie im Schneckentempo durchlaufen lässt, ganz abhängig davon, wie nachhaltig man sich auf das Niveau technologischer und medialer Standards begibt. Ihnen in Techniken einer Beschleunigung eine andere, zukünftige Wendung zu verleihen, macht die Faszination auch der neuesten Akzeleration aus; nicht umsonst ist das Wort „Zukunft“ hier allgegenwärtig. Armen Avanessian:

„Mit dem Begriff der Zukunft ist eines der entscheidenden Schlagworte der Debatte pro und contra Akzelerationismus gefallen…“ (11) Denn was unterschiedliche Spektren des Akzelerationismus verbinde, so fährt der Autor fort, „ist ein Wille zur Zukunft, ein Zukunftsbegehren, das sich im Falle des aktuellen Akzelerationismus gegen die Imaginationsschwäche und den Negativismus der Occupy-Bewegung richtet.“ (11)

Es ist, als wolle dieses „Zukunftsbegehren“ die Hegemonie brechen, in der sich die Kriege der Ökonomie die Zeit unterwarfen. Doch welcher „Wille“ sollte die Kraft dazu haben? Erst recht aber: was könnte ihm in Aussicht stellen, den Nerv des Problems zu treffen?

Einst war es der Kredit, der auf eine Zukunft, verwies, in der eingelöst und realisiert werden sollte, was zunächst nur ein Akt des Glaubens, eines Credo, gewesen war. Man glaubte daran, man wollte einander glauben machen, dass sich der in Aussicht gestellte, der vorerst nur kreditierte Mehrwert dereinst tatsächlich würde realisieren lassen. Alle Phantasmen der Zukunft, die auf diese Weise errichtet wurden, implodieren indes seit Jahren als bloße Trugbilder. Diese Zukunft hat aufgehört, für das Credo kommender Verwertung zu bürgen. Sie versagt sich dem Willen, eine Kolonie der Zeit zu sein, über die das Kalkül des Kredits herrschen könnte.

Längst nämlich übersteigen die Schuldkredite alles, was sich in der Sphäre von Produktion und Verwertung jemals als Mehrwert wird realisieren lassen. Ihr Credo zerfällt, und mit zerstörerischer Gewalt ist das Phantasma dieser Zukunft deshalb dazu übergegangen, die Gegenwart zu verwüsten. Was sich als Mehrwert nicht realisieren lässt, wird zum Gegenstand einer kaum verhohlenen Politik der Überwältigung, des Überfalls und des Raubes. Was Naomi Klein die „Schock-Strategie“ nennt, markiert einen Kapitalismus, dessen Kalkül das der Katastrophe ist. In ihr nimmt die Implosion der Zukunft allerdings furchtbare Gestalt an. Und nicht zuletzt entspricht ihr der Zerfall aller zeitlichen Horizonte, in denen die Zukunft einst als offene Sphäre von Möglichkeiten erschien. Insofern manifestiert sich hier, paradoxerweise, ein Kapitalismus, der seine eigene Zukunft schon überholt und hinter sich gelassen hat. – Immerhin, eine Ahnung davon scheint auch in einigen „akzelerationistischen“ Texten niederzuschlagen; so wenn Benjamin Noys schreibt:

„Um die Zirkularität des kapitalistischen Perpetuum mobile wirklich zu durchbrechen, wäre eine echte Akzeleration erforderlich, welche die Grenzen des bloßen Schnellerwerdens auf den vorgezeichneten Bahnen einer linear verlaufenden Geschichte durchbricht. (…) Darin zeigt sich der merkwürdige zeitliche Standort des Akzelerationismus. Er schaut zurück in die Vergangenheit, um dort Momente ausfindig zu machen, die verwirklicht werden sollten, und nach vorne in die Zukunft, in der das zu leisten wäre – was jetzt geschieht, bleibt dabei auf der Strecke.“ (46f.)

Was aber geschieht – „jetzt“? Unablässig stürzen „jetzt“ Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander, montieren sich zu neuen Kriegsszenarien, etwa zu fundamentalistischen Archaismen, die aus der Wüste auftauchen, doch aus internationalen Finanztransaktionen hervorgehen, mit hypermodernen Waffensystemen armiert sind und in weltweiten digitalen Netzwerken operieren. Staatliche Strukturen, einer „asymmetrischer“ Kriegsführung ausgesetzt, werden ihrerseits „asymmetrisch“, wenn sie auf Söldnerheere zurückgreifen, Folter, Mord, Drohnenkriege und Strategien eines „shock and awe“ zum Tagesgeschäft machen. Ökonomische Mächte, ihrem drohenden Zusammenbruch ausgesetzt, okkupieren überfallartig ganze Länder, überantworten sie einem Chaos der „failed states“, in denen irreguläre Machtausübung, offener Terror, Bürgerkrieg und allgegenwärtige Angst mit der Mobilisierung frühester ethnischer Ressentiments und rassistischen Wahns einhergehen. Überall stürzen die Zeiten ineinander, versetzen sie das „Jetzt“ in jenen rasenden Stillstand, in dem offene Gewalt göttliche Allmacht reklamiert. Das Problem ist deshalb nicht die sogenannte „Zukunft“, der zerfallene Horizont. Das Problem ist eine Gegenwart, die aufgehört hat, eine zu sein, seitdem diese Zukunft implodierte. Diesen rasenden Zerfall allein nennt man heute „Geschwindigkeit“. Ein Denken, das auf das Zersplitterung, das Bersten, das irreguläre Chaos dieser Gegenwart nicht zu antworten verstünde, sondern ihnen mit Zukunftsbeschwörungen begegnen will, bleibt allemal unzeitgemäß. Ungebrochen versucht der sogenannte Akzelerationismus, sich an zeitliche Linearitäten zu klammern, die er aus Traditionen der Metaphysik bezog. Gewiss, dieses Denken mobilisiert Affektionen; doch bleibt es bemerkenswert sesshaft, hausbacken und, durch alle Beschwörungen einer „Beschleunigung“ hindurch, veraltet. Nicht ausgeschlossen deshalb, dass es sein Schicksal mit Umberto Boccioni teilen wird, einem der maßgebenden Futuristen. 1916 fand er seinen Tod, als er vom Pferd stürzte.

Mit freundlicher Genehmigung von agoRadio

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