Im Taifun des at-Risk-Seins

Das Risikomanagement ist heute nicht einfach nur als eine Form der Kalkulation der zukünftigen Erfolge kapitalistischer Unternehmen oder als eine Art des ökonomischen Wissens der Finanzeliten zu verstehen, sondern es artikuliert und generiert auch eine umfassend neue Dynamik des sozio-ökonomischen Seins von Subjekten. Über die differenzierten Funktionsweisen des Finanzsystems definiert das monetäre Kapital heute nahezu alle wichtigen sozialen Relationen in den verschiedenen gesellschaftlichen Kräftefeldern. Unter Finanzialisierung versteht der amerikanische Soziologe Randy Martin in diesem Kontext einen Prozess, in und mit dem die sozialen Beziehungen permanent von der Finanzindustrie generiert, rekalibriert und rekonfiguriert werden. Die Finance ist damit auch als ein multiples Set von normalisierenden Protokollen und Machttechniken zu verstehen, die weite Teile der Bevölkerung dazu anhalten, ihr alltägliches soziales Leben ego-orientiert, produktiv, bejahend, flexibel und zugleich regelkonform zu organisieren. Damit gerinnt der Spekulant zu einer der Leitfiguren der gegenwärtigen sozialen Ökonomie, wenn er es denn versteht, seine geschäftlichen Arrangements, seine Objektbeziehungen bis hin zu seinen privaten Affairen effizient zu managen, seine eigene Zukunft im Zuge des Selbstverwertungsimperativs zu planen, zu koordinieren und erfolgreich zu realisieren.

Selbstmanagement ist heute eines der großen Schlagworte (erfunden ´in den höheren Managementebenen bzw. der personalen Finance); ein performatives Trendwort, das die Bevölkerung dazu auffordert, die Tests, die Evaluierungsprogramme und die Prüfungen der ubiquitären neoliberalen Assessmentcenter fortwährend zu bestehen. Der Arbitrageur oder Spekulant operiert im Vergleich zum klassischen Unternehmer noch stärker am Schnittpunkt zukünftiger Projekte, Funktionen und Initiativen, wenn er etwa kontingente Derivatverträge schreibt, die durch die potenzielle Abweichung gegenüber den fixierten/erwarteten Preisen Gewinne erzielen sollen, was wiederum bedeutet, dass man auch von den Verlusten oder den Wertminderungen der Spielzüge anderer Spieler profitieren kann. Es gilt also immer auch von der Antizipationen der Aktionen anderer Mitspieler zu leben, sozusagen beim derivativen Handel mit einem Auge über der Schulter der Konkurrenten zu sehen, und es gilt die eigenen Portfolios ständig gemäß der antizipierten Margen zu diversifizieren. Man muss im Feld der finanziellen Kriegsmaschinen und den sie begleitenden präventiven Sicherheitsmodi unverzüglich, noch bevor eine Aktion verdampfen könnte, am besten jetzt sofort entscheiden, man muss intervenieren, bevor der Feind überhaupt aufgetaucht ist, man muss bestrafen, bevor ein Verbrechen begangen werden könnte, man muss messen, bevor überhaupt ein Output erzielt ist, und man muss verkaufen, bevor das Produkt produziert worden ist – und all dies berührt auch die berühmt-berüchtigte hyperaktive attention-deficit inducing disorder der gemäß den Anforderungen der Effizienz immer mangelhaft agierenden Subjekte.

Die Möglichkeit durch das Risikomanagement profitieren zu können, besteht in der kontinuierlichen Ausnutzung der Arbitrage (der Ausnutzung von kleinsten Differenz), und dies darf als eine der bevorzugten Weisen der finanzialisierten Subjektivierung gelten. Ein derartig motivierter Arbitrage-Handel ermöglicht die Verleugnung der Abhängigkeit von sozialen Strukturen, die nun als befreiender Wettbewerb, der sich individuell-souverän aneignen lässt, erfahren und zugleich zelebriert wird, als ob dieser Wettbewerb allein aus der Perspektive der subjektiv kontrollierbaren Inputs und Outputs gemessen werden könnte. Gegenwärtige finanzialisierte Biopolitiken inkludieren aber nicht nur die beständige Modulation der Risiken durch die Subjekte selbst, sondern auch die statistische Sortierung der Bevölkerung, nämlich in die, die im Angesicht des Risikos erfolgreich sind, und die, die es definitiv nicht sind – und nichts anderes heißt at-risk zu sein. Während sich der Erfolg primär über die Funktionsweisen einer kollektiven Ansteckung in den privilegierten Mittelklassen und den reichen Eliten fortpflanzt, gerät die Niederlage der Lohnabhängigen, Prekären und Arbeitslosen unweigerlich zum persönlichen Fehler. Als sei das nicht schon genug, hat sich zudem eine finanzielle Industrie entwickelt, welche die Verantwortlichkeit, die Mobilität und die Strategien der Akteure gegenüber dem eigenen at-risk-Sein permanent bewertet, berechnet und strukturiert (angefangen von der Vergabe der Konsumentenkredite über den Zugang zu privatisierten öffentlichen Gütern wie Schulen; Bildung und Gesundheit, bis hin zum Tod).

Die Kontrolle der Risikosubjekte erfordert heute gewinnorientierte Versicherungen, die ihre Kunden kategorisieren und normalisieren. Die Versicherungen erheben ihre Daten aufgrund einer standardisierten Risikodefinition, indem sie die Risikosubjekte nach Kriterien wie Einkommen, familiäre Herkunft, Beruf, Wohnort, Geschlecht und Bildung sortieren, hierarchisieren und auspreisen. Während die Risikosubjekte hartnäckig mit ihrer individuellen Neubildung beschäftigt sind, um sich ständig in Freiheit kreativ-neu zu erfinden (und sich damit meistens nur der Tatsache anpassen, dass sie nicht im geringsten etwas verändern können, oder es vielleicht auch gar nicht wollen), werden sie von den Versicherungen als ziemlich stereotype Protagonisten betrachtet, die ein ganz gewöhnliches Leben leben, unter Umstände das des »lebendig gewordenen Stelleninserats, eine gelungene Synthese aller Charaktereigenschaften, die sich Personalchefs und Volksschullehrer bei einem Menschen wünschen.« (Pohrt) Während die risikobereiten Subjekte, insbesondere die aus der Mittelschicht, permanent die Befreiung von den Fesseln verkrusteter Identitäten beschwören, werden sie gleichzeitig äußerst effizient durch Versicherungen und andere Kontrollfirmen gescannt und klassifiziert. Die aufstiegswillige Mittelschicht – ökonomisch nach oben, kulturell nach unten orientiert – findet dies chic, und einige ihrer Repräsentanten, die vielleicht sogar Funktionen bei den Versicherungen selbst einnehmen, gelingt es im High-Sein des Hedgens ihres Lebens sogar sich gegenseitig zu übertrumpfen, und dies im Zuge eines schnellmachersüchtigen Ausspuckens von Funktionen, Formeln und Slogans, die den eigenen Lebenstil ornamentieren. Die Existenz risikobereiter Subjekte erfordert zugleich eine von den Versicherungen operationalisierte Kontrollstruktur (Statistiken, Tabellen und Taxonomien), die ihre Kunden nach Risikokategorien eingliedert, klassifiziert und sortiert – zum Zweck der Erstellung eines Risikoprofils. Unternehmen und Personen werden heute weniger durch die Analyse des konkreten Einzelfalls auf ihre Kreditwürdigkeit geprüft, sondern anhand einheitlicher quantitativer Indizes. Die Kreditkontrolle durch Prüfung des Einzelfalls wird durch die Erstellung von standardisierten Risikoprofilen ersetzt. Für Unternehmen leisten dies auf globalere Ebene die drei großen Ratingagenturen (Moody’s, Fitch und Standard & Poor’s) und für die Verbraucher wurde der Fico Score eingeführt, ein Algorithmus, der als ein wichtiges statistisches Instrument zur Kontrolle des neoliberalen Subjekts fungiert. Dieses wird nach den oben genannten Kriterien klassifiziert, und auf diese werden wiederum Punkte vergeben, die gewichtet und zu einer Bonitätsnote zusammengefasst werden, um dann mit dem Gesamtscore die Kreditvergaben festzulegen. Versicherungen konstruieren mit dem Fico Score die Kreditgeschichten ihrer Kunden, Unternehmen prüfen mit ihm die Stellenbewerbungen und suchen nach optimalen Standortbestimmungen, Krankenversicherungen erheben Prognosen, ob die Patienten ihre Medikamente auch ordnungsgemäß und regelmäßig einnehmen, Spielcasinos eruieren die gewinnträchtigsten Gäste. Ein weit aufgespanntes und zugleich dichtes Netz von Rankings, Ratings und anderen Evaluationsmechanismen durchzieht heute alle gesellschaftlichen Felder und bezieht sich auf fast alle Tätigkeiten, Subjekte und Unternehmen.

Ein derartig zugerichtetes Risikosubjekt kann nicht passiv bleiben, sondern muss sich im Rahmen seines Risikomanagements ständig aktiv und strategisch, ja seine Zukunft kalkulierend bewegen. Belohnung oder Strafe sind das Ergebnis eines permanenten Managements um die zu kalkulierenden Risiken. Mirowski bezeichnet das Risiko als den »Sauerstoff des unternehmerischen Selbst« (Mirowski 2015: Kindle-Edition; 1912), das ein ein kleines Kapital ist, das sich effektiv und vielgestaltig in allen Lebensbereichen und -situationen verwerten soll, und dies erfordert zwingend, dass man das Risiko als konstitutiv für das eigene Leben, Job, Familie, Versicherung und Konsum versteht. Das neoliberale Risikosubjekt transformiert somit zum Unternehmen, Kunden, Produkt und Rohmaterial seines Lebens in einem. Die Unterscheidung von Konsument und Produzent löst sich hier zugunsten eine Subjekts auf, das mit seinem kleinen Kapital zusammenfällt. Seine Eigenschaften, Projekte, Skills und Fähigkeiten hat das neoliberale Risikosubjekt wie Kapital- und Vermögenswerte zu behandeln, die es zu pflegen, zu managen und zu vermehren gilt, eingeschlossen der Verbindlichkeiten, die natürlich auch gemanagt werden müssen. Und man steht natürlich besser auf der Seite der Forderungen als auf der Seite der Verbindlichkeiten, wobei in diesem Kontext die Versicherungen eine notwendige Institution sind, um die anfallenden Schwankungen, Fluktuationen und Divergenzen, die in Verwertungsprozessen des Selbst auftauchen, zu regulieren. Schließlich mutiert das neoliberale Subjekt zum Spielball der Simulation von Derivatgeschäften, an denen es wie am Tropf hängt wie es sie gleichzeitig in höchster Alarmbereitschaft bzw. Flexibilität zu pflegen, zu festigen und zu effektivieren hat. Zwischen den verschiedenen Rollen, die es dabei zu besetzen gilt, besteht keine feste Hierarchie, sondern sie werden je nach momentanen Anforderungen eingenommen und gerade diese Art der Flexibilität erfordert die permanente Selbstkontrolle. Emotionen, Techniken und Verfahren wechseln, und wer das eigentlich orchestriert, ist nicht ganz klar, aber es muss weiter ein Integral existieren, so provisorisch es auch sein mag, will das neoliberale Subjekt nicht ganz in das Pathologische abdriften.

Mit der Finanzialisierung wird fast alles, von der Bildung bis hin zur Religion, unter der Linse der Optimierung und Rentabilität gesehen. Selbst die Performance der Unternehmen (hinsichtlich ihrer Rentabilität) und der Regierungen (hinsichtlich der Effizienz) müssen heute oft genug in erster Linie die Finanzmärkte überzeugen und erst in zweiter Linie gilt es im Fall der Unternehmen Kosten sparen und im Fall des Staates nachhaltige Infrastrukturen zu bauen. Und schließlich geht es um die Konstitution des investiven Subjekts: Es soll effizient essen, das heißt, selbst noch die Nahrung als ein Investment in seinen Körper begreifen, wobei Fettleibigkeit, eine der heute am schnellsten zunehmenden Zivilisationskrankheiten, als das Resultat eines falschen Investments in den körper begriffen wird. Die Devise lautet: Antworte auf dein prekäres Leben, indem du die Risiken managst, investiere in die Krankenversicherung, umpräventiv vorzusorgen, antworte auf fehlende Solidarität, indem du deine Zeit in ein Hobby oder freiwillige Tätigkeit investierst. Die Finanzialisierung formiert heute gerade auch das transversale Prekariat und bietet sich als Lösung für seine Probleme an; Prekärsein ist dann nicht nur eine Norm, sondern gerinnt sogar zum Geschenk,zu einer Möglichkeit für das finanzialisierte Subjekt, um jede Ambition schließlich darauf auszurichten, ganz im Jetzt zu leben, schnelle Entscheidungen zu treffen und die Zukunft zu privatisieren, indem man die in die Gesundheit ud Wellness investiert und alles Mögliche versichert. Im Financier finden wir dann die Leitfigur für das gehobene und gehebelte Prekariat, dem alle Arbeiter und Angestellten unermüdlich nacheifern sollen (und es nicht können). Dies führt zu einem schönen neuen Leben, das durch maximale Liquidität gekennzeichnet ist und sich schnell an die profitabelsten Situationen zu assimilierten bereit ist.

Max Haiven gibt eine Vielzahl von Beispielen, die den enormen Einfluss der Finance auf das kulturelle und soziale Leben nachweisen. (Haiven 2014) Er untersucht den Wall Street Banker, den viel gepriesenen »risk-taker«, dessen professionelle Einstellung zum Prekären ihn zum extrem affektiven Agenten eines breiteren Prozesses der Finanzialisierung macht. Am unteren Ende untersucht er das abjektive Opfer, das in ganz spezifischer Weise auch »at risk« ist, nämlich den rassifizierten Sub-Prime Borrower, dessen toxische Schulden angeblich das finanzielle System im Jahr 2007 vergiftete. Im Zuge der Austeritätspolitik und dem Kult des Brandings transformiert heute selbst Walmart seine Kunden und Arbeiter zu Risikonehmern, zu neoliberalen Subjekten und sophisticated finanziellen Akteuren, die die Methoden und Praktiken des finanziellen Risikomanagements zu ihrer eigenen Sache machen. In einer Ära, in der tendenziell alle Aspekte des Lebens gemessen, quantifiziert und spekulativ verwaltet werden, erlangt der nebulöse Term »Kreativität« eine überragende Aktualität; er inkludiert eine neue diskursive Formation der Finanzialisierung.

Seitdem mit der Entstehung von Derivaten die Mittel zur Versicherung gegen Schulden zugleich Objekte der Profitabilität geworden sind, können wir in bestimmten, besser gestellten Segmenten der Mittelklasse und der Eliten entwickelter Länder keine fest abgegrenzten Positionen von Gläubigern und Schuldnern mehr annehmen. Es gibt dann nicht mehr auf der einen Seite den absolut dominanten Gläubiger, der die Kapitalposition besetzt, und auf der anderen Seite den erschöpften Schuldner, der den Lohnabhängigen markiert. Wenn beispielsweise die Verbindlichkeiten eines Schuldners von einem Gläubiger zu einem dritten Gläubiger weiter gereicht werden können, und diese Art der Verkettung im globalen Raum sich ausbreitet, so sind die darin eingebundenen Positionen der Gläubiger und Schuldner schon nicht mehr so klar getrennt wie etwa in den früheren Disziplinarregimen und in solchen der Souveränität, sondern sie fluktuieren und oszillieren um Durchschnitte und sind zugleich nicht mehr ohne weiteres beobachtbar. Es gibt dann keine eindeutig feststellbare Zone mehr, in der man den parasitären Schuldner von seinem Wirt, dem Gläubiger, exakt trennen kann, vielmehr haben gerade die Verlaufsformen der letzten finanziellen Krisen gezeigt, dass der schwache parasitäre Schuldner ab einem bestimmten Punkt das finanzielle System in gewisser Weise sogar dominieren oder zumindest gefährden kann; er ist dann der schwächste und mächtigste Punkt im System zugleich.

Wenn die Konstruktion der Verschuldung heute die Ausweitung der finanziellen Logik und der Strategien bedeutet, durch die das Subjekt regiert wird und sich selbst regiert, dann sind die Derivate die Kehrseite desselben Prozesses. Während die Axiomatik des Kapitals die scheinbar unendliche Verschuldung erfordert, bedarf es im Gegenzug der Konstruktion von neuen Formen des Geldkapitals, gerade auch, wenn es um die Modalitäten, Technologien und Methoden der Selbstregierung und -optimierung geht, die immer noch durch die Biopolitiken des Neoliberalismus organisiert werden. Man sollte aber wirklich nicht in die Melancholie verfallen, einen universell und auf ewige Zeiten verschuldeten Menschen zu imaginieren, vielmehr gilt es sich der armseligen Dialektik, die permanent das Verhältnis Gläubiger und Schuldner hin und her schiebt, strikt zu verweigern. Der Reduktion des Gläubiger-Schuldner Verhältnisses auf das einer reinen Unterwerfung unter das kapital gilt es entschieden zu widersprechen.

Die Kapitalisierung konstituiert ein Regime zur Regulation von finanziellen Praktiken, die über die binäre Praxis der Unterscheidung von Sicherheit und Unsicherheit, die in der Konstruktion des Risikos kulminiert, weit hinausgehen. Wenn es früher bezüglich der sozialen Finanzialisierung um wichtige Markierungen wie Vertrauen und Anormalität ging, um damit gerade die Störung oder den Unfall zu vermeiden, so wird das Risiko heute als unausweichlich angesehen und seine Existenz gilt sogar als wünschenswert, sodass wir uns daran gewöhnen müssen, unter den Bedingungen der konstanten Anwesenheit des Risikos zu leben. Wir haben heute in jedem Augenblick die neuesten Bedingungen der Risikoproduktion zu bedenken und gleichzeitig die sozialen Beziehungen auf die Möglichkeit der Kapitalisierung des Risikos hin zu überprüfen, um schließlich das Risiko als ein zentrales Element der Regierung des Selbst und seiner Ökonomie anzuerkennen.

Das Subjekt der Finanzialisierung ist genau dasjenige, das die Gegenwart benutzt, um die Zukunft zu kalkulieren, auf künftige Profite zu spekulieren und sie zur gleichen Zeit zu hedgen, um immer wieder neu die Gefahren dieses Hedgings zu blockieren und um dann wieder erneut zu hedgen. Die Möglichkeiten des Verlustes und zur gleichen Zeit das Hedging dieses möglichen Verlusts, mit dem sogar Profit generiert werden kann, sind miteinander verbunden: Verlust und Profit konstituieren keine inversen proportionalen Größen mehr, sondern die eine Größe produziert die andere. Dieser Zugriff auf die Zukunft erzeugt weniger einen Präsentismus, sondern vielmehr eine Methode, die den Blick ganz starr auf die Zukunft stellt, auf den zukünftigen Profit oder Verlust oder auf den Hedge in der Zukunft. Die Zukunft wird so mit wettbewerblichem Erfolg gleichgesetzt. Indem die Zukunft versichert wird und die fluktuierenden Erwartungen auf die Zukunft ständig neu bewertet werden, kann man sie auch permanent redifinieren. Das Derivat wird als ein Preis in der Zukunft, die natürlich erst noch stattfinden muss, antizipiert, indem man den Preiskalkuliert oder auf aktuelle Werte diskontiert, und genau damit wird die kontingente Zukunft genutzt, um Renditen jetzt schon zu erzielen. Diese Art derZukunftsbewirtschaftung wirkt auf die Gegenwart zurück, die nun selbst gespalten ist, nichtmehr diejenige ist, von der man die Kalkulation gestartet hat. Um es für die Akteureherunterzurechnen: ihr Handeln hat nun die Zukunft als Bedingung des Handelns miteinzubeziehen, und damit wird das aktuell Handeln selbst modifiziert. Die Subjektivität wird selbst fluktuierend, ja ihre Bewertung erfolgt angesichts der nackten Axiomatik des Geldes, sodass es für das Subjekt selbst keine Zeit mehr für so etwas wie moralische Schuld gibt. Die gegenwärtige Produktion der monetären Schulden durch die Finanzialisierung verlangt also keineswegs nach einem passiven Subjekt, sondern erfordert die Produktion des aktiven Subjekts, das nicht länger nur an Eigentum und Vertrag gebunden ist, sondern auch auf den unaufhörlichen Bewegungen und Wellen der Evaluation der Risiken, der Ratings und der Rankings surft. Das finanzialisierte Subjekt muss lernen jede Möglichkeit zur Verbesserung des eigenen Lebens wahrzunehmen, zu evaluieren und auszuführen, um im Dazwischen eines Zeitraums, der von Verträgen und Derivaten aufgespannt wird, zu oszillieren. Das Subjekt hat ständig zu affirmieren, dass sein Leben konstant zwischen den Schulden , die es an das Kapital hat, und der Funktion edes Gläubigers, der sein eigenes Leben kreiert, oszilliert.

Dabei werden nicht die Schulden selbst in den Körper eingeschrieben, sondern eingeschrieben und immer wieder neu eingeschrieben wird die Addition von Schulden, und zwar über den Mechanismus der konstanten Evaluation ihrer produktiven Möglichkeiten. Des geht also nicht nur um die Evaluation der Schulden selbst, sondern diese gilt es hinsichtlich des eigenen kleinen Kapitals und Möglichkeiten und Potenzen zu vermehren. Was hier evaluiert und geteilt wird, ist weniger die Potenz zur Rückzahlung der Schulden, sondern die einer konstanten Zahlung im Kontext einer Evaluation von zukünftigen Möglichkeiten. Damit werden die Schulden als eine Technologie der Macht endgültig in ein multiples Dispositiv der Evaluation integriert: Es geht um den fortwährenden Prozess der Evaluation der Möglichkeiten der Valorisierung des Subjekts, das zugleich durch bestimmte Machtrelationen organisiert und mobilisiert wird.

Heute liegt das Entscheidende im Umgang mit den Schulden nicht in ihrer Buchhaltung oder in der Tyrannei der Zahlen, sondern das Hauptaugenmerk ihres Managemnents besteht darin, die Subjekte gemäß ihren Möglichkeiten zu evaluieren und die Quantität ihres Humankapitals, das sie potenziell produzieren oder akkumulieren, zu bestimmen, wofür Risikoprofile erstellt und ihre Adressaten konsequenterweise gemäß arithmetischer, hierarchischer Taxonomien klassifiziert werden müssen; ein unaufhörlicher finanzieller Prozess produziert die Numerisierung (Zählbarkeit) aller Elemente des Lebens und der sozialen Relationen, um beide Bereiche ständig miteinander zu vergleichen und dadurch die endlose Wiederholung des Gleichen herzustellen. Eine konstante Regierung der Schulden ist gefordert: Ich manage meine Schulden, heißt noch lange nicht, dass ich auch mein Kapital managen kann. Das Kapital ruft dich heute weniger als ein Schuldner, sondern viel stärker als ein neuer Kreator an, als ein Kreator, der transformierend in die eigene Risikoproduktion eingreift, um ein unendlicher und konstanter Kreator zu werden, der dann meistens doch ohne Belohnung auskommen muss. Diese Art des Kreators ist ein Nebenprodukt der Fianzialisierung, das sogar einen protofaschistische autoritäre Disposition annehmen kann. Man erzählt dem Kreator des kleinen, feinen Schulden-Kapitals, dass er sein Leben in ein Glücksspiel verwandeln soll, bei dem er jedoch, und das wird verschwiegen, nie gewinnt und deshalb gezwungen ist bis zum Tod Lotto zu spielen. Man erzählt ihm, dass der Markt ihm Frieden und Wohlstand bringen wird, wobei er aber eine Zukunft vor sich sieht, die nicht unbedingt von Armut gekennzeichnet sein muss, aber zumindest von permanentem Druck und Sorgen. Das finanzialisierte Subjekt, das Gläubiger und Schuldner zugleich ist, lebt in einem endlosen futurisierten Jetzt, das ihm sanft vorschreibt, seine soziale Imagination ganz auf das Management der eigenen Risiken, des Leverage ihrer Potenziale und der Maximierung der Renditen zu konzentrieren. Die Perspektive auf das bisher Unbekannten wird so ganz krass eliminiert.

Die singuläre Relation zwischen Gläubiger und Schuldner kann sich schließlich zu einer expandierenden und verkettenden Relation erweitern, aber sie kann auch eine Relation der wechselnden Positionen sein: Jeder Schuldner kann ein Gläubiger werden und jeder Gläubiger ein Schuldner.

Was heißt dies nun für einen widerständigen Umgang mit den Schulden? Anstelle von fixierten Positionen und der im Gläubiger-Schuldner Verhältnis lauernden Täter-Opfer Beziehung, sollten wir die Bereicherung des Schuldners mit möglichen Stärken, die von woanders her kommen, anstreben: das Canceln jeglicher Konsequenzen, die im Schuldner-Gläubiger Verhältnis liegen, das Verschlafen der Zahlungen und die Gründung von anders strukturierten Gemeinschaften. Der Schuldner kann tatsächlich eine Indifferenz gegenüber seinen Schulden zeigen und damit anti-diszplinarisch agieren. Die Relation zwischen Gläubiger und Schuldner ist beweglich, indem Anziehungen sich mit Abstoßungen abwechseln, und es gibt Spannungen und ihr Gegenteil und auch hier werden die Grenzen kontinuierlich verschoben: ein bewegliches Feld ohne vorgegebene Regeln. Jedes Moment ist das flüchtige Moment einer unsichtbaren Entscheidung, die kontinuierlich erneuert wird. Es geht dann bei den Schulden nicht länger um die moralische Schuld, sondern um Relationen, die kontinuierlich neu verhandelt werden, um Strategien der sich wandelnden Taktiken und um Verhandlungen, die weiter verlaufen und nicht stoppen, sondern sich ändern, drehen und vergehen. Das sind die Perspektiven, wenn man das Feld der Verschuldung im Kapitalismus zumindest offen halten will.

Foto: Bernhard Weber

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