Laruelle und die Non-Philosophie

Das Reale und das Eine

Für François Laruelle ist die Philosophie definitiv das älteste Vorurteil. Natürlich haben die Philosophen etwas ganz anderes im Blick, wenn sie sich immer wieder die Frage »Was ist Philosophie?« stellen; oft genug wollen sie sich mit der Beantwortung dieser Frage erneut dem Ursprung des Denkens zuwenden oder zu den ersten Prinzipien der Philosophie zurückkehren oder die Philosophie zumindest von diesem Ursprung aus neu interpretieren.
Fast alle Philosophen, von Kant über Foucault bis hin zu Deleuze/Guattari haben sich obige Frage gestellt, um sie bis in die unterschiedlichsten Verästelungen und Faltungen hinein zu beantworten, nicht so aber Laruelle, der die Frage nicht nur nicht beantworten will, sondern sich sogar weigert, diese Frage überhaupt zu stellen. Wenn Laruelle sich eine Frage stellt, dann ist es die fast schon vulgäre Frage »Warum Philosophie?«, um aber im gleichen Atemzug die Frage zu stellen »Warum nicht keine Philosophie?«. Und Laruelle fragt, wenn überhaupt, nicht nach den ersten Prinzipien der Philosophie, sondern er spricht stets von den letzten Prinzipien, genauer von der letzten Instanz. Das laruellsche Eine, sein wichtigster Name (das endliche Apriori des Realen) für das Reale, dem zentralen Begriff der Nicht-Philosophie, ist weder ein erster Beweger noch eine erste Substanz. Umgekehrt ist das laruellsche Eine der letzte Beweger, ein Endliches und immanent Reales. Laruelle tendiert also keineswegs dazu, zu den Ursprüngen oder zu den ersten Prinzipien der Philosophie zurückzukehren, und wenn Laruelle sich der Philosophie zuwendet, dann macht er sich auf die Suche nach den letzten Prinzipien, was allerdings nicht chronologisch zu verstehen ist oder etwa als ein letzter Trumpf ausgespielt werden könnte. Laruelles letzte Philosophie fungiert immer nur im Sinne der Determination-in-der-letzten -Instanz; es geht ihm um die immanente und endliche Letzlichkeit, die nichts zu übersteigen braucht und die keine philosophische Mediation im Sinne der Reflexion auf etwas oder des Bewusstseins hinsichtlich etwas bedarf. In seiner Schrift Non-Photographie/Photo-Fiktion behauptet Laruelle, dass die Philosophie permanent das Spiel der Spiegelung der Welt betreibe, der Verwechslung zwischen dem Spiegel, der Dubletten erzeuge, und dem Bildschirm der Theorie, der ja nur Klone anzeige. (Laruelle 2014: 157) Und zugleich sei die Philosophie nur in der Lage zu sagen, was sie tut, wenn sie sagt, was sie sagt. Philosophie funktioniert hier als ihr eigenes formal-pragmatisches Metavokabular. Diese mehr oder weniger Hegel`sche Struktur einer praktisch-theoretischen Suffizienz zeigt die operative Geschlossenheit des philosophischen Denkens an.

Für Alexander Galloway ist die Philosophie sui generis in der Unterscheidung begründet und das macht sie digital (das selbst und der andere) – die Teilung von Eins in Zwei wuchert in den philosophischen Begriffen wie Opposition, Reflexion oder der Relation zwischen zwei oder mehreren Elementen fort. (Vgl. Galloway 2014: 25f.) Laruelle setzt gegen die Dualismen der Philosophie (Denken/Sein, Erscheinung/Wesen, Sein/Seiendes, Reales/Repräsentation, Subjekt/Objekt etc.), die alle eine ontologische Ambiguität inhärieren, fast schon dogmatisch auf die Immanenz des Einen, ja die Totalität des Einen, die aber eine quasi-Totalität oder eine falsche Totalität ist, insofern sie ohne einen zureichenden Grund bleibt. Das Eine ist niemals das Ganze oder eine Totalität, vielmehr ist es ein endliches und generisches Eines, ein Irgend-Etwas. Irgendetwas ist, was immer es auch ist. Da das Eine nicht unendlich, sondern endlich und immanent ist, kann es auch kein Name für das Absolute oder Gott sein, vielmehr sind und bleiben die Entitäten (im Einen) in ihrer generischen Immanenz immer endlich. Das nicht-interpretierbare und unteilbare Eine bleibt in sich verschlossen und seine Wahrheit ist in seiner immanenten Einheit immer endlich. Allerdings ist das Eine auch nicht als eine aktuelles Objekt oder eine empirische Realität aufzufassen, denn es ist gegenüber den weltlichen Angelegenheiten indifferent: Das Reale/Eine ist in und durch die Metastasis des Finiten eine Bedingung reiner Virtualität. Anders gesagt, das Reale ist, während es immanent-in-sich-selbst bleibt, an jedem Punkt präsent, und deshalb in einem gewissen Sinne virtuell zu jedem Punkt. Aus der Perspektive des Objekts ist das Eine kein Ding, aus der Perspektive der Relation ist es nicht-relationiert und aus der Perspektive des Ereignisses aktualisiert es sich nicht. Damit setzt sich Laruelle radikal von einem philosophischen Szenario ab, in dem sich eine Welt oder ein Ding immer nur für das reflektierende Subjekt offenbart. Während bspw. Quentin Meillassoux sich in Opposition zum Korrelationismus setzt, um absolute Möglichkeiten für das Denken und dadurch reale materielle Gründe zu eruieren, will Laruelle, um den Korrelationismus zu überwinden, finite und generische Gründe finden, die in einer superpositionalen Matrix im Realen selbst existieren. Laruelle greift dafür auf den marxistischen Begriff »Determination-in-der-letzten-Instanz« zurück, der rein generisch zu verstehen ist; es handelt sich hier um eine unter-determinierende Kraft, die weder einzigartig noch originell sein will, sondern auf ewig fremd bleibt, wenn sie denn in die Philosophie und die Wissenschaften interveniert, um sie in Richtung einer generischen Wissenschaft zu transformieren. Als »generisch« bezeichnet man in der Pharmazie ein Medikament, das kein originäres Markenprodukt mehr ist. In der Algebra bezeichnet »generisch« den Erwerb universeller Eigenschaften. Mit den Begriffen der Quantenphilosophie könnte man das Generische als Unter- oder Indetermination verstehen. Laruelle schreibt: »The Last Instance is a pre-priority, a before-first instance but which conserves its priority, become determinate, to philosophy.« (Laruelle 2010b: 79. Übersetzung aus dem Französischen A.S.) Determination-in-der-letzten-Instanz sollte man keinesfalls im Sinne einer ultimativen deterministischen Fundierung, sondern als eine Unter-Fundierung verstehen, wobei das »Unter« keine tiefere (logische) Ebene bezeichnet, sondern eher ein Generikum, das gerade kein Letztes im logischen oder temporalen Sinne anzeigt. (Laruelle 2013a: 59) Insoweit der Term generisch ist, ist er kein ultimativ Letztes, das nach allem kommt, und er zeigt auch keine Instanz an, vielmehr plädiert Laruelle im Sinne der Quantenphilosophie für die Indetermination, ohne dass allerdings im Sinne einer Kontingenzphilosophie das determinierende Moment aufgegeben wird. Dramatischer sieht dies allerdings Alexander Galloway in seinem Buch Laruelle. Against the Digital, wenn er im Zusammenhang mit der Figur Determination-in-der-letzten-Instanz von einer starken unidirektionalen und irreversiblen Kausalität spricht, die sich jeder Bidirektionaliät verweigert (Aktion/Reaktion, dialektischer Widerspruch etc.). (Galloway 2014: xxvi) Vielmehr geht alles immer nur vom Einen aus und in eine Richtung, obgleich doch das Eine gar keine Relation zu irgendetwas anderem unterhält. Deshalb kann es eben nur geklont werden, sodass Dualität zustande kommt, ohne sich jedoch auf Binarität beziehen zu müssen. Der Klon beinhaltet eine Art von Logik, die Dualität durch eine identische Kopie erzeugt. Galloway führt das Beispiel an, dass geklonte Eltern und geklonte Kinder niemals eine Beziehung zu etablieren brauchen, und somit hier durch den Akt des Klonens gerade nichts synthetisiert wird. (Ebd.)

Folgerichtig ersetzt Laruelle in seiner späten, fünften Phase den Begriff der Nicht-Philosophie durch den der generischen Wissenschaft (ebd.: 78): Um eine generische Wissenschaft bspw. im Bereich der Ökonomie zu erfinden, muss ihre »generische Matrix«, die auf das Paradigma oder die wissenschaftliche Problematik verweist, und zugleich den Formalismus der Matheme der Ökonomie behandelt, auch das Generische als eine Erfindungskraft bezogen sein, i. e., Theorie ist stets als Wissen und als theoretische Praxis zu verstehen. Das Generische erweist sich hier als eine neuer Typ des Universellen, universell im Sinne des Gebrauchs für …

Laruelle zufolge stellen bisher ausnahmslos alle Philosophien, die an der Schnittstelle von Metaphysik und Epistemologie verweilen, die Frage nach dem Realen im Zuge einer begrifflichen Repräsentation folgendermaßen: Epistemologie als die Analyse des Problems, wie man erkennt, was ist, kreuzt sich je schon mit Metaphysik, der Exploration dessen, was ist. Im Zuge der Transzendentalphilosophie eines Kant wird nicht die Frage präferiert, was etwas ist, sondern, was die Bedingungen der Möglichkeit für die Erkenntnis eines X sind. Wenn Platon noch nach der Wahrheit fragt, so fragt Kant nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit. Für Laruelle zeichnet sich der Großteil der kontinentalen Philosophien gerade dadurch aus, dass sie Entscheidungen darüber treffen, was für sie eine Bedingung der Möglichkeit (von Wahrheit) darstellen könnte.

Es gehört zu den konstitutiven Eigenarten der transzendentalen Philosophie, dass sie hinsichtlich der Figur der Überlagerung von Epistemologie und Metaphysik in drei Schritten operiert: Man nimmt zuallererst eine Unterscheidung zwischen den empirischen Fakten und einer apriorisch gesetzten Transzendenz (kategoriale Bedingung) vor, d.h., man bedient sich der analytischen Bestandsaufnahme, die vor allem dazu dient, die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung begrifflich zu ermitteln. Für Kant sind dies die Formen der Anschauung von Raum und Zeit sowie die Deduktion der Kategorien, welche für die Form des (philosophischen) Urteils als bestimmend gelten. In einem zweiten Schritt fasst man die spezifischen, das heißt die regionalen apriorischen Bedingungen (a priori Fakten der Transzendenz) in einer transzendentalen Einheit zusammen, die als notwendig universelle Bedingung fungiert, um schließlich die synthetische Einheit herzustellen, mit der alle weiteren Synthesen überhaupt erst möglicht werden und Erfahrung als Totalität artikuliert werden kann. An dieser Stelle haben wir es mit der transzendentalen Immanenz oder der kategorialen Synthesis zu tun, die bei Kant als die transzendentale Einheit der Apperzeption erscheint. Dazu bedarf es immer irgendeiner Form von transzendenter Entität, sei es nun das kantianische »Ich denke« oder das Husserl’sche »Ego«. Und auf dieser Grundlage vermag die Philosophie in einem dritten Schritt in die umgekehrte Richtung voranzuschreiten, um mittels der transzendentalen Einheit darzustellen, in welcher Art und Weise – indem sie sich selbst und die Wissenschaft spiegelt – ihre Kategorien als Bedingung für das Empirische selbst gelten, das durch die Philosophie synthetisiert und systematisiert wird. (Vgl. Laruelle 1979: 77f.) Damit zeigt die transzendentale Synthese sowohl ihre Co-Abhängigkeit vom Empirischen als auch ihr eigenes Apriori gegenüber der Erfahrung an. Selbst an der Philosophie Badious lässt sich noch zeigen, wie eine partikulare Wissenschaft (mathematische Mengentheorie) aus dem Kontinuum der Wissenschaften extrahiert und gleichzeitig von ihrem Produktionsprozess abstrahiert wird, um sie mit einer Wissenschaft, die als die Essenz aller Wissenschaften gilt und deshalb universell ist, zu identifizieren (Mathematik als Paradigma). Und diese universelle Wissenschaft gilt es als Supplement des ontologischem Wissens (Philosophie) an sich zu qualifizieren, des Seins selbst qua Sein. Dieser dreistufige Prozess – die idealistische Triade –, den die Transzendentalphilosophie vollbringt, veranlasst Laruelle von einer philosophischen Entscheidung oder einem Urteil sui generis zu sprechen, mit dem das Transzendentale in die begriffliche Identität und die empirische Aktion getrennt wird, um aber gerade wieder eine Reziprozität zwischen Denken und Gegenstand herzustellen. Im begrifflichen Idealismus (an dem auch der sog. Korrelationismus festklebt, den die Verfechter des spekulativen Realismus dahingehend interpretieren, dass dort postuliert würde, man könne zu den Dingen-an-sich nur über eine Korrrelation, die das Subjekt herstellt, Zugang erhalten, sodass Objekt und Subjekt sui generis aufeinander angewiesen bleiben) erfolgt dies derart, dass der Unterschied zwischen Denken und Gegenstand von einem höheren begrifflichen Unterschied her beurteilt wird, der wiederum auf einer höheren begrifflichen Ebene subsumiert wird. In seinem Buch »The Transcendental Method« hat Laruelle die transzendentale Methode der kontinentalen Philosophie wie folgt zusammengefasst: »The telos of the transcendental is fulfilled by deduction and this constitutes the real: not in any empirical or contingent sense, but in the superior or specifically philosophical sense which is that of the concrete synthetic unity of the empirically real and of a priori or ideal possibility.«1

Man könnte nun mit Alexander Galloway nach Laruelles Haltung gegenüber Kants Zwei-zu-Zwei-Matrix des »a priori/a posteriori« und des »analytisch/synthetisch« fragen. (Vgl. Galloway 2014) Allerdings besteht hier die erste Schwierigkeit schon darin, dass die Terme a priori und a posteriori ̶̵̶ wobei Kant, salopp gesagt, das a priori als unabhängig und das a posteriori als abhängig von der Erfahrung bestimmt ̶̵̶ in der Nicht-Philosophie zunächst wenig Sinn ergeben. Wegen der korrelationistischen Obertöne ist für Laruelle die Erfahrung nicht ohne weiteres ein brauchbares Konzept, sodass man das a priori zunächst ganz simpel als das, was zuvor kommt, und das a posteriori als das, was danach kommt, bestimmen könnte. (Die versierte Position zur Erfahrung weiß, dass in jeder Erfahrung das Moment des Nichterfahrenen anwesend ist, weil ansonsten das ganze Wissen immer gegenwärtig wäre. Erfahrung wäre dann im laruellschen Kontext als eine vektorielle Größe zu verstehen, die unter anderem schon vorhandenes Erfahrungswissen auf eine neue Bahn bringt.) Bei Kant umfasst das a priori den Bereich des Transzendentalen (Raum, Zeit, Identität, Wahrheit etc.) und das a posteriori den Bereich des Aktuellen, Empirischen und Realen (du, ich, meine Gedanken, mein Körper, dieser Platz, diese Welt). Kant verteidigt die Unterscheidung dieser beiden Bereiche, bei gleichzeitiger Privilegierung des Transzendentalen, wobei er zugesteht, dass dieses sich auf die Erfahrung beziehen muss, selbst wenn das Transzendentale die Erfahrung orientiert und dominiert. Bei Laruelle ist hingegen das analytische Apriori der wichtigste Bereich, es ist gewissermaßen das Transzendentale und das Reale zugleich. (Die Kriterien des a priori sind Deleuze zufolge Notwendigkeit und Allgemeinheit.) Laruelles Nicht-Philosophie trifft keine genuine Unterscheidung zwischen dem Denken und den Inhalten des Denkens, zwischen Form und Inhalt, noesis und noema oder anderen Dyaden und Differenzen, die in der Philosophie stets in reziproken Relationen herumschwirren. Bei Laruelle verharrt hingegen der kantianisch reale Bereich insoweit im Transzendentalen, wenn es sich um einen transzendentalen Klon handelt. Laruelle hält ausschließlich die Treue zum Realen (als das entscheidende minimum-Transzendentale gedacht), nicht indem die Nicht-Philosophie es exakt abbildet, sondern gemäß seiner Unerreichbarkeit und Unteilbarkeit denkt. Das Reale wird definitiv nicht durch die Frage bestimmt, was es nicht ist.

Laruelle apriorisiert die Welt. Das Reale ist a priori aufgrund seiner Immanenz; wahre Immanenz kann es nur geben, wenn das Reale a priori ist. (Reine Immanenz, definiert als das a, das im a bleibt, erfordert einen Parallelismus, bei dem die beiden Linien Klone von voneinander sind, die eine Dualität konstituieren, obgleich sie durch eine Beziehung der Identität aneinander gebunden bleiben.) Aber auch die Transzendentalien der Philosophie verharren bei Laruelle im a priori, das Subjekt, die Axiomatik und die Theoreme, ja die Nicht-Philosophie selbst. Der einzige Bereich, der a posteriori verbleibt, ist die Philosophie, die regionalen Erkenntnisse und die Wissenschaften, insofern sie den Inhalt der Philosophie ausmachen. Diese Bereiche werden von der Nicht-Philosophie auf reines Material reduziert, sie liefern das empirische Wissen bzw. neue Daten. Es könnte nun bei diesem Gebrauch des a priori eine gewisse Konfusion aufkommen, da hier mit a priori das, was vorher kommt, gedacht und damit wieder eine Relation hergestellt werden könnte, und damit besäße die Relation eine strukturelle Priorität. Folgerichtig muss der Sinn der Relation, der meistens in ihrer Reziprozität besteht, für die Nicht-Philosophie umgestaltet werden, sie muss nämlich als eine unilaterale Relation oder Nicht-Relation gesetzt werden (»In-der-letzten-Instanz« ist immer vom Realen auszugehen). Der Reale verursacht das Multiple, unilateral und irrversibel, und dies ist als transzendental bzw. digital zu vestehen, während das Multiple umgekehrt in einer Beziehung der Analogizität zum Einen steht (analog hier als Integration der Zwei in die Eins). So muss Laruelles Figur der »unilateralen Dualität« verstanden werden: Als unilateral folgt sie der digitalen Unterscheidung, während sie als Dualität der analogen Integration folgt. (Ebd.: 84) Das Eine/Reale ist die Unilateralisation des Prozesses, in gewisser Weise ist es ein Ereignis, das Ereignis der Indifferenz.

Vom Einen/Realen startet man (mittels eines Axioms), man wird es aber niemals erreichen. Die Nicht-Philosophie strebt damit kein reflexives Denken über das Reale an, sondern bestimmt sich als ein Denken gemäß (der Syntax) des Realen, ein Denken, das vom Realen affiziert wird, indem es zumindest die Effekte oder Symptome des Realen zu beschreiben vermag. (Laruelle 1999: 139) An das Reale lässt sich allerdings keine (sprachliche) Bedeutung anheften, es besitzt keinerlei Wahrheit und es besitzt auch keine epistemische Struktur, da es sich weder als das Resultat einer begrifflichen Selbstsetzung erfassen lässt, noch von der Theorie gespiegelt wird. Es kann auf keine ursprüngliche Materie oder auf eine empirische Realität reduziert werden. Es handelt sich beim Realen um eine unilaterale Dualität in Beziehung zum immanenten Einen. Das laruellsche Reale, dessen erster Name das Eine ist, geht mit nichts auf der Welt eine Synthese ein. Laruelle schreibt vom Einen als In-Einem, um zu betonen, dass das Eine nicht in und mit anderen Dingen synthetisiert werden kann. Das Eine kann wie das Geheimnis keiner Hermeneutik unterworfen werden, da es sich für keine Interpretation öffnet. Und wie das Geheimnis muss sich das Eine als Modalität, in der es gegeben ist, zu nichts bekennen, außer dass sich von ihm ausgehend kommunizierten lässt. In diesem Sinne besitzt das Eine keine Löcher und es kann mit nichts anderem im Sinne einer reziproken Relation verlinkt und von nichts anderem ergriffen werden, das vielleicht eine Synthesis herstellen könnte. Wenn bspw. Deleuze/Guattari in Tausend Plateaus die Deterritorialisierung des Gesichts erwähnen, das als ein Teil des Körpers viele Löcher besitzt, dann macht Laruelle etwas anderes: Er lobt die radikale Territorialisierung des Einen. In diesem Sinne handelt es sich beim Einen eher um einen Modus der Hyperterritorialisierung, den nichts durchqueren und mit dem man nicht kommunizieren kann. Laruelles Diskurs setzt folglich mit aller Konsequenz auf das Reale/Eine, das als irreflexiv zu gelten hat und gerade deswegen der transzendentalen Erkenntnis unmittelbar gegeben ist, ohne die (begriffliche) Mediation eines universellen Horizonts durchqueren zu müssen, sei dieser als das Nichts, die Ekstase, die Differenz oder das Universelle ausgelegt. Es lässt sich über das Reale direkt nichts sagen, man kann es nur als ein Axiom setzen. Es ist weder totalisierend noch totalitär, ja vielmehr ist es minimal, es ist die dichteste und irreduzible Quantität der puren Immanenz/Radikalität. Das Reale ist für Laruelle Identität (vom Manigfaltigen) par excellence, die jedoch nichts als singulär ist und gerade deshalb mit vielen Namen belegt werden kann, zuallerest mit dem Einen-im-Einen, der Immanenz des Realen, die von der Unilateralität (Nicht-Reziprozität von Gegenstand und Denken) nicht zu trennen ist. Das Reale besitzt eine gewisse Affinität zum Materialismus, wobei es sich aber auf eine gelebte Materialität und eben nicht auf eine materialistische Position bezieht. Und insofern dann das Reale niemals abstrakt, sondern konkret ist, können gemäß seiner Syntax eine unabgeschlossene Liste von weiteren Namen für das Reale auftauchen, Arbeitskraft, Opfer, Grenze, Ereignis etc.

Auch das begriffliche Paar »analytisch/synthetisch« scheint für die Nicht-Philosophie nur bedingt brauchbar zu sein. Das Synthetische eines Kant, für den das synthetische Urteil eine subjektbezogene additive Eigenschaft enthält (eine Mannigfaltigkeit wird von einer Vorstellung repräsentiert oder gesetzt), wird von Laruelle abgelehnt: Laruelle betont hingegen die nicht-synthetische Natur des Klons (Theorem gemäß dem Realen), die irreversible Logik der unilateralen Dualität bzw. die monolaterale Natur der Determination-in-der-letzten-Instanz. Alles geht vom Realen aus, das in der generischen Wissenschaft in-der-letzten-Instanz durch die determinierenden (exakter: unter-determinierende) Prinzipien der Superposition, der Nicht-Kommutativität und der Idempotenz gedacht werden soll. Idempotenz geht stets von der operatorischen Mannigfaltigkeit hin zum Selben des Idem-.
Das Analytische, das Kant als das Urteil definiert, das keine Eigenschaft besitzt, die nicht schon vom Subjekt gewusst wird, wäre für die Nicht-Philosophie zunächst auch nur bedingt anwendbar. Das Eine ist nämlich weder als ein Urteil noch als ein Konzept zu verstehen, und es ist auch nicht das Objekt eines Urteils oder eines Konzepts – es ist radikal abgeschlossen und immanent real und kann deshalb das Subjekt einer Proposition keinesfalls konstituieren. Im strengen Sinne können deshalb keine analytischen Urteile über das Eine gefällt werden. In einem anderem Sinn ist jedoch die Laruelle`sche Nicht-Philosophie als analytisch aufzufassen: Laruelle verordnet nämlich das nicht-philosophische Denken nicht in erster Linie in der Differenz, sondern in der Identität, die hier aus dem Lateinischen abgeleitet »dasselbe« meint, das heißt sich auf Gemeinsamkeit bezieht.2 Dafür benötigt es jedoch heterogene Elemente, die ähnlich wie die Wespe und die Orchidee (Deleuze/Guattari) nur an der Schwelle ihrer Verkopplung zu einer wahren Identität finden.

Wie uns Kant erinnert, sind die beiden Pole des analytischen Denkens identisch (n=n) und widersprüchlich (n ist nicht n). Der Widerspruch spielt allerdings in Laruelles Nicht-Philosophie keine Rolle, aber der Term »Identität« ist für ihn essenziell und das macht eine gewisse Nähe zum Analytischen aus. Laruelle spricht, wenn er vom Einen spricht, von Vision-in-One, um anzuzeigen, dass das Eine mit nichts verlinkt werden kann als mit sich selbst. Selbst noch das flüchtigste Verständnis der Vision-in-One zeigt das Analytische an, allerdings in einer unilateralisierten Version, die sich von Kants Analytik radikal unterscheidet. Vision-in-One bezieht sich nicht auf die Bedingungen einer ontologischen Differenz (Eines/Anderer), sondern auf Immanenz und Identität. Der Ausdruck Eines-in-Einem wäre daher radikal analytisch zu verstehen. Laruelles Denken denkt im Einen und verbleibt im-Einen, i. e. Nicht-Philosophie besteht auf dem Einen-im-Einen oder dem Einen-ohne-Sein und a forteriori ohne-Seiendes; das Eine ist radikal nicht gemixt und nichts weiter sagt die undulatorische Superposition aus (Überlagerung). (Laruelle 2013a: 112) Das mag man als einen extremen Formalismus oder Rationalismus begreifen, aber es handelt sich bei Laruelle eher um einen gnostischen Rationalismus, mit dem er das a priori so weit wie möglich öffnen will. Laruelle widersteht dem Synthetischen, wie wir es bei Kant vorfinden, und injziert der Nicht-Philosophie scheinbar das Analytische. Laruelle betont jedoch auch sofort, dass die algebraischen Operationen der Superposition, Addition und Idempotenz weder als synthetisch noch als analytisch im klassischen Sinne zu verstehen sind, vielmehr als »Prinzipien« der offenen Analyse und/oder als nicht-abgeschlossene Synthese zu verweden sind (synthetisch-ohne-Synthetisierung). (Laruelle 2014: 148) Laruelle scheint hier Fichte definitiv näher als Kant zu stehen. Fichtes Ich=Ich wird hier als die Überlagerung des Ich mit sich selbst und dem Nicht-Ich begriffen. Die Figur beinhaltet, auf das Eine übertragen, das Eine-und-Dasselbe. A ist A, was so gelesen werden muss: A ist es selbst, was immer es auch ist. Die immanente Identität des Einen beinhaltet für Laruelle keine bloße Tautologie, sondern sie ratifiziert das Gesetz der Identität, das notwendig ist, um zur radikalen Identität (Eines-in-Einem) zu gelangen.3

Unter dem Gesichtspunkt der Unilateralität (das Reale als Ausgangspunkt) ist die Nicht-Philosophie definitiv nicht synthetisch, insofern sie sich von allen synthetischen Logiken der Rekombination, dialektischer Widerspruch, Mischung, Differenz, Hybridität etc. radikal absetzt. Das unilaterale Axiom versteht Laruelle als eine immanente Wellenfunktion oder Amplitude, als ein konzeptuelles Partikel, das sich rein am Unilateralen orientiert. Laruelle bezeichnet es auch als das Oraxiom, das die Superposition von axiomatischer und philosophischer Entscheidung beinhaltet, eine Quantum-Superposition, die Konzepte und ihre Effekte nachhaltig gemäß ihrer Objekte transformiert. (Laruelle 2013a: 122) In einem leichteren Sinn könnte man die Nicht-Philosophie allerdings auch als synthetisch beschreiben, oder exakter in Laruelles Begrifflichkeit zumindest als Synthesis-ohne-Synthetisierung, nämlich aufgrund der Art und Weise, wie die Nicht-Philosophie nicht-philosophische Axiome aus den diversen philosophischen Mixturen der Philosophen zieht. Die verschiedenen philosophischen Dualismen wie Sein/Anderer, Sein/Seiendes, Eines/Anderer etc. werden nämlich in eine unilaterale Beziehung zum Realen gesetzt. Dabei kommt es Laruelle nicht darauf an, die philosophischen Dyaden zu dekonstruieren, sondern er lässt sie gewissermaßen als Daten intakt. So erscheint die Nicht-Philosophie minimal synthetisch. Laruelle würde jedoch diese Transformation als nicht-additiv bezeichnen, da der Prozess des Klonens von philosophischen Daten niemals eine reziproke Mixtur zwischen Nicht-Philosophie und Philosophie im strengen Sinne produziert. Der generische Prozess produziert einen Klon, der in die transzendentale Identität des Einen integriert wird, in die nicht-philosophische Welt, die der Unilateralisation durch das Reale untersteht. Unilateralisation verweist hier keinesfalls auf eine leere Tafel, sondern auf eine Redistribution des Realen, und zwar als eine Unmöglichkeit, welche die Realität unter-determiniert oder sie abschwächt. Einerseits werden die philosophischen Dualitäten in der Nicht-Philosophie nach wie vor als aprioris behandelt, anderserseits sind sie aber auf Daten reduziert, die geklont werden müssen, und somit erhält die Philosophie doch den Status des a posteriori. Wenn auch die Philosophie für sich selbst weiterhin ein a priori behauptet, so wird sie für die Nicht-Philosophie nur als a posteriori redupliziert. Es überlebt in der Nicht-Philosophie letztendlich das a priori, weil das Eine radikal apriorisch ist, und zwar als das Priore-ohne-Priorität, wobei die Nicht-Philosophie als a priori aufzufassen ist, insofern sie den a priori-Status des Einen klont. Aber dies bedeutet keineswegs, dass die Nicht-Philosophie das Anfängliche, den Ursprung oder das Bevor bevorzugt. Vielmehr bleibt die Nicht-Philosophie im Bereich des Letzten angesiedelt, was darin zum Ausdruck kommt, dass sie in-der-letzten-Instanz auf das Eine verwiesen bleibt. In gewissem Sinne enthüllt sich hier eine bizarre Logik, insofern die Nicht-Philosophie doch gleichzeitig a priori und a posteriori ist, und dies ähnelt Deleuzes Konzept der metastabilen Virtualität. Die Nicht-Philosophie schwitzt einerseits das a priori aus, andererseits ist sie a posteriori, insofern sie durch das Reale determiniert wird.

Adorno und Laruelle
Adorno spricht in der Negativen Dialektik davon, dass das »Nichtidentische die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikationen« (Adorno 1997: 164) sei. Die Erkenntnis des Nichtidentischen identifiziert vollkommen anders als das identifizierende Denken, sie betont zu sagen, was etwas sei, während das identifizierende Denken sich als Repräsentation des Etwas aufspielt, das nun zum Exemplar verdampft. Und je weiter sich das Identitätsdenken von der Identität des Dings entfernt, desto rücksichtsloser rückt es ihm auf den Pelz, so schreibt Adorno. (Ebd.: 112) Mithin ist der repräsentationslogische Glaube an die Macht der Sprache, welche die Dinge angeblich widerspiegelt oder sie gar erfasst, das metaphysische Substrat aller Philosophien. Adorno macht hingegen ein Etwas stark, das es aufseiten des Daseins gibt und das selbst der Dialektik noch äußerlich bleibt, er postuliert die Vorgängigkeit von Dingen bzw. Objekten. So muss auch der Versuch, die Identifikationslogik des Kapitals in Form einer immanenten Kritik überwinden zu wollen scheitern, weil die Kritik hier genau mit der Affirmation der Positivität beginnen muss, die Adorno doch zu überwinden trachtet, indem er zeigt, wie diese Positivität (des Kapitals) immer schon am Nicht-Identischen gebrochen wird. Das Nicht-Identische kann gerade nicht als eine aus der immanenten Bewegung des Begriffs (des Kapitals) entstehende Grenze bestimmt werden, vielmehr stellt es eine Markierung dessen dar, was gerade nicht in die immanente Bewegung des Begriffes hineinfällt oder von ihr aufgesaugt wird. Adornos Negative Dialektik ist der Versuch, den Gedanken in reale Bereiche hineinzutreiben, aber nicht um das Reale/Realität zu subsumieren oder einzugemeinden, sondern um ein wie immer geartetes »Miteinander des Verschiedenen« (das Denken und das Reale) zu erreichen. Darin berührt sie sich für einen Moment mit Laruelles Konzeption des Realen.

Heute überlappt sich der postmoderne Optimismus mit dem neoliberalen Optimismus, und dies bezüglich der unaufhörlichen Predigt vom Unerschöpflichen, den nicht enden wollenden Möglichkeiten der Möglichkeiten. Dabei ist beiden Optimismen ein futuristischer Fundamentalismus gemeinsam, der im Bann des Negativen und des Unendlichen steht. Schon Kroker/Weinsein sprechen von der Endlosigkeit (im Gegensatz zum quantentheoretischen Unbestimmtem, Unendlichen) als der postmodernen Ideologie per se. Sie schreiben: »Ich könnte für immer hier bleiben und mir dir weiter reden. Das ist die Einstellung jener Leute, die bei Mc Donald`s herumhängen: die ideale Sprechgemeinschaft, die es bereits gibt, aber von der Kritischen Theorie übersehen wurde.« (Kroker/Weinstein 1996: 65) Es wird hier natürlich auf Habermas angespielt. In der Figur der Endlosigkeit west die Vorstellung, dass das angeblich Übergeschichtliche der bürgerlichen Gesellschaft das Ewige sei. Hegel hatte das allerdings schon anders akzentuiert, wenn er schreibt, dass das Unendliche die Bewegung des Überschreitens des Endlichen sei, wobei gegen Hegel einzuwenden wäre, dass dieses Überschreiten nicht zwingend ewig sein muss. In diesem Kontext sind sämtliche Überlegungen bezüglich der flexiblen und instabilen Natur des postmetaphysischen Subjekts als eine stabilisierende Geste angesichts der Ungewissheit und deren Bearbeitung mit der Wahrscheinlichkeit zu verstehen (eine Geste, die in den letzten Jahren den Aufstieg des Prekariats begleitet hat). Marx wusste hingegen von einem Nicht-Identischen, das er als einen nicht-aufgehenden Rest außerhalb der Arbeit bezeichnet, um ihn zugleich an die Person des Arbeiters zu binden, der noch etwas außer seiner (flexiblen) Arbeit für sich selbst ist. Schärfer formuliert es Laruelle: Das Humane-im-Humanen, das radikal Fremde im Humanen ist eine prä-linguistische Humanität, und dieses Fremde ist und bleibt ein Gelebtes, das noch jeder Entscheidung vorangeht, jeder Forderung nach dem setzenden Gedanken der Philosophie oder dem Befehl im kapitalistischen System. Das Humane-im-Humanen ist eine Instanz des Realen.

Laruelle konzipiert die Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Transzendentalen (Sprache, Theorie), wie wir schon gesehen haben, nicht als einen Split, der eine Dualität konstituiert, sondern er versucht sie mit dem Term der Unilateralität zu denken. Die Setzung der Unilateralität beinhaltet eine nicht-relative bzw. nicht-relationalistische Relation der Differenz. Hier geht es immer nur in eine Richtung, vom Realen in die Gedankenwelt. Und Unilateralität beinhaltet Setzung als eine Singularität, als ein radikal einsamer Akt der unilateralen Selbst-Differenziation. Das Konzept der Unilateralität kann hier im Zusammenhang mit Deleuzes Diktum der »unilateralen« Differenz (n=1) gelesen werden, die stets singulär und ein unrelationierter Akt der Affirmation ist, ein schieres Ja. Eine autoreferenzielle Affirmation, die zu endloser Wiederholung verdammt ist.

Der Modus der unilateralen Differenziation beinhaltet zwei theoretische Figuren, mit denen die Nicht-Philosophie auf das Reale bezogen ist und sie zugleich als ein radikal nicht-dichotomisches Denken ausgewiesen wird. Es handelt sich hier zum einen um die immanente Prozedur der von Laruelle als »Dualysis« bezeichneten Denkweise, die in der radikalen Affirmation des Transzendentalen und des Realen besteht, ohne den Versuch der Synthetisierung oder der Spaltung der beiden Terme vorzunehmen, also in einer Dualysis, in der jeder der Terme unilateral mit dem anderen korreliert (unter der Dominanz des Realen in-der-letzten-Instanz). Dualität hingegen impliziert immer Dualismus, der in der Vermutung besteht, dass es keine Möglichkeit gibt, die Zwei jenseits der Relation von Zweien zu denken. Wenn man jedoch bedenkt, dass die Zwei keine Teilung oder den Binarismus impliziert, dass die in ihre enthaltene Simultaneität keine Exklusion des einen durch den anderen Term bedeutet, dann ist das nicht-philosophische Denken defintiv jenseits der Dualität situiert. Das Denken jenseits der Relation und des Relationismus muss die Singularität verteidigen, i. e. die Realität einer bestimmten Relation wird in ihrer singulären Positivität begriffen. Nicht-Philosophie kann sich nur auf die Instanz der Eins-heit beziehen. Ein nicht-dichotomes Denken ist im Einen lokalisiert und durch es konstituiert; das Eine als dem ersten Namen des Realen. Ein anderer Name für das Reale ist das Ereignis.

Das nicht-philosophische Denken in Singularitäten eröffnet die Vorstellung der irreflexiven Unilateralität, die sich je schon im Stadium der infiniten Reiteration befindet. Dies ist möglich, wenn die Nicht-Philosophie das philosophische Material de-organisiert, es auf ein minimum-transzendentales Material reduziert oder es zu einer philosophischen Chora umgestaltet. Als radikales Konzept muss die Chora mit dem Realen in einer immanenten Weise korrelieren, viel eher als mit dem konzeptuellen Apparat einer Denkschule. Als Nichteinholbares erhält das Reale immer dieselbe Bedeutung, nämlich die Bedeutung identisch mit sich selbst (A=A) zu sein und somit kann qua Realem aus der Welt nichts emergieren, womit das Reale auf ewig in unveränderbaren Begriffen eingefroren bleibt.

Generische Wissenschaft
Während die Nicht-Philosophie die Aussagen der Philosophie auf den Modus des Materials (ohne Subjekt) reduziert, dienen ihr Teile der positiven Wissenschaften als modifizierbare Modelle zur Konstruktion einer generischen Wissenschaft, sodass beide Bereiche – Wissenschaft und Philosophie – in eine generische Phase eintreten können, um schließlich Theoreme zu produzieren, die auf eine superpositionale Art und Weise (Überlagerung im Rahmen einer nicht dialektischen, weil nicht synthetischen Form der Einheit) wissenschaftlich-und-philosophisch sind. Dabei begreift Laruelle das Generische seiner »Philo-Fiction« als einen neuen Typus des Virtuellen, der aber keine identifikatorischen Aktualisierungen nach sich zieht, vielmehr verteilen sich die Entitäten in einem neuen virtuellen Raum. Das Generische wird hier im Modus der Subtraktion angesiedelt, dem, was sich den herrschenden Identifikationen und Repräsentationen verweigert. In diesem Kontext wird dann auch verständlich, dass das Reale/Eine als eine Nicht-Welt zu verstehen ist, insoern es keine Eigenschaften besitzt. Die Nicht-Philosophie behauptet sich als eine in die Wissenschaften und Philosophie intervenierende generische Wissenschaft, die in die begrifflichen Aussagensysteme der Wissenschaften und der Philosophie immer als eine Fremde bzw. Nicht-Fachspezifische (sie verweigert sich dem Austausch) eintritt, um in der Folge dort Modifikationen und Umbrüche vorzuschlagen, im Zuge derer erst die Objekte einer generischen Wissenschaft artikuliert werden können. Somit stellt die Intervention der generischen Wissenschaft keineswegs eine neutrale Vermittlung zwischen Philosophie und Wissenschaft her, vielmehr strebt sie gerade die Möglichkeit einer Dualität der beiden Bereiche ohne die Herstellung einer Einheit in der Synthese an, und zwar in einem Milieu, das keine Vermittlung zwischen den zwei Bereichen kennt, sondern das selbst eine unilaterale Entität darstellt, die eben nur eine einzige Dimension aufweist, namlich die Beschreibungen der generischen Wissenschaft gemäß dem Realen.

Die generische Wissenschaft hat nun selbst eine Methode zu entwickeln, um eine Superposition (Überlagerung) von Wissenschaft und Philosophie zu produzieren, wobei die Ergebnisse dieser methodischen Operation geregelte, nachvollziehbare und »richtige« Transformationen (Äußerungen) des wissenschaftlichen und des philosophischen Aussagematerials implizieren. (Laruelle 2010b: 262) Laruelle erfindet in seinen Schriften, die der fünften Phase der Nicht-Philosophie zuzurechnen sind, zunächst drei Prinzipien – Superposition, Nicht-Kommutativität und Idempotenz –, mit denen selbst noch die nicht-philosophischen Begriffe einer Determination-in-letzter-Instanz durch die Funktionen einer (generischen) Wissenschaft unterworfen werden sollen. (Ebd.)4 Das Prinzip der Superposition beinhaltet die Annahme der radikalen Immanenz. Laruelles unilaterale Logik geht nicht davon aus, dass zwei Terme durch einen dritten Term synthetisiert werden, sondern durch den ersten Term determiniert werden. Oder um es anders zu sagen, der zweite Term und die Relation zwischen dem ersten und dem zweiten Term sind immanent in Beziehung zum ersten Term. Der zweiter Term ist der unilaterale Klon des ersten Terms. Nicht-Kommutativität bleibt bezogen auf die Figur der Determination-in-der-letzten Instanz und Idempotenz ist eine quasi-mathematische Regel, mit der man die Überlagerung zweier Wellen in einer einzigen beschreibt (1+1=1). Idempotenz ist jedoch keinesfalls als das addierte Eine oder als die Multplikation der Einheit der Zahl zu verstehen, sondern sie ist dasselbe: Eins + Eins=Eins. Dabei behandelt Laruelle die drei Prinzipien weder als Prinzipien einer ersten Philosophie noch als positive Prinzipien der Mathematik, sondern als in-der-letzten-Instanz determinierende (exakter unter-determinierende, weil rein formale) Bedingungen, die das Reale ausdrücken. Die generische Wissenschaft hat letztendlich komplexer als ihre Materialien aus der Wissenschaft und der Philosophie zu sein, wenn sie ihre eigene theoretische Praxis entwickeln, das heißt, eine Relation zwischen Wissenschaften und Philosophie in der Immanenz einer »logischen« Verbindung herstellen will, die Laruelle »unilaterale Dualitat« nennt.

In der fünften Phase der Nicht-Philosophie mobilisiert Laruelle für diese Art der theoretischen Praxis also eine Reihe von Modellen aus der Quantenphysik, bei denen er allerdings von ihrer mathematischen Artikulation absieht. Laruelle konzipiert eine Vektor- und/oder eine Welle-Teilchen-Dimension von Begriffen – Quantenphänomene, die stets eine virtuelle Dimension besitzen, insofern sie nicht auf die Realität, sondern auf das immanente Reale bezogen bleiben; die Prinzipien der Superposition, der Nicht-Kommutativitat und der Idempotenz sollen zumindest Beschreibungen gemäß des Realen ermöglichen (Ebd.: 141) Demzufolge beschreibt die generische Wissenschaft eine »Quantenphysik« makroskopischer Objekte, zu denen Laruelle auch die Nicht-Philosophie zählt.

Ihre Methode besteht weiterhin darin, aus den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen oder den Philosophien eine Minimum-Invariante zu extrahieren, wie etwa die imaginäre Zahl in der Analysis, die Welle in der Quantenphysik, das Transzendentale in der Philosophie, das Kapital in der Ökonomie etc., um diese Invarianten zu superponieren, das heißt als Gegebenheiten in die Superposition einzuführen. Anders gesagt, es gilt die Materialien der Wissenschaften in einen »materialen Formalismus« zu übersetzen, sie wie Vektoren in den Zustand der Superposition zu versetzen, in den Kontext der generischen Wissenschaft. In der Quantenphysik indexiert man die vektoriale Dimension mit den imaginären Zahlen (Vektoren mit einem real- und einem Imaginärteil). Hier beeilt sich Laruelle darauf hinzuweisen, dass in der generischen Matrix (im Sinne eines Rhizoms) die Variablen eher als Begriffe oder Prinzipien denn als (imaginäre) Zahlen zu verstehen sind, sodass von einer komplexen oder imaginären Funktion von Begriffen auszugehen wäre. (Laruelle 2014: 159) Der Vektor zeichnet sich durch die Operationen der Überlagerung und der Addition aus, die nicht auf ein abgeschlossenes Ganzes drängen, sondern immer nur unabgeschlossene Summierungen hervorbringen. Entscheidend bleibt hier die unilaterale Dimension des Vektors oder der Welle (Immanenz der Relationen als Uni-Lation; ebd.: 158), wobei zugleich das Partikel im wellenförmigen Fluss als Klon gesichert wird, in einer wellenförmigen Erhebung, die die transzendental-empirische Dublette oder den ewigen Kreis der Zeit außer Kraft setzt. Letztendlich werden sowohl Analyse als auch Synthese durch die Methode der unilateralen Dualysis ersetzt.

Das Eine ist das endliche a priori des Realen. Für eine begriffliche, nicht-dialektische Bestimmung des Kapitals könnte dies heißen, das Kapital als eine radikal unilaterale »Logik« zu begreifen, bei der zwei Terme nicht durch einen dritten Term (abstrakte Arbeit) vereinheitlicht werden, sondern durch den ersten Term (Geld als Kapital) determiniert werden. Der beiden Terme (der zweite Term ist eine Ware, Produktion, Arbeitskraft etc.) und die Relation Geld-Ware-Geld` sind dem ersten Term (Kapital) immanent. Der zweite Term ist immer schon ein unilateraler Klon des ersten Terms, was nichts anderes bedeutet, als dass man je schon von einer monetären Werttheorie bzw. Kapitaltheorie auszugehen hat. Und dies als Determination-in-der-letzten-Instanz, sodass das Kapital a priori als Gesamtkapital zu denken ist (und nicht vom individuellen Kapital auszugehen ist). Und dem Begriff des Kapitals wäre das Mathem des Kapitals hinzuzufügen, das heißt das (begriffliche) Kapital und sein ökonomisches Mathem (Differenzkalküle) wäre auch zu superponieren. Die vektoriale Dimension des Kapitals wird also durch das Mathem der Ökonomie komplementiert.

1) Laruelle zit. nach: http://bebereignis.blogspot.de/2010/02/something-banned-brassier-and-laruelle.html . Zugriff: 12.3.2013.

2) Sämtlichen Differenzdenkern unterstellt Laruelle folgendes Modell: Die Differenz zwischen ontologisch/ontisch wird mit der reinen Differenz supplementiert. Die erste Differenz enthält eine Bifurkation in zwei komplementäre Oppositionen – Syntax und Realität –, die zusammen einen Chiasmus bilden, wobei jede Seite intern durch den Chiasmus in seiner eigenen Art und Weise problematisiert wird. (Gangle 2013: 43) 

3) Das Reale ist das wichtigste transzendentale Axiom, das Laruelle setzt. Es gibt nicht Schickeres in der philosophischen Moderne als das Reale als Ausdruck des Denkens zu konzipieren, und wenn einmal umgekehrt das Reale als Primäres gedacht wird, dann schreibt man es wieder in eine Transzendenz ein, die reziprok durch das Denken determiniert ist. Jedoch lässt sich für Laruelle keine Ontik oder Ontologie, kein Effekt, kein Leben oder ein sonstiges Objekt-Subjekt in das Reale als seine Essenz infiltrieren, vielmehr zeigt die Immanenz des Realen an, dass es selbst nichts als Axiome oder Beschreibungen toleriert. Das Gegebene in seinem radikalen Sinn ist immanent in sich selbst und gibt keinerlei Anlass zur Konstruktion eines Objekts für das Wissen, sodass mit der Figur Gegeben-ohne-Gegebensein je schon die Verschlossenheit des Realen gegenüber jeder philosophischen Operation, die zur Herstellung des Gegeben-Seins dienen könnte, ausgewiesen ist. Damit ist für Laruelle klar, dass das Reale in ontologischer Hinsicht auf ewig inkonsistent bleibt. Die Identifikation des Realen mit dem Sein erscheint wirklich als das Verhängnis der Ontologie.
[Mit einer ganz anderen Intention hält übrigens Adorno an der Idiosynkrasie des Philosophen gegenüber der Ontologie fest, insofern man mit dem identifizierenden Denken immer das Schlechte festschreibt und damit das Ende des philosophischen Denkens einläutet, das heißt ihm seinen virtuellen Charakter nimmt. (Vgl. Adorno 1997: 275) Auch Günther Anders geht mit Adorno davon aus, dass der Ontologie unabdingbar Seinsidentität eingeschrieben ist, aber diese Identität längst den Zeitmodus des Futur 2 erreicht hat, die Zeit des Gewesen-Seins. Somit ist Anders zufolge auch die Leistungsfähigkeit einer phänomenologischen Ontologie à la Heidegger längst an ihre Grenzen gestoßen (vgl. Anders 1980).]
Das Reale ist Laruelle zufolge das »Phänomen« in sich selbst; man sollte es in seiner Verschlossenheit und Indifferenz gerade nicht durch die transzendentale Synthesis (vor)gegeben verstehen, vielmehr zeigt das Reale sich immer schon als manifest-ohne-Manifestation an, und zugleich ist das Reale das, was sich unserer immer schon bemächtigt hat, womit es keineswegs als ein Datum oder ein Faktum zu verstehen ist, das wir vielleicht glauben durch verschiedene Funktionsweisen der Philosophie/Wissenschaft erfassen zu können. Damit ist das Reale vor jeder Kognition und/oder Intuition gegeben. (Vgl. Laruelle 2013f: 41-50). Als gegeben-ohne-Gegebensein fordert das Reale zu keinerlei reflexiven Aussagen auf oder gar zur Selbstreflexion heraus. Das Reale entzieht sich der Bedeutung, es kann nicht als die Wahrheit von Etwas gelten und es besitzt keinerlei epistemische Struktur – insofern wird es weder von irgendwelchen Erkenntnissen erfasst noch spiegelt es dieselben. Hingegen ist Bedeutung als je schon bedingtes Phänomen von bedeutungslosen, aber bis zu einem gewissen Maß durchaus begrifflich denkbaren Reproduktionen in der Realität (in Absetzung vom Realen) abhängig, die sowohl über die sozio-ökonomische Ebene als auch über die Bahnungen des Neurologischen wirksam werden. (Vgl. Brassier 2013: 141) Schließlich existiert das Reale in seiner opaken Irreduzibilität ungeteilt oder ohne jeden Riss vor jeder transzendenten Einheit oder Identität, welche in der philosophischen Tradition zwar auch als ungeteilt gelten mag, wobei man aber stets die (begriffliche) Identität voraussetzt, um die reziproke transzendentale Synthese zwischen Empirie und Metaphysik herzustellen. (Vgl. Laruelle 2013e: 76f.) 

4) Die Superpostion ist in der Quantenphysik ein Feature des Verhaltens der materiellen Wellen als der Quantelung der Welt. Die Quantenwelt besteht aus diskreten Zuständen, wie etwa den Photonen. Das Licht ist demnach kein kontinuierlicher Strahl oder eine sich kontinuierlich ausbreitende Welle, sondern es besteht aus kleinsten Teilchen, die sich allerdings wie Wellen verhalten. Somit ist das Licht beides gleichzeitig: Teilchen und Welle. Ein Photon, das einen Filter passieren kann, ist zunächst in einem Gesamtzustand, in dem sich die beiden Möglichkeiten, den Filter zu passieren oder nicht, wie zwei Wellen überlagern, das heißt es befindet sich in einer Superposition. Erst durch eine Messung entscheidet sich, ob ein Photon durch den Filter gelangt ist. Solange nicht gemessen wird, verharrt das Photon in seinem verschränkten Zustand, gleichzeitig also durch und nicht durch zu sein. ) 

Literatur:
Adorno, Theodor (1997): Negative Dialektik. Frankfurt/Main
Anders, Günther (1980): Die Antiquiertheit des Menschen 2. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München.
Badiou, Alain (2005): Das Sein und das Ereignis. Zürich/Berlin.
Brassier, Ray (2007): Nihil Unbound: Enlightement and Extinction: Naturalism and Anti-phenomenological Realism. Hampshire.
– (2013): Begriffe und Gegenstände. In: Avanessian, Armen (Hg.): Realismus Jetzt. Berlin, 137-183.
Galloway. Alexander (2014): Laruelle: Against The Digital. Minnesota.
Gangle, Rocco: François Laruelles Philosophies of Diffference: A critical Introduction and Guide. Edinburgh.
Kroker, Arthur/ Weinstein, Michael A. (1996) : Datenmüll. Theorie der virtuellen Klasse. Wien
Laruelle, François (1979): La Transvalu.ation de la methode transcendentale. Bulletin de la societe francaise de philosophie 73.
– (1999): A Summary of Non–Philosophy. In: Pli. The Warwick Journal of Philosophy. Vol. 8. Philosophies of Nature.
– (2000): Introduction au non-marxism. Paris.
– (2003): What can Non–Philosophy do? In:
http://de.scribd.com/doc/20244479/Laruelle-What-Can-Non-Philosophy-Do
– (2010a): Philosophies of Difference. A critical Introduction to Non–philosophy. New York.
– (2010b): Philosophie non-standard. Générique, quantique, philo-fictio. Paris
– (2013a): Anti–Badiou: On the Introduction of Maoism into Philosophy, Bloomsburg.
– (2013b): A New Presentation of Non–Philosophy. In:
http://www.onphi.net/texte-a-new-presentation-of-non-philosophy-32.html
– (2013c): Das Reale gegen den Materialismus: In: Avanessian, Armen (Hg.): Realismus Jetzt. Berlin.
– (2013 d): The principles of Non-Philosophy. New York.
– (2013e): Dictionary of Non-Philosophy. In: http://monoskop.org/images/2/2b/Laruelle_Francois_Dictionary_of_Non-Philosophy.pdf
(2013 f): Philosophy and Non-Philosophy. Minneapolis.
– (2014): Non-Photographie/Photo-Fiktion. Berlin.

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