Laruelles verrückte Syntax

Vielleicht ist es François Laruelle, der in heutigen Zeiten den originellsten und den exzentrischsten Flavour im Marxismus besitzt. “Introduction to Non-Marxism” (Univocal, 2015) ist die Übersetzung eines vor fünfzehn Jahren geschriebenen Buches, das ein ziemlich eindrucksvolles neues Kapitel im Anhang enthält. Die Welt scheint nun endlich für ihn bereit zu sein. Hier einige vorläufige Gedanken dazu. Im Vergleich zu Laruelle ging ich in Molecular Red  in eine deutlich andere Richtung, aber lasst uns dennoch einen vorläufigen Blick auf das werfen, was der Entscheidung eine andere Richtung eingeschlagen zu haben zu Grunde gelegen haben mag.

Wo Althusser noch versucht hatte, einen Pfahl durch die hegelianischen Lektüren von Marx zu treiben, da treibt Laruelle einen Pfahl durch diesen Pfahl, indem er sich jeder philosophischen Interpretation von Marx in toto verweigert. Er wendet sich sowohl von den hegelianischen als auch den spinozistischen Supplementen zur Marx`schen Theorie ab. Laruelle: “Folding Spinoza (rather than Hegel) into Marx allows us to gain… the Real and its causality, the refusal of origin and end, refusal of ontological causality, but this gain is neither radical nor ‘complete’…” (77)

Marx muss nicht durch irgendeine Philosophie supplementiert werden. Im Gegenteil, sein theoretischer Kern ist der Philosophie völlig fremd und auf sie irreduzibel. Es ist Laruelles Ziel, die philosophische Komponente des Marxismus zu reduzieren.  Laruelle beginnt mit einer Aufhebung von nutzlosen Prämissen, wobei für ihn das keineswegs – nein, leider nicht – eine „Regression“ hin zum Vulgärmarxismus bedeutet. Zumindest aber “erspart sie uns den scheußlichen Zirkel eines auf sich selbst bezogenen Marxismus, der mit der heimlichen Hilfe der Philosophie rechnet.” (3)

Laruelle bricht auf, seinen Nicht-Marxismus zu konstruieren, indem er sowohl den Kapitalismus als auch die Philosophie als dessen Objekte versteht, die zusammen eine Welt konstituieren. Das zentrale Konzept des Nicht-Marxismus ist “Determination in der letzten Instanz” (DLI), das Althusser von Engels ausgeliehen hat und das bei Laruelle seine radikalste Ausformulierung findet. “Alone, without the dialectic, DLI forms the identity of the scientific and the philosophical.” (7) Es meint nicht länger Determination durch das Ökonomische oder Materielle, sondern durch das Reale.

Materialismus ist für Laruelle eine halbherzige Philosophie, wie er dies übrigens auch für Bogdanov gewesen war, aber wo Bogdanov noch dafür optiert, einen Marxismus unter dem Gesichtspunkt der Arbeit zu entwickeln, da steuert Laruelle in die entgegengesetzte Richtung und substituiert Materialismus durch die gedankliche Figur eines immanent Realen. Beides verhält sich kritisch zur materialistischen Philosophie, insoweit bei ihr “Materie und Denken, Sein und Bewusstsein fortfahren, sich gegenseitig reziprok innerhalb einer allumfassenden Philosophie zu determinieren …” (9)

Dies zeigt sich ansatzweise auch in den Versuchen, eine dialektisch materialistische Philosophie über die Marx`sche historisch materialistische Praxis der Wissensproduktion zu stülpen. Althusser und Zizek reduzieren die letztere auf die erstere, und machen aus dem Dialektischen Materialismus eine Philosophie des Materialismus ohne Materie, oder eine, die lediglich ein Konzept von Materie hat. Aber Laruelle besteht auf einem gegenläufigen Schachzug, um sich von den philosophischen Überwucherungen des historischen Materialismus abzusetzen. Seine Lösung ist das Reale ohne Philosophie.

Es mag dann wohl zwei Pfade geben. Bogdanovs „low theory“ verzichtet auf die Philosophie als einen Gesetzgeber, der eine Praktik für die Organisation des Wissens liefert, wobei „low theory“ als ein Reservoir von Metaphern fungiert, die zwischen verschiedenen Felder übertragen und im Kontext der Erfahrung getestet werden, während sie genau darauf achtet, welche Metaphern im Gebrauch sind, um schließlich diejenigen der gemeinschaftlichen Arbeit zu bevorzugen. Dies ist Bogdanov’s Tektologie; sie enthält eine recht genaue Beschreibung von Donna Haraways Praktiken.

Laruelles Schachzug ist genau der umgekehrte: Es gibt da einen „high theory“ Pfad, der über die Philosophie hinweg und hinaus führt. Interessanter Weise enthält der Pfad ein Element Bogdanovs, auf das Alexander Galloway hingewiesen hat: Laruelle sieht die Philosophie in der metaphorischen Welt der Austauschrelationen gefangen. Es gibt immer ein Geschäft, egal ob Dialektik oder Differenz, mit der das Reale ins Spiel gebracht werden kann. Laruelle verweigert hingegen jeden Austausch mit dem Realen, wobei er dem Realen dennoch nicht den Status des Absoluten gibt.

Eine andere Art das zu denken besteht darin, dass Laruelle sich weigert, die Philosophie den Wissenschaften unterzuordnen oder vice-versa. Dialektischer Materialismus ist keine reine Philosophie; Historischer Materialismus funktioniert nicht als eine reine Wissenschaft. Beide Theorien sind ineinander verstrickt. Deshalb ist es kaum möglich, die Philosophie vom Historischen Materialismus abzuziehen, und selbst wenn verschiedene marxistische Philosophien, egal ob sie sich selbst dem Dialektischen Materialismus zuordnen oder nicht, versucht haben, den Gesetzgeber hinsichtlich dessen zu spielen, was gut für die Wissenschaften ist, hat keine von ihnen Erfolg gehabt. Laruelle würde den Marxismus eher als ein weiteres Genre bezeichnen, eines, das eine radikale Vereinheitlichung der Philosophie und der Wissenschaften unter dem Primat der Determination in der letzten Instanz von Philosophie und Wissenschaft durch das Reale postuliert.

Laruelle: “… philosophy on the whole is in a posture that is excessively ambitious in relation to reality.” Sie impliziert den Wunsch, das Reale gemäß dem funktionieren zu lassen, was Laruelle an anderer Stelle scherzend das Prinzip der suffizienten Philosophie nennt: Es gibt nichts, was aus der Perspektive der Philosophie nicht gedacht werden kann. Laruelle glaubt, dass der Fehler des Marxismus keineswegs in einem schlechten Konzept oder einem schlechten Resultat besteht, sondern in der Affirmation des Wunsches, das Reale zu denken, als ob es etwas wäre, mit dem das Denken einen Handel treiben könnte.

Laruelle: “there is nothing to actualize in Marx: his failure is his relevance.” Es geht um die Frage der Radikalisierung seiner eigenen Kategorien, im speziellen die der DLI. Laruelles Nicht-Marxismus ist eine unerbittliche Wiederholung marxistischen Denkens, mittels einer seiner Kategorien – DLI. “Marxism is not abstract because of some terrible philosophy that would move it away from history, but because of too much philosophy that plunges it into history.” (21) Nicht-Marxismus hat sowohl die Geschichte (als die Geschichte des Kapitalismus und der Philosophie) als auch die Philosophie (das Denken des Kapitalismus) als determiniert in der letzten Instanz durch das Reale auszuweisen, das weder mit der Philosophie noch mit dem Kapitalismus irgendwelche Austauschbeziehungen unterhält.

Nicht-Marxismus generalisiert und stellt einen theoretischen Stil Marxens wieder her, der es in seinen spannendsten Momenten erreichte, etwas anderes als nur eine weitere Philosophie zu sein oder eine neue soziale Wissenschaft – insofern die Philosophie eben ein fundierendes Prinzip besitzt, das Sein=Denken heißt. Für Laruelle dagegen ist das Reale die zentrale Kategorie, die weder Sein noch Denken beinhaltet. Aber der Preis, den diese Theorie zahlen muss, besteht hier daran, dass das Objekt des Denkens aufhört empirisch zu sein. Ob der Nicht-Marxismus etwas anderes als eine negative und kritische Funktion haben kann, das muss sich erst noch zeigen. 

Laruelle will Marx von jeglichen philosophischen Konzepten des Realen trennen. In den Thesen zu Feuerbach erklärt Marx, dass die Philosophen die Welt bisher nur interpretiert hätten, es aber darauf ankäme, sie zu verändern. Allerdings dies ist immer noch eine philosophische Ambition. Was die Philosophen zu verändern beabsichtigen, ist das was Laruelle – nicht ohne trockenen Humor – als „Überbau“ bezeichnet, der in der Tat eine relative Autonomie beibehält. Philosophie, inklusive der marxistischen Philosophie, kann reziproke Austauschbeziehungen zur Welt beinhalten, aber nur mit der Kapital-Welt, mit den Überbauten, während die Basis nur als ein immanent Reales verfügbar ist.

in einem Fazit sollte man Laruelles Programm des Nicht-Marxismus folgendermaßen zusammenfassen: Erstens, eine Universalisierung des Konzepts der Basis bzw. der Infrastruktur; zweitens, das Postulat einer Basis, die gegenüber jedem Überbau abgeschlossen bleibt; drittens, das Postulat einer Determination in der letzten Instanz, und zwar als eine Art der nicht-ontologischen Kausalität; viertens, die Vereinheitlichung von Wissenschaft und Philosophie als Gegenstände oder bezogen auf die unilaterale Kausalität, die vom Realen herrührt. Das Konzept der DLI muss folglich vom sozialen-historischen Terrain abgezogen werden und eine Art formales „Axiom“ oder Entscheidung inkludieren.

Laruelle: “Non-Marxism consists in uni-versalizing in-the-last-instance.” (28) Marxismus ist die begrenzte Form oder ein Symptom einer vereinheitlichten Theorie. “Materialismus” gilt hier nur als eine temporäre anti-idealistische, anti-philosophische Thesis. Er wirkt nur einmal. Materialismus hingegen hält das Philosophische weiterhin für akzeptabel, via Existenz (Sartre), Struktur (Althusser), Dekonstruktion (Derrida) und so weiter. Laruelle: “So many philosophies destined to supply it with a supplement of intelligibility and concreteness, of some semi-abstraction. Spinoza, Kant, Hegel, Nietzsche, Heidegger, etc., are perhaps like Noah’s cloak intended to cover this apparent lack of philosophy, an original incompetence that is itself philosophical.” (33)

Laruelle befindet sich daher im Vergleich zu den verschiedenen Formen des Dialektischen Materialismus (der heute vielleicht völlig untergegangen ist) auf einem vollkommen anderen Pfad, auch im Vergleich zu den verschiedenen Versuchen, eine Philosophie „Für Marx“ zu kreieren. Laruelle: “The philosophical history of Marxism is that of a war of appropriation and idealist reconquest, while its real history is that of its failure, its violence and what is undoubtedly joined with it, its theoretical incompleteness that motivates philosophical desire.” (34) Weniger als eine philosophische “Kur” für das gedacht, was den Marxismus schmerzt, geht es hier eher darum, den Marxismus von der Philosophie selbst zu kurieren, sich von diesem suchterzeugenden pharmakon zu entwöhnen.

Diese würde in der Tat eine „Verarmung“ des Marxismus beinhalten, die einen dazu zwingt zu fragen, warum jemand jemals auf die Idee kam, der Marxismus solle philosophische “Reichtümer” anbieten. Laruelle kommt hingegen wieder und wieder zum selben Axiom zurück, Determination in der letzten Instanz, die weder politisch noch wissenschaftlich noch philosophisch ist. Sie ist eine Infrastruktur, die gegenüber jeglichen Aktivitäten der Überbauten radikal abgeschlossen ist .

Das erinnerte mich an dieser Stelle an die großartigen (non)novels von Andrey Platonov, in denen die Überbauten  andauernd auf- und umgebaut werden, während verschiedene Gesten für eine unmögliche Basis stehen, etwa in der reinen Negativität der Vertiefung, die in “Foundation Pit” gegraben wird, oder im quietschenden Wind in “Soul” oder am Grund des Sees in “Chevengur”. Platonov ist ein großartiger Denker des Verarmten und folgerichtig erscheint ein laruellscher Nicht-Platonov wie ein wunderbar karges Projekt, über das nachgedacht werden sollte.

Laruelle würde Platonov vielleicht als mitschuldig bezeichnen, wenn es um die Konfusion des immanent Realen mit der Materie geht, obgleich der kontinuierlich arme und desorganisierte Status der Materie bei Platonov durchaus für das Reale stehen kann. Sicherlich, Platonov ist sich dieser häretischen Linie des Denkens bewusst. Sie ist die andere Seite im Vergleich zum Prinzip of suffizienten Philosophie: Vielleicht ein Prinzip der suffizienten Realität. Nicht nur, dass das Denken dem Realen angemessen ist, sondern dass das Reale angemessen „reich“ sei, wenn man es denkt. “Häresie” könnte das Denken einer Welt beinhalten, die arm und unerreichbar zugleich ist – was in der Welt der superstrukturellen Philosophie cum capital sehr ähnlich ist.

Die eher spezielle Kausalität bei Laruelle bedenkt zwei Pfade: Der erste lässt sich am besten in seinen eigenen Worten ausdrücken: “So it is not a matter of ‘difference’, of the con-extension of the One and the Two, of the One that is Two and of the Two that is One in some reversible way. It seems, instead, that DLI must be irreversible, the One is only One, even with the Two, and the Two forms a Two with a One only from its point of view as the Two.” (42) Dies beinhaltet die eher seltsame Qualität der unilateralen Dualität. Der Tausch befindet sich nur auf der Seite der Zwei.

Die Redewendung „point of view” springt hier für mich sofort ins Auge. Was die Philosophie zu einem Teil des Kapitalismus macht, ist das Teilen eines Gesichtspunktes, der den Tausch für möglich ist. Bogdanov’s Methode in Fragen der Weltanschauungen besteht dann darin, sie als metaphorische Extensionen (was er “Vertretungen” nennt) zu begreifen, die von den realen sozialen Relationen herrühren. In diesem Sinne versteht er die Unterscheidung zwischen Religion und Philosophie, wobei die erstere sich mit autoritären Relationen und die letztere mit Austauschrelationen substituiert. So gibt es für die Religion immer ein non-reziprokes Erstes oder ein letzter Grund, Gott oder Götter; während für die Philosophie dieser erste oder letzte Grund durch den Tausch selbst ersetzt wird. Aktuelle Weltanschauungen tendieren dazu, diese zwei Prinzipien zu vermischen. Die Frage für Laruelle ist hier die, ob es mehr als eine Rückkehr zu den autoritären Weltanschauungen und ihren ersten oder letzten Gründen geben kann.

Der zweite Aspekt der laruellschen Kausalität, seine “syntax without synthesis”, (42) beinhaltet folgendes: “every secondary causality, as multiple as it is, is only taken into account and introduced within the final ‘reckoning’ on the condition of ‘passing’ through the principle causality or through the infrastructure, toward which the secondary causality is by definition ‘indebted’…” (42) Tausch oder Überbau mögen plural dialektisch sein, aber ihre Multiplizität zählt nur qua einer Basis, mit der es keinerlei Relationen des Tauschs gibt. Die metaphorischen Substitutionen sind hier interessant, selbst wenn Laruelle sie in Anführungszeichen setzt.

DLI hat nichts mit den klassischen vier Kausalitäten zu tun (final, formal, materiell, effizient). Es ist eher ein Grund ohne Ganzes, ohne Synthesis, und ohne Expression. Das Reale ist ohne Sein. “The primacy is not that of matter over consciousness, but of the real One over the dyad of matter/consciousness, Being/life, but also the dyad of practice/theory… “ (45) Laruelle setzt diese unilaterale Dualität anstelle von Widerspruch, Kampf, Teilung.

DLI impliziert sogar die Weigerung, das Materielle als einen Grund zu betrachten: “materialism is a kind of neighboring symptom of the immanent Real.” (49) Das Reale ist heterogen in Bezug auf das Denken und determiniert es dennoch – einen Prozess, den Laruelle mit einer interessanten metaphorischen Substitution zu erfassen versucht, die er “Klonen” nennt. Der Klon wird unilateral produziert, ohne jegliche Reziprozität oder Tausch.

Weiteren aufschlussreichen Gebrauch des laruellschen Stils finden wir bei seiner Gegenüberstellung von “gegeben ohne Gegebenheit” (55), der radikalen Immanenz, des Realen, gegenüber des “gegeben durch Gegebenheit” innerhalb der Überbauten. Man denkt an dieser Stelle an Derrida’s berühmte Interpretation der Unmöglichkeit der reinen, nicht-reziproken Gabe. Und dennoch ist das Reale bei Laruelle die nicht-reziproke Gabe. Das mag es sein, was den Nicht-Marxismus, und die Nicht-Philosophie generell, davor rettet, in Theologie abzugleiten, oder höchstens in die eine Art negativst mögliche: dass es keinerlei mögliche Reziprozität mit dem Realen gibt. Das ist denke ich der Pfad, den mein New School-Kollege Eugene Thacker einschlägt.

Einerseits also das “Gegebene ohne Gegebenheit” und auf der andere Seite das “Gegebene durch die Gegebenheit”, oder Reziprozität und Tausch. Das letztere hat keinen Effekt auf das erstere: “everything remains as it is or remains inalienable despite this capitalist transcendence.” (55) Das ist ein erstaunlicher Gedanke: eine Reales, das vom Tausch unberührt bleibt, eine unbekanntes Reales, für das Kapital unerkennbar. “Non-Marxism’s gesture is to immediately grant itself the uni(-)versality of capitalism and its theory, instead of attempting to conquer it step by step through the complication of axioms.” (57) Dass allein das Denken den ‘Preis’ wert ist, in die Dickichte von Laruelle’s verrückter Syntax einzusteigen.

Übersetzung Englisch-Deutsch: Achim Szepanski . Originale Links wurden beibehalten. Der englische Text findet sich => hier

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