LARUELLES NON-MARXISMUS: Auf dem Weg zu einem demokratischen Pluralismus des Denkens

Gegen jüngste Versuche, Laruelles Stil durch die Hervorhebung seiner innovativen Syntax zu charakterisieren, die ihm angeblich von einer “Syntax des Realen” diktiert wird, muss ich einwenden, dass seine Syntax zumeist ziemlich gewöhnlich und geradeheraus ist. Seine Arbeiten sind wegen der von ihm angewendeten “perversen” [kinky] Semantik schwierig, d.h. wegen seines beschwörenden und eigenwilligen Vokabulars. Ausserdem kann in Laruelles eigenen Begriffen keine Übertragung einer Syntax des Realen in unser non-philosophisches Schreiben stattfinden. Das würde auf eine völlig unausgegorene Form philosophischer Phantasmen einer a-theoretischen Übereinstimmung mit einer inkohärent postulierten syntaktischen Struktur des Realen hinauslaufen. 

INTRODUCTION TO NON-MARXISM ist ein sehr interessantes Werk des Überganges, publiziert im Jahr 2000, das zu lesen gut in einen Kontext des Denkens passt, das versucht, sich von den Einschränkungen zu befreien, die es davon abhalten, sich auf realistische Weise mit der Welt zu befassen. Das Buch folgt direkt auf Laruelles ethische Phase, in der er immer noch nicht den Einfluss Lacans und Levinas’ abschütteln kann, und es geht seiner religionistischen Phase unmittelbar voraus.

Laruelle hat Schwierigkeiten, sich vom Lacan’schen und Althusser’schen Vokabular seiner frühen Jahre zu befreien, was vielleicht seine obsessive Konzentration auf “Wissenschaft” als Ausweg aus diesem Defizit erklärt. Dies hat zu einer Lacan’schen Lesart von Laruelles Werk geführt, in der er angeblich derart absolut über die Selbstisolation [closure] der Philosophie und der philosophischer Welten untereinander theoretisiert, dass jeder Kontakt mit dem “Realen” nur noch als Trauma erscheinen kann. Diese geradezu luftdichte gegenseitige Abkapselung vielgestaltiger Welten und zwischen einer jeweiligen Welt und dem Realen, wird von Laruelles späterer Aneignung des Quantendenkens zurückgewiesen und widerlegt.

Laruelle anerkennt, dass er durch eine Phase des Szientismus gegangen ist und betont, sich aus diesem Dilemma befreit zu haben. Trotzdem legt Laruelle in seiner Nicht-Standard-Philosophie immer noch großen Wert auf Wissenschaft. Unglücklicherweise wurde dieser Aspekt seiner Arbeit weder diskutiert noch sonstwie verdeutlicht und seine Arbeit wurde stattdessen oft in reduktionistischer Weise im Kontext einer religiösen oder politisierenden Agenda präsentiert. Das hat zur Nichtbeachtung seines wichtigsten Werkes im Englischsprachigen geführt  – PHILOSOPHIE NON-STANDARD (2010) – welches durchdrungen ist von Laruelles Nicht-Standard-Extrapolation von Denkweisen, die aus der Quantenphysik stammen.

In einem nicht wirklich erfolgreichen Versuch seinem bisherigen Szientismus zu entkommen (welcher trotz seiner Beteuerungen nicht auf seine Philosophie-Phase I beschränkt ist), unternahm Laruelle zunächst eine ethische Wende, die ihn auf post-68er Denkschemata  festlegte und ihn in einem entsprechenden Referenzsystem fixierte. Indem er den Althusser’schen Marxismus als einen weiteren Aspekt diese Denkens aufgriff und indem er versuchte, diesen mit Mitteln einer von ihrer szientistischen Phase befreiten Non-Philosophie umzuarbeiten, scheint er zunächst gedacht zu haben, dass eine non-philosophische Erweiterung des Marxismus den Durchbruch in eine Non-Standard-Philosophie erreichen könnte, nach dem er suchte.

In INTRODUCTION TO NON-MARXISM (2000) schlägt Laruelle ein von Althusser’schen Fesseln befreites Konzept der “Determination-in-der-letzten-Instanz” vor. Dieses wurde aus Laruelles fortlaufender Entwicklung herausgelöst und hat die Herausbildung einer post-marxistischen Lesart seines gesamten Projektes ermöglicht, die bequemer Weise vernachlässigt, dass dieses Konzept von Laruelle im Licht seiner nachfolgenden Nicht-Standard-Philosophie umgearbeitet wurde. Die letzte Instanz ist “prä-primär” [pre-primary], nicht deterministisch, sondern “quantisch” indeterministisch. Was eine Allianz aus Marxisten und Religionisten [religionists] daraus macht, entzieht sich meiner Kenntnis, da eine tiefer gehende Diskussion dieser Punkte in der englischen Literatur schlichtweg nicht stattfindet.

Im Kontrast dazu, wie sie in diesem Buch formuliert wird, sollte der Leser, anstatt Laruelles non-marxistische Auffassung der “Determination-in-der-letzten-Instanz” als ein bedeutendes Konzept zu bejubeln, bedenken, dass sie aus Sicht Laruelles späterer Werke eine Sackgasse ist – genauso wie THE FUTURE CHRIST. Beides wurde überwunden und in Laruelles Quanten-Ansatz, so wie er prinzipiell in NON-STANDARD-PHILOSOPHIE, ANTI-BADIOU und CHRISTO-FICTION zu finden ist, verschmolzen. Eine der wichtigsten Neuerungen in diesen Büchern ist der Begriff von der Indetermination in der prä-primären Instanz [indetermination in the the pre-primary instance], in den “Determination-in-der-letzten-Instanz” umgearbeitet wird.

INTRODUCTION TO NON-MARXISM ist ein Werk des Überganges. Vorläufige Übersichten über Laruelles Werk gewichten häufig eine der Laruelle’schen Phasen stärker als andere. Besonders ärgerlich dabei ist eine reduktionistische (politisierende) Lesart, die die prä-quantum Version der “Determination-in-der-letzten-Instanz” als Allheilmittel anpreist, ebenso wie die (religionisierende) Berufung auf den prä-quantum Christus. Es ist erfreulich, dass Laruelles “Quanten-Dekonstruktion” Teil des fortlaufenden Prozesses ist, sein Denken von älteren Begrenzungen zu befreien und ich denke, das ist nötig, um die Suture [1] seines Denkens mit spezifischen Wahrheitsprozeduren (Wissenschaft, Psychoanalyse, Ethik, Kunst, Religion oder Politik) zu vermeiden.

Laruelles INTRODUCTION TO NON-MARXISM formuliert eine sehr interessante non-philosophische Erweiterung des philosophischen Marxismus, aber es bleibt ein suturales Werk und aus diesem Grund reduktionistisch. In diesem Buch liefert Laruelle uns ein gut ausgearbeitetes Beispiel der Anwendung seines nicht-philosophischen Ansatzes in Bezug auf einen bestimmten Denkansatz [thought world], der immer noch brauchbare Auswirkungen hat. Laruelle argumentiert aber später in seinem bis heute synthetischsten Werk – NON-STANDARD-PHILOSOPHY –, dass das, was heute gebraucht wird, nicht eine einfache (und immer noch monistische) Erweiterung eines speziellen philosophischen Denkansatzes ist, sondern vielmehr ein komplexeres Denken, das die quantische [quantum] Superposition einer Vielzahl verschiedener Denkansätze beinhaltet, die von ihrer Tendenz zur gegenseitigen Abschottung und Suffizienz befreit sind und zu einem demokratischen Pluralismus des Denkens beitragen.

Eine interessante Bestätigung  meiner Analyse kann man in einem Interview mit Badiou über den Spekulativen Realismus und Laruelle finden. Badiou sieht Laruelle mit Heidegger zusammen als Denker einer großen Erzählung des Vergessens, während Badiou selbst diesen Pathos ablehnt. Er weist darauf hin, dass, insofern eine Reversion dieses Vergessens damit verbunden ist, über die Philosophie hinaus zu gelangen, Laruelles ganzes Projekt immer eine implizit religiöse Dimension hatte, auch wenn diese jetzt erst explizit geworden wäre. Alles in allem verortet Badiou Laruelle im Lager der Kritik, der Nostalgie und des Verlustes und damit implizit in dem der Transzendenz. Trotz Laruelles expliziter Rede über das Reale und über Wissenschaft, was auf einen vordergründigen Szientismus hinausliefe, stellt Badiou fest, dass Religiosität das ganze Werk Laruelles durchdringe und determiniere, was auf einen Hintergrund des Religionismus [religionism] hindeuten würde.

Weit davon entfernt, einen entschiedenen Bruch mit einem französischen post-strukturalistischen Marxismus zu repräsentieren, ist Laruelles INTRODUCTION TO NON-MARXISM ein Zwischenbericht, der zwischen seiner ethizistischen Phase (Philosophie III) und seine religionistischen Phase (Philosophie IV) angesiedelt ist. Indem er seinen non-philosophischen Ansatz  auf eine alleinstehende Form philosophischen Materials anwendet (“Marxismus”, aber wessen Marxismus?), ist Laruelle in der Lage, den philosophischen Marxismus über eine bestimmte Grenze hinaus auszuweiten. Allerdings bleibt er gerade wegen der Struktur seiner Argumente in einer Form des Monismus gefangen.

Diese Form des Monismus, die Badiou Suture nennt, besteht darin, an eine bestimmte Gedankenwelt (oder an einen bestimmten Wahrheitsprozess) gebunden zu sein und ihr (explanatorisch und/oder ontologisch) Vorrang zu gewähren. Erst in seiner späteren “Quanten”-Phase (Philosophy V) überwindet Laruelle diesen Defekt mit dem Mittel der Superposition einer Vielzahl von Gedankenwelten. Die Frage aber bleibt: Ist dies wirklich eine Überwindung des Prinzips der Suture (was Laruelle das Prinzip der Suffizienz nennt) oder ist sein Quantendenken eher die Verkleidung eines Denkens der Suture?

Übersetzung: Matthias Steingass

[1] Der Begriff “Suture” bleibt unübersetzt. Er stammt, wie Blake andeutet,  aus dem Französischen – suturer –, dem (medzinischen) Nähen, und taucht entlehnt zuerst bei Lacan auf. Badiou übernimmt ihn und verwendet ihn in mehrschichtiger Weise. Vgl. dazu “Form & Formalism”, “Suture Entry“, besonders “Philosophical Suture”. (mst)

Das englische Original des Textes findet sich auf Terence Blakes Blog Agent Swarm

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