Netzwerkpessimismus

Ich habe jüngst viel über Pessimismus nachgedacht. Eugen hat das Thema schon länger auf dem Radar. Er hat sogar ein neues, längeres Manuskript über Pessimismus mit dem Titel “Infinite Resignation” in der Schublade, das sich von seinen bisherigen Büchern, was den Ton und die Struktur angeht, unterscheidet. Ich habe es gelesen und finde es hervorragend. Definitiv “das Schlimmste” was er je geschrieben hat! Es ist mit anderen Abhandlungen aus der Geschichte des philosophischen Pessimismus verwandt – Leopardi, Cioran, Schopenhauer, Kierkegaard usw. – und ist hauptsächlich in kurzen Aphorismen verfasst. Es hat eine sehr poetische Sprache und einige Teile sind von persönlichen Erinnerungen und Meditationen inspiriert. Alles in allem ist es ein Versuch die abgelegensten, dunkelsten und beunruhigendsten Winkel die das Universum zu bieten hat, auszuloten.

Allerdings, die Beunruhigung bleibt nicht unsichtbar. Der Pessimismus hat es inzwischen bis ins heimischen Wohnzimmer geschafft. Trotz dieser Popularität jedoch hat Eugen anscheinend kein grosses Interesse daran, sein Manuskript einem Verleger zu zeigen. Ein wahrer Pessimist eben! Aber keine Sorge, ich bin sicher, das Buch wird eines Tages das Licht der Welt erblicken. Oder sollte man lieber sagen, das tiefste Dunkel der Nacht? Egal, wenn es es tut, wird es das Leben eines jeden Thacker-Fans in einen Schatten aus Furcht tauchen und rundherum demoralisieren.

Interessanterweise taucht der Pessimismus auch bei einer Reihe anderer Autoren und in anderen Fachgebieten auf. Ich denke da zum Beispiel an die Critical Race Theorie und das Konzept des Afro-Pessimismus. Das Werk von Fred Morton ist in dieser Hinsicht besonders interessant. Genauso hat die Queer-Theorie sich viel mit dem Pessimismus abgemüht, sei es mit den No-Future-Debatten um die Reproductive Futurity, oder sei es was Anna Conlan einfach als “Homo-Pessimismus” bezeichnet hat – die “hartnäckige Verknüpfung von Homosexualität mit Tod und Unterdrückung und deren Folge in Form stereotyper Beschreibungen von LGBTQ-Lebensstilen als unglücklich und ungesund.” (1)

In einer Rezension meines neuen Buches, hat Andrew Culp auf etliches Material in dieser Richtung Bezug genommen welches mich beeinflusst hat. Ich werde mehr über Morton und diese Themen in zukünftigen Beiträgen schreiben. Jetzt aber will ich in allgemeinen Begriffen erläutern, wie das Konzept des Pessimismus möglicherweise auf zeitgenössische digitale Medien anwendbar ist.

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In einem früheren Post wurde der Netzwerktrugschluss besprochen. Bei ihm handelt es sich um die irrige Annahme, dass eine Abnahme hierarchischer Organisation zu einer Abnahme von Organisation als solcher führt. An dieser Stelle möchte ich die damit verbundene Frage vom Netzwerkpessimismus besprechen.

Netzwerkpessimismus basiert auf zwei grundsätzlichen Annahmen: (1) “alles ist ein Netzwerk”, (2) “die beste Antwort auf Netzwerke ist mehr Netzwerke.”

Wer sagt das, alles ist ein Netzwerk? Sieht so aus, als ob das alle täten. In der Philosophy ist es Bruno Latour: Ontology ist ein Netzwerk. In der Literaturwissenschaft ist es Franco Moretti: Hamlet ist ein Netzwerk. Beim Militär Donald Rumsfeld: Das Schlachtfeld ist ein Netzwerk. (Unsere Feinde sind selbstverständlich auch Netzwerke: das Netzwerk des Terrors.) Kunst, Architektur, Managementliteratur, Komputerwissenschaften, Neurowissenschaften und viele andere Gebiete – alle haben sich in den letzten Jahren markant auf ein Netzwerkmodell hin bewegt. Am wichtigsten sind aber die heutige Ökonomie und Produktionsweise. Die am weitesten entwickelten Unternehmen sind heute Unternehmensnetzwerke. Google macht die Beschaffenheit des Netzwerkes selbst zu Geld (zum Teil durch Clusterbildung von Algorithmen). Facebook hat Subjektivität und soziale Interaktion durch Kanalisierung und Diskretisierung von Netzwerkdiensten neu verfasst. Man könnte die Liste problemlos erweitern. Ich charakterisiere daher die erste Annahme – “alles ist ein Netzwerk” – als eine Art von Netzwerkfundamentalismus. Dieser behauptet, alles was existiert, erscheint natürlicherweise in der Form eines Systems, einer Ökologie, einer Montage, kurz, als Netzwerk.

Meine Damen und Herren, hören sie die frohe Botschaft, die Postmoderne ist definitiv am Ende! Es gibt eine neue grand récit. Das Netzwerk als Metanarrativ wird uns in ein neues Dunkles Zeitalter führen.

Während die erste Annahme zustimmend eine neues Dogma oder Bekenntnis formuliert, ist die zweite ablehnender oder nihilistisch. Die zweite Annahme – die beste Antwort auf Netzwerke ist mehr Netzwerke – wird heute in allen Formen sozialen und politischen Lebens ebenso evident wie die erste. Eugene und ich haben dieses Phänomen in “The Exploit” ausführlich behandelt. An dieser Stelle seien ein paar weitere Beispiele aus gegenwärtigen Debatten genannt… In der Militärtheorie: Netzwerkzentrierte Kriegsführung ist die beste Antwort auf Terrornetzwerke. In Deleuz’scher Philosophie: Das Rhizom ist die beste Antwort auf schizophrene Vielfalt. Im Autonomen Marxismus: Die Multitude ist die beste Antwort auf das Empire. In der Umweltbewegung: Ökologien und Systeme sind die beste Antwort auf die systematische Kolonialisierung der Natur. In den Komputerwissenschaften: Verteiltes Rechnen ist die beste Antwort auf Engpässe in der Konnektivität. In der Ökonomie: Heteronome “Verbundeffekte” sind die beste Antwort auf die Verteilung in “Long Tails”.

Es besteht kein Zweifel daran, dass auch heute noch an vielen Stellen Netzwerke auf Machtzentren treffen. Es geht nicht darum, immer noch existierende massifizierte, zentralisierte Herrschaft zu leugnen. Doch ist es wichtig diese Zusammentreffen innerhalb einer übergeordneten ideologischen Struktur zu kontextualisieren. In einer, die die Form des Netzwerkes infiziert und es in den ausschließlichen Ort der Befreiung, der Differenz, der politischen Reife und des komplexen Denkens verwandelt und zuletzt in den, an dem das eigentliche Leben stattfindet.

Warum sollte man das als Pessimismus bezeichnen? Aus den gleichen Gründen wegen denen sich die Queer-Theorie und die Critical Race Theory damit herumplagen: Ist Alterität ein Todesurteil? Gibt es keine Alternative? Ist das alles? Können wir uns ein Paralleluniversum vorstellen, das von dem unsrigen verschieden ist? (Obwohl wahrscheinlich das Pro-Pessimismuslager es umkehrt formulieren würde: Wir müssen jede normative Kennzeichnung des “Guten” destabilisieren und vernichten. Diese Welt ist nicht gut, und das ist auch gut so!)

Was also ist das Problem? Warum sollten wir über Netzwerkpessimismus beunruhigt sein? Um das vorweg klar zu machen und um Missverständnisse zu vermeiden, Pessimismus ist hier nicht das Problem. Genauso wenig wie Netzwerke das Problem sind. (Das mich bloss keiner für “antinetzwerk” oder “antipessimistisch” hält – ich wüsste nicht mal was diese Positionen bedeuten könnten.) Das Problem, so wie ich es sehe, ist, dass Netzwerkpessimismus ein ganz bestimmtes Bekenntnis predigt, indem er Netzwerk und Pessimismus zu einer einzigen ideologischen Position verengt. Es ist diese Beschränktheit, die man in Frage stellen sollte.

Es sind insbesondere drei Grundprobleme, die ich im Zusammenhang mit Netzwerkpessimismus sehe, den Präsentismus, das Problem der Ideologie und das Problem des Ereignisses.

Das Problem des Präsentismus betrifft die Art, in der Netzwerke und Netzwerkdenken von vorne herein gegen Historisierung allergisch sind. Das zeigt sich an verschiedenen Beispielen. Netzwerke treten als das sprichwörtliche “Ende der Geschichte” auf (und sie tun das, indem sie diese Geschichte in der Tat, zu beenden helfen). Ökologisches und systemorientiertes Denken sind als eine Art Ausweg aus den Problemen der Diachronie populär geworden, obwohl sie von Natur aus temporal sind. Raum und Landschaft nehmen den Platz von Zeit und Geschichte ein. Wie Jameson angemerkt hat, geht die “topografische Wende” der Postmoderne Hand in Hand mit einer Abwertung des “temporalen Moments” vorhergegangener Bewegungen des Denkens. Von Hegels Geschichte bis zu Luhmanns System. Von Einsteins allgemeiner Relativität zu Riemanns komplexen Flächen. Von der Phänomenologie bis zur Theorie der Assemblage. Vom “Zeitbild” des Kinos zum “datenbasierten Bild” des Internets. Vom alten Mantra immer historisieren zum neuen Mantra immer verbinden.

Im Zeitalter des Uhrwerks stellte man sich das Universum als einen riesigen Mechanismus vor, in dem sich die Himmel zur Musik der Spähren bewegten. Als die Dampfmaschine zur Quelle ein neuen Leistungsfähigkeit wurde, war die Welt plötzlich ein Dynamo unbeschreiblicher thermodynamischer Kraft. Nachdem sich die Industrialisierung vollständig entwickelt hatte, wurde der Körper zu einer Fabrik. Technologien und Infrastrukturen sind verführerische Metaphern. Es ist also keine Überraschung (und kein Zufall), dass sich heute, im Zeitalter der Netzwerke, allem was auftaucht, dieses neue Klischee aufdrängt. Mit anderen Worten, die Annahme “alles ist ein Netzwerk” löst sich allmählich in eine Tautologie des Präsentismus auf. “Alles ist genau jetzt ein Netzwerk… weil alles Jetzt schon von vorne herein als Netzwerk definiert wurde.”

Das führt zum Problem der Ideologie. Wieder werden wir mit einer grundsätzlichen Herausforderung konfrontiert, da Netzwerktechnologien grösstenteils als nicht-ideologisch oder extra-ideologisch konzipiert wurden. Während ich “Protocol” schrieb, interviewte ich einige der Komputerwissenschaftler, die für das Netzwerkprotokoll des Internets verantwortlich waren. Die meisten berichteten, dass sie “keine Ideologie haben”, wenn sie Netzwerke entwerfen und dass sie lediglich an “Code der funktioniert” und an “effizienten und robusten Systemen” interessiert sind. In Soziologie und Wissenschaftstheorie beschreiben Leute wie Bruno Latour ihre Arbeit regelmäßig als “post-kritisch”, als lediglich an Mechanismen interessiert, die direkt mit Netzwerkorganisation zu tun haben. Daher Ideologie als ein zu vernachlässigendes oder zu subsummierendes Problem: Netzwerke werden ausdrücklich verstanden und entworfen als, erstens, konzeptionell nicht-ideologisch (wir wollen einfach nur “Sachen machen”) und, zweitens, als, von ihrer Architektur her gesehen, post-ideologisch (indem sie Begriffe vergangener ideologischer Debatten ausdrücklich anerkennen und vereinnahmen – Dinge wie Heterogenität, Differenz, Wirkmächtigkeit und Subjektformation).

Das Problem des Ereignisses bezeichnet eine Krise des Konzepts des Ereignisses selbst. Hier ist Badiou unschätzbar. Netzwerkarchitekturen sind ein perfektes Beispiel dessen, was Badiou als “demokratischen Materialismus” bezeichnet, eine Welt in der es nur noch “Körper und Sprachen” gibt. In Badious Begrifflichkeit heisst das, dass wenn Netzwerke naturgegeben sind und es so also keinen Weg gibt wider diese Natur zu sein, dann gibt es kein Ereignis und keine Möglichkeit der Wahrheit. Netzwerke sind dann das vollkommene “Sein ohne Ereignis”.

Was könnte schlimmer sein? Wenn Netzwerke fähig sind, sich auf jede nur erdenkliche Eventualität einzustellen – vgl. dazu den berühmten Robustheitsgrundsatz – dann sind sie auch außerordentlich geschickt darin, jede “unkontrollierbare” Veränderung, wo immer sie auftaucht, zu bannen.

Jameson äußert sich in dieser Hinsicht in “The Seeds of Time” wenn er sagt, dass es einfacher sei, sich das Ende der Erde oder das Ende der Natur vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus. Mit anderen Worten, Netzwerkpessimismus ist in Wirklichkeit eine Art Netzwerkdefätismus indem er Netzwerke zum Alpha und Omega der Welt erklärt. Es ist einfacher sich das Ende der Welt vorzustellen, als die Netzwerkmetapher zu verwerfen und sich eine Art Non-Welt vorzustellen in der Netzwerke nicht länger dominant sind.

Kurz gesagt, wir sollten dem Netzwerkpessimismus nicht nachgeben. Wir sollten der Forderung alles zum Netzwerk zu machen nicht nachkommen. (Noch sollten wir uns die blumige Behauptung zu eigen machen, Netzwerke seien einfach nur die alltägliche, populäre oder naturgegebene Architektur der Gegenwart.) Ausserdem sollten wir bedenken, dass Netzwerke nicht die beste Antwort auf Netzwerke sind. Stattdessen sollten wir uns mit den wirklich wichtigen und schwierigen Fragen befassen. Was ist das politische Schicksal der Netzwerke? Wie würde ein Non-Netz aussehen? Und hat das Denken ohne das Netzwerk als Orientierungshilfe eine Zukunft?

(1) Anna Conlan, “Representing Possibility: Mourning, Memorial, and Queer Museology,” in Gender, Sexuality and Museums, ed. Amy K. Levin (London: Routledge, 2010): 253-263.

Übersetzung Englisch-Deutsch: Matthias Steingass. Originale Links wurden beibehalten. Der englische Text findet sich => hier.

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