NON: An unsere Genossen. erste Notiz / To our comrades. first draft

english translation will follo

Zu Marxens Zeiten erwuchs das proletarische Widerstandspotenzial nicht in erster Linie, wie sich das manche Marxisten immer noch gerne wünschen, aus dem Kampf gegen die Warenform, sondern es waren vielmehr die techno-ökonomischen Bedingungen des Übergangs vom Holz zur Kohle als Energiequelle, die für auch für neue Aktions- und Widerstandsformen der arbeitenden Bevölkerung sorgten. Diese Bedingungen erlaubten einerseits die Schaffung großer Industrien, die andererseits zumindest den organisierten Arbeitern ungefähr ein Jahrhundert lang ein ungewöhnliches Machtpotenzial eröffneten, das dazu diente, die durch das Kapital ausgeübte Macht zu subvertieren, besonders indem die Arbeiter in Streikzeiten sowohl die Kohleminen als auch die Transportwege blockierten, das heißt wichtige Engpässe oder Knotenpunkt am Beginn der Produktionsketten lahmlegten. Indem sie sich zudem horizontal organisierten, konnten die Arbeiter große Teile des industriellen Systems, das damals auf der Kohle und der Dampfkraft basierte, zeitweilig zum Erliegen bringen, wenn zusätzlich die Eisenbahnarbeiter, die weitere Engpässe und Knotenpunkte entlang der Produktionslinien und Transportwege blockierten, in die Kämpfe einstiegen und wenn zudem noch die Arbeiter in der Stahlindustrie am Streik teilnahmen, der sich dann schnell zu einem Generalstreik ausweiten konnte, für den der Staat weder die Legitimität noch die Sicherheitskräfte besaß, um ihn völlig unterbinden zu können und dies beeinflusste dann sogar die Wahlen, mit denen sich der Staat bis heute selbst legitimiert.

Die Wahlen stellen in den kapitalistischen Systemen normalerweise den common sense her, sie dienen aber auch dazu, um die Kosten für die staatlichen Repressionsapparate zu senken. Während der Dauer eines Generalstreiks war es oft nur eine Frage der Zeit, bis der Staat seinen militärischen Apparat gegen die Arbeiter zum Einsatz brachte. Später stellte die Verlinkung des Streikrechts mit dem Wahlrecht den Klassenkompromiss zwischen Arbeit und Kapital her, und dies im Kontext einer Erstarkung der Gewerkschaften und der Erfindung der Sozialpolitik durch die Regierungen, Aspekte, die allerdings oft genug nur im Kontext des Fordismus analysiert werden, in dem die relativ hohen Löhne der Arbeiter durch den Wohlfahrtsstaat ergänzt wurden.

Betrachtet man den Übergang vom Kohleregime zum Ölregime in der Mitte des 20. Jahrhunderts, dann muss man zunächst festhalten, dass es wesentlich weniger Arbeiter in der Ölindustrie als in der Kohleindustrie gab, sodass erstere deshalb schon nicht dasselbe Machtpotenzial zur Unterbrechung der Produktion besaßen wie die letzteren. Die Produktion wurde demgemäß eher durch individuelle Anschläge auf die Ölpipelines unterbrochen, wobei man wiederum eine breite öffentliche Unterstützung benötigte, wenn denn überhaupt politische Effekte erzielt werden sollten. Die zentralen Knotenpunkte der Ölindustrie waren in der Hand der großen Ölkonzerne und der OPEC Staaten, die auch die Ölpreise kontrollieren konnten.

(Saboteure, Aufständische und Streikende arbeiten mit Drohungen, um höhere Löhne, höhere Einkommensteuer für die Reichen und neue Sozialprogramme zu erhalten.) Das Drohpotenzial eines Generalalstreiks, das bisher unter anderem darauf ausgerichtet war, zentrale Kontenpunkte zu blockieren oder sogar die Kontrolle über sie zu gewinnen, war plötzlich an die Notwendigkeit gebunden, öffentliche Räume zu schaffen oder Plätze zu besetzen, seien es nun virtuelle oder physische Räume. Eine taktische Frage der Kämpfe besteht heute immer noch darin, ob und wie die symbolischen Besetzungen von öffentlichen Plätzen mit kollektiven Aktionen in den privaten Räumen des Kapitals verbunden werden können.

Ist es möglich, dass Fabriken, Transportwege, polizeiliche und militärische Einrichtungen und auf dem Internet basierende Industrien zumindest von denjenigen inoperabel gemacht werden können, die Zugang zu signifikanten Knotenpunkten besitzen? Eine eher schon strategische Frage besteht dann wiederum darin, ob die polit-ökonomischen Bedingungen, die das ölbasierte finanzielle System ausmachen, eine Möglichkeit für umfassendere kollektive Aktionen anbieten könnten. Und weitergend stellt sich die Frage, welcher Art die Verbindungen und Netzwerke zwischen dem aktuellen Finanzsystem (inklusive seiner finanziellen Sicherheiten und den Derivaten) und den neuen privaten und staatlichen Sicherheitsindustrien sind, wobei es hier für den Widerstand insbesondere gerade darauf ankommt, exakt diejenigen Punkte zu erkennen, an denen das gesamte Finanzsystem als Konsequenz von disruptiven und krisenhaften Ereignissen illiquide zu werden droht. Dazu bedürfte es einer genaueren Analyse des politischen Potenzials, das die auf Kohle und Öl basierenden globalen Technologien im Verhältnis zum globalen Finanzsystem für den Widerstand ermöglichen, was wir allerdings hier noch nicht leisten können.

Wenden wir uns den Fragen aktueller Widerstandsformen zu. Zur Analyse des finanziellen Kapitals verweisen wir auf an anderer Stelle schon auf NON publizierten Texte. Wir müssen wir heute davon ausgehen, dass der Kredit nicht weniger eine Ressource zur Deckung der Reproduktionskosten der Lohnabhängigen ist als die Löhne, man denke etwa an das stetige Wachstum des Kreditkartensystems, der Konsumentenkredite und der Studentendarlehen, was nichts anders heißt, als dass die Kalkulation des Kredits für die kapitalistische Ökonomie nicht weniger wichtig wird als es die die mehrwertschaffende Lohnarbeit als ein Vehikel für die Kapitalakkumulation war und ist. Und gerade deswegen stellt sich auch hier dringend die Frage nach neuen Widerstandsformen, man denke an kollektive Schuldenstreiks.

Das Marx`sche Konzept des kreditunwürdigen und schuldenfreien Arbeiters ist längst obsolet geworden, wenn die Finanzindustrie Profite aus der Vergabe von Kreditkartensystemen, Konsumentenkrediten und Pensionsfonds ziehen kann. Die heutigen Kreditsysteme benötigen andauernd neue Informationen, die die Kreditnehmern über die Teilnahme an den Verfahren des Kreditscorings zum Teil selbst erzeugen, wobei die Kreditnehmer ihre Zeit immer länger online verbringen, egal ob sie dort (unbezahlt) arbeiten oder nicht; die Kreditnehmer erzeugen ständig neue Surplusinformationen und Datenströme , aus denen die Finanzindustrie mit Hilfe der Verfahren des Kreditscorings, des Rankings und und Ratings neue finanzielle Produkte schafft. Ab jetzt gilt es für die Subjekte unedingt die Schere zwischen bezahlter und unbezahlter Online-Arbeit zu beachten, was wiederum einen Einfluss auf ihre Kreditierung hat, auf die Kredite, die sie erhalten wollen und die sie bezahlen müssen, und dies in einem Kontext, der ganz durch die Finanzindustrie in Kooperation mit den großen Internetunternehmen und dem Staat kontrolliert wird.

Die Expansion des Kreditsystems als ein eminent wichtiger Teil der globalen Vernetzung des Kapitals hat zwei wichtige Industrien inklusive ihrer Knotenpunkte hervorgebracht: Zum ersten die globale Derivat- und Versicherungsindustrie, die ständig neue Informationsströme anzapfen muss, um neue Finanzprodukte zu kreieren, und zum zweiten neue private und staatliche Sicherheitsindustrien, die die Finanzindustrie durch die Instrumente der Überwachung und der Gewalt absichern. Es gibt heute eine konstitutive Vernetzung von Versicherungsindustrie und Sicherheitsindustrie zu beobachten. Um die enge Verzahnung zwischen der Finanzindustrie und der Staatsgewalt zu verstehen, muss man wiederum die Rolle der Staatsanleihen untersuchen, was wir an anderer Stelle noch tun werden.

Während das Wachstum der Warenproduktion einen globalen Anstieg der Arbeitskräfte benötigt, inkludiert die globale Produktion der Derivate und Assets ein globales Wachstum von neuen Formen der Verschuldung, die die sozio-ökonomischen Bedingungen der Kapitalakkumulation wesentlich mitbeeinflussen.

In diesem Zusammenhang gilt es die soziale Produktion der kreditbasierten Ökonomie als eine neue Form der Biopolitik zu untersuchen. Das steigende Wissen über  Risiken in Zeiten der Unsicherheit fördert die Kapazität der Akteure, effektivere Entscheidungen zu treffen und ihr Hedgen zu optimieren, was sie wiederum zu optimalen Kunden der Finanzindustrie macht, man denke beispielsweise an die Mikrokredite. Die Marktteilnehmer müssen im Zeitalter der Unsicherheit ihre Entscheidungsverfahren hinsichtlich der Finanzialisierung einfach optimieren. Selbst noch ethnische Differenzen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsschichten können heute im Kontext von Lifestyle-Optionen optimiert werden, was wiederum das globale Kapital anzieht, das ständig nach immer neuen Investitionsmöglichkeiten sucht, man denke hier an die Wellness- und die Tourismusindustrie.

Um all die neuen Anlageformen zu kapitaliseren, bedarf es weniger einer restriktiven Politik, die ausschließlich die Begleichung der Schulden im Blickfeld hat, vielmehr sorgt die Politik heute gerade für die Aufrechterhaltung eines liquiden Marktes für jegliche Formen der Kreditierung und der Assets. Folglich muss der herrschende Block an der Macht versuchen, wirklich jeden Angriff auf das Finanzsystem zu unterbinden, wozu es einer global aufgestellten Sicherheitsindustrie bedarf, die das fragile System der Informationsindustrie und der Industrien der finanziellen Sicherheiten schützt, ja, es kommt basierend auf dem Modell des Krieges gegen den Terror sogar zu einer Militarisierung des Finanzsystems, die wiederum entlang der Finanzialisierung der Militärindustrie verläuft, die zudem zu einem Unternehmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit umgebaut wird, und dies im übrigen auch im Cyberspace.

Die politische Frage, die sichh aktuell stellt ist, ist die, ob es neue Formen des Widerstands geben kann, die die Technologien, die normalerweise zur Aufrechterhaltung der Liquidität an den Finanzmärkten eingesetzt werden, nutzt, um das widerständige Potenzial zur Herstellung von Illiquidität an den Finanzmärkten zu erhöhen. Können die Leader der Wallstreet als nihilistische Suicdebomber oder Saboteure uns vielleicht sogar den Weg weisen, damit wir das Finanzsystem und jene selbst in die Luft jagen, und schließlich vielleicht sogar den Staat, wenn die Broker denn andauernd selbst sagen, dass ihre Assets und finanziellen Sicherheiten letztendlich nicht bewertet werden könnten, wenn nicht die Regierungen das Finanzsystem im Notfall garantierten.

Der erste wichtige Knotenpunkt des Finanzsystems betrifft die Liquidität der Assets und die finanziellen Sicherheiten, die unbedingt vorhanden sein muss, damit im Tausch der Derivate gegen Geld Profite erzielt werden, und der zweite Knotenpunkt bezieht sich auf die private Einfriedung der Informationen, die vom Kapital benutzt werden, um Profite zu erzeugen. Es handelt sich hier um institutionalisierte Formen der Gewalt, die von der unbedingten Unsicherheit der Kapitalakkumulation im Herzen des Finanzsystems selbst abhängig sind. Kann man die schon existierenden Finanzinstrumente und Derivate quasi benutzen, um das Finanzsystem selbst zu subvertieren? In diesem Sinne sind die Angriffe gegen die Knotenpunkte der Liquidität im heutigen Finanzsystem vielleicht in Beziehung zur potenziellen Arbeitermacht im Zeitalter der Kohleindustrien zu setzen. Diese Knotenpunkte machen das Finanzsystem verwundbar und öffnen es für kollektive Widerstandsformen. Die Bedrohung der Liquidität an den Finanzmärkten mutiert jetzt zum Komplement der Platzbesetzungen und der Okkupation der öffentlichen Räume. Können die Widerständigen zudem bestimmte Instrumente wie die Derivate  gegen diese selbst wenden, um sich endlich den sozialen Reichtum anzueignen und ihn neu zu verteilen?

Man muss heute dort angreifen, wo die Gefüge der finanzialisierten Kapitalakkumulation im Kontext der Vernetzung mit den Informationsindustrien ineinandergreifen. Damit ist sofort auch die Subjektivität der Datenproduzenten angesprochen. Oft genug dient die Informationsproduktion heute dazu, unser Nichtwissen über Risiken in der Vergangenheit zu reduzieren, aber dies nur, um unsere gegenwärtige Unsicherheit bezüglich der Zukunft zu erhöhen. Je mehr wir wissen, dass wir nichts wissen, um so mehr Informationen benötigen wir, um in Zukunft noch effizienter entscheiden zu können. Man mutiert heute definitiv zu einem Teil der Datenströme, indem man simultan am Finanzsystem, am Sicherheitssystem und im Internet partizipiert – Systeme, die über die Form der finanziellen Sicherheiten und der Sicherheitsdienste den finanziellen Reichtum herstellen und garantieren.

Wie können wir die kapitalistischen Logistiken und Operationen, die dazu dienen, Informationen zu extrahieren und zu verwerten, subvertieren, oder, um es anders zu formulieren, wie können wir die polit-ökonomischen Kapazitäten des Systems angreifen und die Knotenpunkte des finanziellen Systems okkupieren oder blockieren? Und warum sind für uns als Schuldner heute kollektive Widerstandsforrmen fast undenkbar geworden, während jede neue Schockstrategie des Kapitals eine Verschärfung der Kreditbedingungen bedeutet?

Es gibt eine Parallele zwischen der Schuldenproduktion und der Warenproduktion zu vermelden, gerade wenn es um die logistischen Widerstandsformen selbst geht: Es gibt heute eine relative Surplusproduktion, die die Spreads zwischen den finanziellen Instrumenten und Datenströmen zur Profitproduktion (Arbitrage)ausnutzt, und dies ist analog zur Marx`schen relativen Mehrwertproduktion zu verstehen. Die Funktion der Technologie im Kapitalismus besteht generell in der Erzeugung von Spreads, die die Arbitrage ermöglichen, um Renditen zu schaffen, die daraufhin entweder als Maschinen oder als finanzielle Assets akkumuliert werden. Das finanzielle Kapital generiert permanent neue Technologine, um diese Spreads zu erzeugen und zu kapitalisieren, wobei sie ständig neu bewertet werden müssen, insofern die Produktion per se auf die Zukunft hin ausgerichtet wird. Dazu bedarf eines immer ausgefeilteren Risikomanagements und der entsprechenden Derivate, und dies betrifft wiederum die zentralen Knotenpunkte der Finanzindustrie, die Ausgangspunkt für neue Widerstandsformen sein müssen, wenn man die Fragilität des Finanzsystems weiter angreifen und die finanzialisierten Wertschöpfungsketten unterbrechen will.

Heute werden die Daten durch das Finanzsystem, das Patentrecht und den Staat qua seiner Sicherheitsdienste garantiert, was oft genug miteinander konvergiert. Der Staat überwacht in Realtime den Börsenhandel, um ihn vor den Angriffen der Hacker zu schützen, während umgekehrt die großen Internetkonzerne (Google, Amazon und Facebook) ihre Intelligenz, Instrumente und Daten dem Staat über vertragliche Vereinbarungen zur Verfügung stellen. Es muss hier eine aufständische Logik der verteilten Unterbrechung der finanzialisierten Geldkapitalströme und der Informationen entwickelt werden, um möglicherweise in der Zukunft auch kollektive Aneignungen und Sozialisierungen des sozialen Reichtums vornehmen zu können. Die kollektive Unterbrechung, wie sie zum Beispiel schon der Bankrun darstellt, kann sich heute mit einer Unterbrechung abwechseln, die im Extremfall durch eine einzige Person, die zehn Millionen Kopien derselben Message oder desselben Algorithmus produziert, erzeugt wird. Manchmal braucht es nur wenige Akteure, um die finanziellen Wertschöpfungsketten lahmzulegen oder zu subvertieren. Wenn wir endlich realisieren, wie wenige Akteure es eigentlich benötigt, um das finanzielle System zu crashen oder illiquide zu machen (wobei die Form der singulären Aktion vom  Finanzsystem benutzt, um die Frage nach der Legitimität des Privateigentums in seinem Sinne zu beantworten), dann geht es of course gleichzeitig darum, kollektive Bewegungen zu schaffen, die breit genug sind, um die Sabotageakte, die in unserem Namen gemacht werden, zu legitimieren. Unsere gegenwärtige Situation ist doch die, dass die Leute permanent Informationen produzieren und Geld benötigen, während sie gleichzeitig zu hilflosen Subjekten des Prekären und der Überwachung degradiert werden.

Vielleicht geht es in Zukunft sogar darum, grenzenlos Geld, das weder Kredit noch Lohn ist, zu fordern. Heute wird das Geld geschaffen, indem permanent die Liquidität von Finanzinstrumenten erzeugt wird, die aktuell noch kein Geld sind, aber in Geld realiseiert werden. Wenn die Widerständigen aber Geld über neue zu erfindende Aneignungsformen einfordern und dafür die Derivate einsetzen, dann wäre dies als eine unmittelbare Forderung gegen das verleihende Kapital-System zu verstehen. Wir stünden dann vor der Situation, den Derivate-Kommunismus zu proklamieren.

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