Non-Philosophie als politisch/häretisches Traktat

1.

Oberflächlich betrachtet, könnte es so aussehen, als ob nicht-philosophische Texte die Gelegenheit böten, Probleme der Philosophie einfach zu umgehen – ihre Komplexität, ihren Wildwuchs, ihre in Opposition stehenden Lager, ihre Abstraktionen und Spezialisierungen – was der gewöhnlich Mensch auf der Strasse kompliziert nennt. Es könnte so aussehen, als ob Nicht-Philosophie ein Schlag zu Gunsten des gewöhnlichen Menschen wäre, gegen das Gewaber philosophischen Denkens, ein dröhnender Schlag gegen das Tor der philosophischen Festung – die Akademie. In der Tat, es ist so, aber nicht im gewöhnlichen Sinn.

Oberflächlich betrachtet mag es so aussehen, als ob einem eine nicht-philosophische Eingebung reichen könnte. Man wird bestimmte Termini kennen lernen – das Reale, das Gewöhnliche, den Menschen-aus-Fleisch-und-Blut, das minimal Transzendentale, das Sehen-des-Einen, die Determination-in-der- letzten-Instanz – die so aussehen, als ginge man mit ihnen der Sache direkt auf den Grund und zugleich seinen sie philosophischen Komplikationen ledig. Aber das nicht-philosophische Denken ist kein vereinfachtes oder leichter zugängliches Denken. Es ist kein Zugeständnis an diejenigen, die keine philosophische Ausbildung genossen haben, oder ein subversives Traktat gegen fette philosophische Schwarten – obwohl es seiner Funktion nicht gerecht wird, wenn es nicht subversiv funktioniert.

Man kann sagen, dass Nicht-Philosophie eine Ahnentafel der Subversion hat, wenn auch nur als ein Potenzial, welches innerhalb der radikalen Theorie nicht verwirklicht wurde, bis Laruelle definitiv die Idee der Unilateralität begründete – dass das Reale des Menschen das Denken, gibt aber nicht von ihm gegeben ist. Im Grunde genommen ist das ein bewusst kruder axiomatischer Materialismus, in dem die Substanz als lebendiges Fleisch das Denken ermöglicht, wobei jenes aber dem vereinnahmenden Zugriff des Denkens entgeht. Krude, weil auf er auf einer unilateralen Bestimmtheit besteht, die genau in der Form nicht weiter beschrieben wird, wie das Marx bezüglich der These über Feuerbach tat; axiomatisch, weil er sich weigert ein Konzept des Realen, des Menschen-aus-Fleisch-und-Blut, das aus den endlosen Iterationen philosophischer Entscheidung hergeleitet wird, anzuerkennen.

Das Problem besteht nicht darin zu wissen, ob unmittelbar Gegebenes existiert. Letzteres ist transzendental, ist immanent, und es entwickelt seine Relevanz aus sich selbst. In jedem Fall ist es wissenschaftlicher und weniger fehlerhaft unmittelbar Gegebenes dieses Types anzuerkennen und sich in ihm von vornherein einzurichten, anstatt transzendente Postulate in vereinheitlichender Manier auszurufen, rationale Fakten, wissenschaftliche, ethische oder ästhetische Fakten; oder schlimmer noch semi-empirische und semi-transzendentale Faktizitäten; und auf jeden Fall ist das besser als der Andere, die Transzendenz par excellence, die unmittelbare Stiftung der Transzendenz oder des Unendlichen. (François Laruelle, “A Rigorous Science of Man”, S. 71)

Die Aufkündigung ist die konzeptionelle Konsequenz aus einer Intuition, die sich im entschlossenen Widerstand des gewöhnlichen Menschen gegen seine Enteignung zeigt; seine hartnäckige Unfähigkeit anzuerkennen, dass seine Fesseln naturgegeben seien; die Erhebung einer allgemeinen oft undeutlich und oft in Religion aufgegangen allgemeinen Intuition zum ersten axiomatischen Prinzip, welche in der einen oder anderen Form existiert, seit es Menschen als vergesellschaftete Wesen gibt.

Aus dieser Perspektive betrachtet, können wir sagen, dass die Philosophie ihre aristokratische Herkunft beweist, wenn sie sich weigert einen hartnäckigen, wenn auch naiven Glauben an einen angeborenen freien Zustand jenseits und trotz einer Versklavung anzuerkennen, da von alters her eine derartige Idee den Status und die Macht des Philosophen bedrohte. Der Philosoph/Aristokrat war ja auf die Produktion von Überschüssen durch Arbeiter angewiesen, die seine Klasse und seine Tätigkeit ermöglichten, während er gleichzeitig das Maß bereit stellt, das sein Überlegenheit belegte; oder andersherum gesagt, er musste ermöglichen, dass der Körper des Arbeiters auf etwas reduziert wird, was gleich neben toter Materie angesiedelt ist. Im Kontrast zu diesem weniger als menschlichen Körper konnte der Philosophenkönig sich, in seiner feinsinnigen Gelahrtheit, als geradezu übermenschlich darstellen. In der spontanen Verachtung des Fleisches durch den Philosophenkönig, sehen wir das Spiegelbild des Widerstandes des Arbeiters – der Gebildete sah sich zu Recht unangenehm an die demokratische Natur der einen Herkunft erinnert und musste daher den rohen Instinkt zu einer verfeinerten Empfindung machen, diese zur Kognition, diese wiederum zu philosophischen Postulaten, um dann von diesen luftigen Höhen aus die Animalität seiner für ihn arbeitenden menschlichen Habe zu deduzieren. In dieser Weise bewerkstelligte er gedanklich die Trennung seiner feinsinnigen Bestrebungen von der Rohheit des Fleisches, eine Trennung die er in der Tat schon lange dadurch vollzogen hatte, dass er ein willkürliche Arbeitsteilung einführte, die von höchster Stelle sanktioniert war – indem Statuten und Gesetzte im Diesseits festgeschrieben wurden, die Repräsentanten einer Transzendenz übermittelten, die jenseits des Fleisches angesiedelt war – durch den König als rechtmässigen Stellvertreter Gottes auf Erden. Einem Gott, der mittels ein paar billiger  Taschenspielertricks, die dem Arbeiter entgingen, vom selben Philosophenkönig im Himmel installiert wurde, der nun sein weltlicher Herr war. Durch diese doppelt transzendente Institution wurde der Arbeiter zum Arbeitstier in den Feldern und Fabriken seines Herren und zu einer Fußnote in seinen gelehrten Abhandlungen über das Gesetz und die Philosophie – über die Rechtsphilosophie und Philosophie als Gesetz. Das ist der Grund dafür, dass der Arbeiter in seiner Wut die gesamte Klasse der Besitzenden und ihrer theologisch-philosophischen Apologeten als Blutsauger bezeichnet, die die Masse der Arbeiter aussaugt.

Unter den Unterdrückten gab es eine Gemeinsamkeit proto-revolutionärer Gedanken und Taten. Wir haben das über Erzählungen, religiöse Mythen, in der Poesie des gesprochenen und gesungenen Wortes, in gradlinigen Rhythmen von populärer Musik und Tanz und sogar in Schlafliedern, die wir unseren Kinder singen, geerbt, obwohl der allgegenwärtige Prozess der Globalisierung unsere Verbindung zu derartigen Traditionen zu zerstören droht. Im expressiven Unmittelbaren der Musik und der ekstatischen Gestalt des Tanzes wurde die unilaterale Gegebenheit des Fleisches ausgedrückt, seine irreduzible Anmut. In der Erfahrung der Gemeinsamkeit der Arbeit, nahm die Idee der Gemeinsamkeit des Menschen-in-Fleisch-und-Blut Gestalt an. Dieser unausgesprochene Kommunismus, diese Idee des Kommunismus, ist so alt wie Arbeit, so alt wie das Lied und der Tanz.

Auf dem Höhepunkt der Englischen Revolution war der Kommunismus ein Gerücht, das sich die Arbeiter auf dem Feld und im trüben Licht ihrer vorindustriellen Arbeitsstätten zuflüsterten; es wurde in Balladen gefeiert und in Ritual und Tanz ausgelebt; es manifestierte sich im Fleisch in Form lang vergangener kollektiver Revolten; es war ein Gedanke, über den Arbeiter und Bauern grübelten, während die Unzufriedenheit an ihnen zehrte. Als man noch mit der Sichel schnitt und der industrielle Hammer lediglich eine latente Möglichkeit war, hatten diese beiden Klassen die Wahrheit längst durch die brutalen Umstände erkannt: die Erde und ihre Früchte gehören dem Arbeiter. So haben es die Propheten von alters her gesagt.

Jeder Handelsmann soll sich die Dinge, mit denen er arbeitet, die da sind zum Beispiel Leder, Wolle, Flachs, Getreide und dergleichen, aus den öffentlichen Lagerhäusern holen, ohne zu kaufen oder zu verkaufen; und wenn bestimmte Dinge wie Kleider, Schuhe, Hüte und dergleichen hergestellt werden, so soll der Handelsmann diese zu den für sie bestimmten Kaufläden bringen, ohne zu kaufen oder zu verkaufen. Und jede Familie, soweit sie diese Dinge braucht, sie aber nicht selbst herstellen kann, soll zu diesen Läden gehen und sich von diesen Dingen nehmen, ohne dafür Geld zu geben, selbst wenn sie heute noch Geld geben, denn so ist es jetzt richtig. (Gerrard Winstanley, “The Law of Freedom in a Platform”, 1652)

Dieses Gesetz der Freiheit wurde im Zuge einer neuen Erfindung verbreitet – der Druckerpresse. Höchst wahrscheinlich war der neue Prophet der örtliche Drucker. Kraft seiner Arbeit begann das politisch-häretische Traktat seine volle Wirkung zu entfalten. Diese Traktate wurden von Hand zu Hand gereicht und die, die lesen konnten, lasen es denen vor, die nicht lesen konnten. Sie waren die Antwort der armen Leute auf die ledergebundenen Schwarten ihrer säkularen und religiösen Herren. Die unverschämte Botschaft dieser Traktate war, dass die Herrschaft zu einem Ding der Vergangenheit gemacht werden sollte, dass alle Unterschiede beseitigt werden sollten und dass eine gemeinsame Basis ohne Unterschied der Geburt, der Bildung oder des Gewerbes geschaffen werden sollte. Es gab nichts Niedriges an dieser Großen Idee oder an den Mitteln, mit denen sie in die Tat umgesetzt werden konnte. Es gab gewiss auch nichts Utopisches an ihr, denn es war nicht die Frage, ob man fern in der Zukunft den Himmel auf Erden schaffen könnte, sondern die Möglichkeit, das Gesetz der Freiheit im Hier und Jetzt zu schaffen. Kein Unterdrückter musste hiervon überzeugt werden, nur von der Möglichkeit der Umsetzung. Die Wurzel der Unterdrückung wurde nicht von Gelehrten entdeckt, sondern von denen, die unter ihr litten.

Ich bin sicher, dass wenn man es richtig untersucht, man finden wird, dass solch inneren Fesseln des Geistes wie Habsucht, Stolz, Heuchelei, Neid, Sorge, Angst, Verzweiflung und Irrsinn alle von den äusseren Fesseln verursacht werden, die die eine Art Menschen den anderen auferlegt. (Winstanley, a.a.O.) 

Ein solcher Gedanke ist das Generische allen radikalen Denkens, eine Häresie nur dem Adeligen und dem Theologen/Philosophen. Er entstand aus der offenkundigen Gemeinsamkeit der Erfahrung der Unterdrückten; es ist ein immanenter Gedanke der unilateralen Determination des Fleisches, die Leben in Form eines ungegeben-Gegebenen gab. Die Beharrlichkeit dieses uralten Gerüchtes über den Vorrang des Fleisches war die logische Folge der hartnäckigen Beharrlichkeit des tatsächlichen Fleisches des Arbeiters gegenüber einem verrohten sozialen Systems. Es drückte die Widerstandsfähigkeit angesichts eine unbarmherzigen Unterdrückung aus, genauso wie sein Gespür dafür, dass seine Widerstandsfähigkeit der natürliche Ausdruck der Verfassung all der Myriaden an Lebensformen ist, die er alltäglich in seinen Zusammenspiel mit anderen Menschen, mit Tieren und mit Pflanzen beobachtete. 

Wir können in Foucault’scher Manier schlussfolgern, dass Widerstand gegen Norm/ativität darin besteht, gegen Desintegration Widerstand zu leisten. Widerstand besteht darin, als Ganzes zu bleiben, als Eins, als das Selbe. Mit anderen Worten, Widerstand ist Überleben. Überleben oder Selbsterhaltung ist der Ursprung von Widerstand und Kritik, wobei paradoxer Weise das revolutionäre Pozential aus dieser fundamental konservativen Haltung der Selbsterhaltung stammt. Die Fortdauer als (körperliche) Einheit, muss verstanden werden als die Determination in der letzten Instanz des Widerstandes (des Subjektes). Das, was die permanente Veränderung überlebt, die die Macht aufzwingt, das Beharrungsvermögen, das was fortbesteht – widersteht. (Katerina Kolozova, “The Lived Revolution”, p. 44, ihre Hervorhebung)

Laruelles Idee, dass der Mensch-im-Fleisch die Enteignung durch philosophisches/ideologisches Denken, egal ob konservativ, revolutionär oder welcher Art auch immer, aufkündigt, ist die Große Idee in ihrer modernen Form. Es ist eine Idee, die der gewöhnlichen menschlichen Erfahrung als die Wahrheit unserer Immunität gegen eine Reduktion auf eine philosophisch bestimmte Essenz spontan zugänglich ist. Es ist ein Humanismus in-der-letzten-Instanz, ohne dass dieser eine humanistische Ontologie wäre, da der Mensch-im-Fleisch jeder Idee vom Menschen als Fleisch vorausgeht. Es ist Freiheit als eine axiomatische erste Benennung – eine Bestimmung,  die nicht zu einer transzendenten Wahrheit erhoben werden kann, die in der Folge auf das Fleisch als Form einer philosophischen, politischen, sozialen, moralischen oder ethischen Schikane zurück projiziert werden kann. Laruelle hat den Kernpunkt der Grossen Idee für uns wieder zur Verfügung hergestellt. Seine Idee der Unilateralität, die er mittels eines anhaltenden Prozesses der Abstraktion aufbaut, macht ihn zu einem Leveller der Moderne, der Maschinerie der Unterdrückung der Moderne und des Staates wie wir ihn kennen.

11.

Wie sind gemäß der Nicht-Philosophie a priori, das Eine, das Reale. Sobald wir jedoch beginnen, das Eine zu repräsentieren, wenn auch nur in seiner transzendental minimalen Form (jeglicher philosophischen Transzendentalität beraubt), beginnen wir mit einer (gedanklichen) Vervielfältigung und allem, was diese impliziert. Abstraktion und Komplexität zum Beispiel, alles was die Arbeitsteilung des Denkens (Spezialisierung) zu überwinden versucht, indem sie Elemente der jeweiligen Aufgabe unter Spezialisten verteilt – das ist die akademische Praxis der Philosophie. Nicht-philosophische Praxis geht meistens innerhalb dieses philosophischen Systems von Spezialisierungen und innerhalb der derzeitigen akademischen Strukturen vor sich, nicht außerhalb. Das von der Nicht-Philosophie postulierte ‘Außerhalb’, wie auch das ‘Reale’, ist eine Beschaffenheit oder ein Zustand vor allen Gedanken über diesen Zustand – aber dieser vorausgehende Zustand des ‘Realen’ ist keine spontane ‘Reflexion’. Bewusstsein oder Wahrnehmung sind keine passiven Spiegelungen des Realen, die über philosophische Gedanken – als eine Denktätigkeit, die versucht, das Reale zu erfassen – hinaus gehen würden oder gegen sie angestellt werden könnten. Nicht-Philosophie ist nichts davon, obwohl es des akkumulierten Wissens der Philosophie bedarf, um zu funktionieren, da es eine performative Praxis auf Basis des Materials der Philosophie ist.

Nicht-Philosophie spricht vom Menschen aus Fleisch und Blut, aber dies ist eben nicht der Mensch aus Fleisch und Blut, den man auf eine historisch determinierte Unmittelbarkeit reduzieren kann – auf uns als Personen aus Fleisch und Blut in einer spezifischen sozialen, physischen und psychologischen Situation. Die Nicht-Philosophie spricht diese Person nicht direkt an. Sie postuliert das a prioi Reale des Menschen, welches dem Denken verschlossen bleibt und auf welches die Nicht-Philosophie nur mittels eines axiomatischen ersten Namens verweist. Mit anderen Worten, der nicht-philosophische Mensch aus Fleisch und Blut verspürt weder Schmerz noch vergießt er Blut. Tatsächlich ist er ohne jegliche Qualität in Relation zum bösen Blick des Philosophen.

Dies ist so, weil die Nicht-Philosophie absolute nichts über den Menschen als real zu sagen hat. Nicht-Philosophie ist eine Arbeit mit dem Material der Philosophie. Sie zeigt, wie die Form der Entscheidung die  philosophische Vereinnahmung des menschlichen Realen vollzieht und es zu etwas beliebig durch die Philosophie determiniertem macht. Sie befreit den Menschen, der in der Tat Schmerz fühlt und Blut vergießt, von der hegemonialen Verunglimpfung durch die von den Philosophen durchgeführte Enteignung und setzt den Menschen im Fleisch als Determination in der letzten Instanz.

Der nicht-philosophisch gesetzte Mensch ist ein Gedanke strenger Abstraktion – ein generischer Gedanke des Realen und nicht der eines generischen Realen. Ein solcher Gedanke (das generisch Reale) ist eine Unmöglichkeit und ist in der Tat der Gedanke vom philosophischen Realen als Sein. So wie jedoch Laruelle diesen Begriff einsetzt, bezeichnet Sein die philosophische Halluzination des Menschen – seine Ausbeutung als Rohmaterial für Soziologie, Anthropologie und Psychologie – in ihrem Projekt der Enteignung. Diese halluzinierte Sein ist ein Gebräu aus der immanenten Form der Qualitäten, die von den Humanwissenschaften als typisch menschlich ausgemacht werden (biologisch, sozial, psychologisch usw.) und der synthetisierenden Einheit, die diesen Kategorien durch die Philosophie als den transzendentalen Vermittler des Realen verliehen werden. Das ist es, was der Mensch ist. Sagt die Philosophie.

Laruelle entwickelt den Gedanken des Menschen-im-Fleisch durch strenge philosophische  Abstraktion, die in ihren Mitteln exklusiv ist (d.h. größten Teils der Akademie oder zumindest Akademikern vorbehalten) und demokratisch in ihrem Ergebnis – ein Gleich-Machen [levelling] der ontologischen ‘Werte’ von Gedankengebäuden untereinander und gegenüber dem Horizont des Realen. Vom Realen her spricht Nicht-Philosophie über das Reale als ein Gedanke-letzter-Instanz, als einem von den Exzessen des Transzendentalen entleerter Gedanke. Die strenge Abstraktion macht der Abstraktion ein Ende, sie macht den endlosen Iterationen des Menschen, die dem Leben von der Philosophie aufgezwungen wird, eine Ende, Nicht-Philosophie macht an der Wurzel gleich [levels].

Was wir hier beschreiben, ist das Gefüge des gewöhnlichen Menschen. Gefüge, die individuell sind und im Licht der Klugheit und der Vernunft unsichtbar. Es sind keine idealen Essenzen, sondern endliche und unveräußerliche (und folglich unumgängliche) gelebte Erfahrungen. (François Laruelle, “From Decision to Heresy”, back cover)

Fazit ist, dass nicht-philosophisches Denken über philosophisches Denken hinaus geht und zu einem strengen und abstrakten Denken vordringt, um zu einem minimal transzendentalen Gedanken zu kommen, der Vision-in-Eins des Realen. Man entgeht der Strenge philosophischen Denkens nicht, nur der Hoffnung, das Reale enteignen zu können.   

Merkwürdigerweise bedingt gerade die Einfachheit und Direktheit dieser Art des Denkens, die wir endlich hier in unserer Welt vor uns haben, strenge konzeptionelle Arbeit. In jedem Falle vermeiden wir die Gleichsetzung des wirklichen menschlichen Gewöhnlichen mit Vulgarität oder Anti-Philosophie, indem wir von vornherein betonen, dass technische und konzeptionelle Ausgereiftheit für die Ausarbeitung der Beziehung der Nicht-Philosophie zur gewöhnlichen Erfahrung unvermeidlich ist. (Rocco Gangle, “Laruelle and Ordinary Live”, p. 62, meine Hervorhebung)

Ein technisch und konzeptionell anspruchsvoller Text folgt einem solchen Anliegen auf jeden Fall, in dem er beispielsweise betont, wie die abstrakte Natur des nicht-philosophischen Projektes den Begriff vom gewöhnlichen Leben nicht auf unser gewöhnliches Leben bezieht, sondern auf die Untersuchung zweier philosophischer Texte – Husserls “Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie” und Ryles “Der Begriff des Geistes”. Man benötigt ein solides Wissen, der zeitgenössischen Philosophie, wenn nicht sogar eine Spezialisierung in Phänomenologie und Linguistik, um diese Texte, die das gewöhnliche Leben nur am Rande streifen, zu verstehen.

Als Beispiel für die Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert sind, hier eine Stelle aus Laruelles Vorwort aus dem “Dictionary of Non-Philosophie”:

Das Vokabular der Nicht-Philosophie ist das der Philosophie, doch jeder Begriff wird kontinuierlich von seinem Sinn her, in seiner Darstellung und manchmal in seinem Signifikanten überarbeitet. Diese Sprache stammt von überall in der Tradition […]. Nicht-Philosophie ist nicht an eine bestimmte Tradition gebunden, weil sie eine Theorie und eine Pragmatik jeder Philosophie ist, egal ob faktisch oder möglich, vergangen oder zukünftig. Daher der Effekt der Überdetermination, die Notwendigkeit breit gefächerter Varianten von Sprachen und die der Geläufigkeit in “Sprachspielen” […]. (François Laruelle, “Dictionary of Non-Philosophy”, p. 20, meine Hervorhebung)

Bleiben wir also zwingend dem Philosophen und der Akademie verbunden? Die Antwort scheint Ja zu sein, aber das muss durch einer berühmten Erklärung ergänzt werden:

“Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.” (Karl Marx, 11. Feuerbachthese)

Oder wie es Winstanley lang vor Marx formulierte:

Mein Verstand war aber nicht befriedigt, denn nichts war getan, während Gedanken in mir umgingen, dass Worte und Schriften leer seien und zu Nichts führten, wo doch das Handeln alles im Leben ist, und wer nicht handelt, nichts tut. (Winstanley, a.a.O.)

111.

Denken ist eine Form der Kriegsführung der Unterdrücker gegen die Unterdrückten. Es ist auch ein Schutz gegen solche Angriffe. Wenn es einmal so weit ist, dass die Unterdrückten zum Angriff übergehen, im Denken wie auch im Fleisch, dann ist es immer eine Frage, die Große Idee in der einen oder anderen Form zu denken und auszusprechen, die subversivste Idee überhaupt zu denken und auszusprechen, die Idee, die von den herrschenden Klassen am meisten gefürchtet wird: Die Erde und ihre Früchte gehören dem Arbeiter. Das ist dort am bedeutsamsten, wo spontane Formen des Denkens auftreten (was man als lokales oder indigenes Denken bezeichnen könnte), die aus spezifischen Konzentrationen sozialen Miteinanders heraus entstehen, zum Beispiel Konzentration von Arbeitern in grossen Fabrikanlagen. Hier betrifft die Große Idee den Preis der Arbeit und die Arbeitsbedingungen genauso wie eine tieferliegende Unzufriedenheit mit der mangelhaften Macht über das eigene Leben, über den eigenen Leib, seinen Gebrauch und seine Zukunft. Dabei geht es nicht um eine passive Betrachtung der Welt als Objekt, sondern um eine Frage, die einfach aus der Notwendigkeit heraus entsteht, das Essen, das man gerade isst, zu verteidigen. Es geht um eine praktische Frage, in der Gedanken und Handlung als das Eintauchen in ein Kontinuum erfahren werden, in dem Ereignisse einander ununterbrochen folgen – Gedanken, Wahrnehmungen, Abstraktionen, Pläne, Ängste, Hoffnungen, Träume, Berechnungen, Aktionen; das, was Marx als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis bezeichnet hat, um diese von rein philosophischem Denken abzugrenzen. (vgl. 1. Feuerbachthese).

Die historische Kolonialisierung der Kultur des Denkens der Fabrik ist so real wie die Kolonialisierung der geografischen Räume Afrikas, Nord- und Südamerikas oder Asiens.

Indem diese Priesterkaste die Kirche der Moderne begründet, ist sie von Beginn an integraler Bestandteil beim Aufbau einer umfassenden kolonialen Arbeitsteilung. Diese neuen Priester beschwören mittels der Geschichte eine Teilung in Traditionell/Modern – eine Unterscheidung in alte und neue europäische Gesellschaften – und sie scheiden mittels der Anthropologie (später auch mittels der Soziologie) die Kolonisierten von den Kolonisatoren. Die lebenden Wissenstraditionen der Kolonisierten werden für tot erklärt, wenn sie in unserer Gegenwart ankommen. Ihre Kosmologien, Philosophien und sozialen Praktiken werden in opaken “Kulturen” zu Grabe getragen, deren Inhalte nur von den Gralshütern [der Philosophie] erhellt werden können. (Robbie Shilliam, “Living Knowledge Traditions and the Priestly Caste of the Western Academy”)

Das ist genau die Form von Unterwerfung, die Laruelle im Sinn hat (er nennt es Verunglimpfung), wenn er beschreibt, wie die Nicht-Philosophie gegen den Gebrauch des “gewöhnlichen Menschen” als erste Bezeichnung [first name] opponiert.

Wenn die Philosophie eine Anthropo- oder Androeidetik ist, müssen wir dem Androiden oder Anthropoiden der Philosophen systematisch den ‘gewöhnlichen Menschen’ mit seiner unveräußerlichen Essenz (die vor allem keine causa sui ist…) entgegenstellen – das heißt dem homo ex machina als Teil der philosophischen Maschine des Seins, der Begierde, des Staates, der Sprache etc. Der Mensch in seiner wirklichen Essenz ist innerhalb des Horizontes dieser Voraussetzungen, die auch die der Humanwissenschaften sind, nicht sichtbar. (Francois Laruelle, “A Rigorous Science of Man”, S.44, seine Hervorhebung)

Es lohnt sich Shilliam ausführlich zu zitieren, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie die Akademie bei ihrer intellektuellen Okkupation vorgeht:

Die Priesterkaste hütet ihren Gral, indem sie eine epistemische Teilung zwischen Wissensproduktion und Wissenskultivierung vornimmt. […] Wenn man sich die lateinischen Wurzeln dieser Begriffe ansieht, bemerkt man, dass produzieren verlängern, ausdehnen und erweitern bedeutet, während kultivieren bewirtschaften, die Dinge umwenden und auf sich selbst zurückfalten, um Wachstum zu fördern, bedeutet. Wissensproduktion ist weniger ein kreatives Schaffen und mehr ein Prozess der Akkumulation imperialer Ausdehnung, die sich als “Wissen um des Wissens Willen” ausgibt. […] In dieser kolonialen Wissensteilung erlaubt sich die Kaste der Priester als die der Wissenden, ihre eigenen Traditionen zu kultivieren und sie produktiv in die Zukunft auszudehnen. Daher erteilen sie sich selbst das Privileg, die Kultivatoren (für sich) und die Produzenten (für alle anderen) zu sein, genauso wie sie Tradition und Moderne sind. Ausgehend von ihrer eigenen europäischen Gattung, projiziert die Priesterkaste ihre Wissenstradition entlang historischer und räumlicher Bahnen in einer Linie, die keinerlei Abweichung erlaubt. Rezipienten sind in diesem intellektuellen Prozess keine kreativen oder gar selbstbestimmten Partner. Sie habe lediglich produzierte Ideen zu empfangen und zu kommunizieren und sie weiterzuverbreiten. Die Kolonisierten und ihre Nachfahren als diejenigen, über die man Bescheid weiss, befinden sich immer in einer Aufholjagd mit der Produktion von jemand anderem. (Robbie Shilliam, a.a.O.)

Das kolonisatorische Projekt der Akademie durchquert die Zeit wie auch den geografischen Raum. Ein Beispiel ist die Vereinnahmung  früherer Befreiungsbewegungen mit dem Mitteln eines plumpen Historizismus. Die Bezeichnung “primitiver Kommunismus” zeigt exemplarisch den Prozess, in dem eine komplexe menschliche Situation, eine Situation-im-Fleisch, auf nichts als den Vorläufer eines sozialen Projektes reduziert wird, das erst später als ein Aspekt der Moderne sein volles Potential entfaltet. Die verächtliche Benutzung des Begriffs Utopischer Sozialismus ist ein weiterer Versuch einer solchen Inbesitznahme. In ihr wird die Zukunft in ihrer Eigenheit in einer Weise festgelegt, die nur dem philosophischen Orakel zugänglich ist, während alle anderen Gedanken über eine kollektive Zukunft als Vorstellungen einer unwissenschaftliche Folklore abgetan werden. Dies kommt einer Kolonisierung gleich, in deren Zuge der Philosoph das sich in der Zeit entwickelnde gemeine Volk enteignet und die Resultate als Denken nutzt, das in der Lage ist, Vergangenheit und Zukunft der Unterdrückten einzunehmen, um so Ergebnisse gemäß des Diktats des Philosophen herbeizuführen.

Sind wir also dazu verdammt, Sklaven einer Teilung in intellektuelle und physische Arbeit zu sein, die uns durch kapitalistische soziale Relationen aufgezwungen wird, bedingt durch ökonomische Strukturen der Ausschließung, des Besitztums und der Macht, mit dem Staat als Garanten existierender Verhältnisse?  Wir befinden uns in einer paradoxen Situation. Das Projekt der Nicht-Philosophie, einen Gedanken des unveräusserlichen menschlichen Realen zu entwerfen, muss sich mit Hilfe eines qualvollen Abstraktionsprozesses vorwärts kämpfen, der völlig auf Arbeitsteilung beruht – mit der Akademie und ihren Produkte, dem Material der Philosophie – dessen primäre Funktion die ist, repressive soziale Verhältnisse des Besitztums, der Macht und der Ungleichkeit zu reproduzieren.

Was tun? Wir können damit beginnen, worauf Laruelle in der Tat insistiert, uns selbst im Gegebenen des Menschen als endliche gelebte Essenz zu begründen, einer, die gegen die Enteignung durch das philosophische Denken immun bleibt. Es ist eine Frage des Denkens und Schreibens, um die Möglichkeit der Veränderung zu ermöglichen, wobei unser Verhältnis zum Text zwischen der philosophischen Schwarte und dem Text als Waffe und Werkzeug unterscheiden muss. Dies ist dann viel mehr ein ins Leben integrierte Denken, als dasjenige, welches von höherer Warte aus und als akademische Fingerfertigkeit sich den Dispens in Form eines fadenscheinigen Wissen um des Wissens Willen ausstellt.

Zwar gibt es zu diesem Zeitpunkt gewiss also noch Bücher, aber sie sind nur noch da, um die gefräßige Aktivität VERLEGERISCHER VIREN zu beherbergen. Das verlegerische Virus stellt den Grundsatz der Unvollständigkeit und des grundlegenden Ungenügens aus, auf dem der veröffentlichte Gegenstand beruht. Dieser birst vor überdeutlichen Anspielungen und in gröbster Weise praktischen Angaben – Adresse, Kontakt etc. – mit dem Ziel, die ihm fehlende Gemeinschaft, jene noch schemenhafte Gemeinschaft seiner wahren Leser, zu verwirklichen. Im Handumdrehen verweist er den Leser an eine Stelle, von der ihm jede Distanznahme, oder wenigstens jede unbeteiligte Distanznahme, unmöglich sein wird. (Tiqqun, “Brief an den Verleger”, Hervorhebung Tiqqun)

Wie schaffen wir eine solche Gemeinschaft?

Shilliam hat einen praktischen Vorschlag:

[…] [M]an muss diesem Glauben abschwören, sich vom kolonialen Epistem distanzieren, die Flamme der Offenbarung der Moderne auslöschen, die schwachbrüstigen (angepassten) westlichen, weissen Propheten abschütteln und sich (selbst wenn auch nur gelegentlich) an den Scheideweg begeben anstatt in der Agora zu sitzen. Du musst deine andere Gemeinschaft […] wiederfinden, an ihrer Emanzipation [redemption] teilhaben und du musst deine Privilegien weise nutzen. Man muss offen sagen, dass unmögliche, unregierbare Gemeinschaften mit ihren vitalen Wissenstraditionen existieren und dass das Problem der Repräsentation eine Strategie des Aufschubs ist, die den demokratischen Dialog mit diesen Gemeinschaften verzögert. Wenn du das tust – wenn wir das als kritische Masse täten – würde das das Ende der westlichen Akademie herbeiführen. Unsere Karriereaussichten würden sich ändern, vielleicht zum Besseren. (Robbie Shilliam, a.a.O.)

Das wäre tatsächlich ein guter Anfang!

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Bibliografische Angaben

Rocco Gangle, “Laruelle and ordinary life” in “Laruelle and non-philosophy”, 60-79, ed. by John Mullarkey and Anthony Paul Smith, 2012.

Katerina Kolozova, “The Lived Revolution“, S. 44, 2010.

François Laruelle, “A Rigorous Science of Man” in “From Decision to Heresy”, 33-73, 2012.

François Laruelle, “Dictionary of Non-Philosophy”, 2013.

Karl Marx, “Thesen über Feuerbach”, 1888.

Robbie Shilliam, “Living Knowledge Traditions and the Priestly Caste“, Web, 2013, Zugriff 2.5.2014.

Tiqqun, “Brief an den Verleger”, in “Theorie vom Bloom”, 2003.

Gerard Winstanly, “The Law of Freedom in a Platform“,Web, 1652, Zugriff 3.2.2015.

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Übersetzung (Text und Zitate) Matthias Steingass. Bei den Laruelle-Zitaten ist zu beachten, das sie Sekundärübersetzungen aus dem Englischen sind.

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