Sitzen, voll Scheisse

 Die Vertrautheit der Academy-Routine bekam etwas bedrückend Kumulatives. Sämtliche Gelegenheiten, wo ich mich die unverputzten Zementstufen im Treppenhaus hochgeschleppt und mein schwaches rotes Spiegelbild im Lack der Brandschutztür gesehen hatte und dann die 56 Schritte den Korridor entlang zu unserem Zimmer gegangen war, die Tür geöffnet und leise wieder ins Schloss gedrückt hatte, um Mario nicht zu wecken. Ich durchlebte noch einmal all die Schritte all der Jahre, sämtliche Bewegungen mit allen dazugehörigen Atemzügen und Pulsschlägen. Und dann die Gesamtzahl, wie oft ich die selben Prozesse noch würde wiederholen müssen, Tag für Tag, in unterschiedlichen Beleuchtungen, bis ich meinen Abschluss machte und wegzog, und dann begann der genauso erschöpfende Prozess der Auszüge aus bzw. Rückkünfte in Wohnheime irgendeiner Tennisstarken Universität. Der vielleicht schlimmste Teil der Epiphanie betraf die unglaublichen Lebensmittelmengen, die ich im Rest meines Lebens noch verzehren würde. Mahlzeit für Mahlzeit, plus die Snacks. Tag für Tag für Tag. Die Erfahrung dieses Essens in toto. Allein der Gedanke an das ganze Fleisch. Ein Megagramm? Zwei Megagramm? Ich sah deutlich das Bild eines großen, kühlen, hell erleuchteten Raumes vor mir, der vom Boden bis zur Decke mit nichts als den leicht panierten Hühnerbrüsten vollgestapelt war, die ich in den nächsten sechzig Jahren zu mir nehmen würde. Die Unmenge an Geflügel, das für den Fleischbedarf eins Lebens viviseziert wurde. Die Unmengen an Salzsäure, Bilirubin, Glukose, Glykogen und Glokonol, die von meinem Körper produziert, absorbiert und produziert würden. Dann ein weiterer, dunklerer Raum, gefüllt mit den steigenden Exkrementmassen, die ich produzieren würde, die doppelt verriegelten Stahltüren, die sich unter dem steigenden Druck immer mehr nach außen bogen … Ich tastete nach der Wand hinter mir und blieb gekrümmt stehen, bis das Schlimmste vorbei war. – David Foster Wallace, “Unendlicher Spass”, S. 1287 f.

 

Sieht man sich Buddhas erste edle Wahrheit an, könnte man meinen, der Anfang sei eine selbstverständliche aber auch entscheidende Erkenntnis: Alles Scheiße.

Ich meine das wörtlich. Scheiße offenbart die grundlegende Struktur des Lebens: Leben ereignet sich in Körpern und Körper sind Orte des Geschehens.

Ich bin ein Körper, ein Mund und ein Anus. Ich habe ein Gehirn, aber dieses Hirn ist auf einen Mund angewiesen, auf einen Magen und auf etwa acht Meter Darm. Ich habe ein Herz um Energie durch den Körper zu pumpen, eine Lunge um sie zu verbrennen, ein Nervensystem um sie ausfindig zu machen, ein Gehirn um auszuhecken, wie ich an sie rankomme und Gliedmassen mit denen ich sie mir einverleibe. Ich tue die Welt in meinen Mund und sie durchquert mich.

Was ist das Offensichtliche, das ich über das Leben sagen kann? Ich bin hungrig.

Körper sind Orte des Geschehens, nicht der Stasis. Was man isst, kann man nicht bewahren, höchstens kurz. Die Verdauung ist der Puls intrathorakaler Zeit. Das Rumpeln in den Eingeweiden ist die manifeste Vergänglichkeit. Das Leben ist dieses Geschehen. Nur der Tod ist ohne Scheiße.

Die zweite edle Wahrheit ist, daß alles Scheiße ist weil wir Hunger haben und es dieser Hunger ist, der uns am Leben erhält. Ich meine das nicht metaphorisch. Dieser Hunger ist grundlegend und durchdringt alles. Jede einzelne Zelle will immer mehr.

Satt und wohl genährt, ist es leicht, diesen Hunger zu übersehen. Essen ist wie Sex (oder Sauerstoff): Solange man es hat, ist es nicht der Rede wert.

Ein Körper jedoch, der stets dieses Verlangen erfüllen muss, hört damit nicht einfach nur auf, weil er satt ist und die Scheisse sich zu türmen beginnt. Der Körper ist zu verwöhnt, als dass er je befriedigt wäre, er hat Angst davor, wirklich zum Ende des Mahls zu kommen – und er hasst den Mangel.

Hunger besteht aus Zeit und zeigt sich in tausend Verstellungen.

Die dritte edle Wahrheit ist, daß du die Wahrheit des Hungers durch Langeweile begreifst. Langeweile erscheint wenn der Mangel endet, der Hunger aber bleibt. Langeweile ist die ruhelose Dauer des Hungers trotz der Fülle. Es ist die Enthüllung des Charakters des Hungers, es ist die Offenbarung, dass nichts jemals genug sein wird. Die Maschinerie müht sich weiter ab, auch wenn es längst nichts mehr zu tun gibt.

Die Lange Weile ist das Versagen eines jeden Entwurfs, das Ende aller Projekte, Pläne und jeder Ideologie. Sie bedeutet, mit dem Wurm zu sitzen, voll scheiße, ohne dass er je aufhört, sich zu winden. Sie enthüllt Hunger als solchen. Ohne Hoffnung, er könne je enden. Sie ist das Ende der Hoffnung.

Die vierte edle Wahrheit ist, daß du sie praktizierst.

Was ist das Offensichtliche, das man über sie sagen muss – darüber, einfach nur dazusitzen?

Es ist langweilig. Es ist scheisslangweilig. Es ist todlangweilig.

Stundenlang sitzen. Tagelang. Wochen- und monatelang. Die Scheisse raus langweilen und den Hunger üben, da er einen doch sowieso am Leben erhält, anstatt vor ihm davon zu laufen.

Das Unwissen fürchtet diese Lange Weile (zu Recht) und meidet ihre Offenbarung.

Setz dich doch und freunde dich mit dieser Hoffnungslosigkeit an, mit diesem Ende. Lass dir die Lange Weile lang dein Leben zeigen, deinen Körper, deinen Mund und deinen Anus, deinen Kopf und deine Hände und Füße, deine acht Meter Darm.

Reglose Füße unter Toilettenkabinentüren haben etwas Demütiges, ja Friedfertiges. Die Defäkationshaltung ist eine Demutshaltung, geht ihm durch den Kopf. Kopf gesenkt, Ellenbogen auf den Knien, Hände zwischen den Knien gefaltet. Ein buckliger, zeitloser, unvergänglicher Archetyp des Wartens, fast religiös. Luthers Schuhe auf dem Boden neben dem Nachttopf, seelenruhig, vielleicht aus Holz, Luthers 16.-Jahrhundertschuhe, in Erwartung einer Epiphanie. Das stumme, bewegungslose Leiden ganzer Generationen von Handelsvertretern in Bahnhofsklos, Köpfe gesenkt, Hände gefaltet, polierte Schuhe reglos, in Erwartung der sauren Entleerung. Die Puschen der Hausfrauen, die staubigen Sandalen der Zenturionen, die genagelten Schuhe der Hafenarbeiter, die Pantoffeln der Päpste. Alle warten, gerade ausgerichtet, wippen ein bisschen auf und ab. Baumlange Kerle mit buschigen Brauen, in Felle gehüllt, hocken knapp außerhalb des Feuerscheins, zusammengeknüllte Blätter in der Hand, wartend. – David Foster Wallace, “Unendlicher Spass”, S. 148 f.

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Adam S. Miller ist Professor für Philosophy am Collin College, McKinney, Texas. Seine Spezialgebiete beinhalten zeitgenössische Französische Philosophy und Religionsphilosophie. Er ist Autor von Badiou, Marion, and St Paul: Immanent Grace (Continuum, 2008), Rube Goldberg Machines: Essays in Mormon Theology (Kofford, 2012), und Speculative Grace: An Experiment with Bruno Latour in Object-Oriented Theology (Fordham University Press, 2013), er ist Editor von An Experiment on the Word (Salt Press, 2011), und ist zur Zeit Direktor des Mormon Theology Seminar. Übertragung des Textes aus dem Englischen von Matthias Steingass. Das englische Original findet sich hier => Sitting, Full of Shit.

Illustration: Louis Vuittonet, [slightly distorted] “Girl 3″

Anmerkung M.St.: Der Text, bzw. die Collagierung mit den Fragmenten aus Wallace’ “Unendlicher Spaß”, entstand als ein Experiment des Spekulativen Non-Buddhismus. Dies war der Versuch Materialien aus klassischen Buddhismen zu gewinnen, ohne dabei der Rezeption westlicher Neo-, Kitsch-, Esoterik- und Okkultbuddhismen zu folgen. Derartige Rezeptionsformen wurden in diesem Experiment allesamt als X-Buddhismus klassifiziert. Das X entspricht dem was François Laruelle als “Entscheidung” bezeichnet. Non-Buddhismus ist der Versuch, Laruelles non-philosophisches Denken auf buddhistische Philosophie anzuwenden. Mehr dazu findet sich auf Der Unbuddhist (deutsch) und auf Speculative Non-Buddhism (englisch).

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