Adolf Hitler: Mein Kampf. Anmerkungen zu „Mein Kampf“, bevor das Werk in den Bestsellerlisten auftaucht

Im Januar werden wir Adolf Hitlers autobiographisches Werk „Mein Kampf“ auf den Ladentischen unserer Buchhandlungen um die Ecke sehen, natürlich mit einem sehr, sehr distanzierenden, historisierenden und was auch immer-Kommentar versehen. Gern auch mit einem „neutralen Umschlag“. Das Ding wird ziemlich sicher ein Bestseller, denn dieser Autor wusste, was deutsche Leser gern lesen. Auschwitz kommt ja auch nicht vor, und Stalingrad auch nicht. Wäre das Buch nicht irgendwie „verboten“ gewesen, und wüsste man nicht, wer es geschrieben hat, das meiste davon gehörte zum „Genau, sowieso“, „Wird man doch noch mal sagen dürfen“ und „Musste mal gesagt werden“. Klar „Kaftan-Jude“ sagt man nicht mehr.

2015 also läuft das Urheberrechtsschutz aus, und im Frühjahr des Jahres 2012 verkündete der bayerische Finanzminister Markus Söder, das Münchner Institut für Zeitgeschichte arbeite bereits an einer „wissenschaftlich-kritischen Edition“, für die ein Etat von 500 000 Euro zur Verfügung gestellt wurde.

Zur Rechtfertigung des Unternehmens wird ausgerechnet auf jene Worte zurückgegriffen, die man vorher strikt abwehrte, immerhin auf Geheiß der Alliierten: „Es muss klar werden, welch großer Unsinn mit fatalen Folgen das ist“ (Söder).

Leicht skandalisiert wurde das Unternehmen durch den britischen Verleger Peter McGee, der in seiner „historischen“ Magazins „Zeitungszeugen“ Auszüge aus dem Buch veröffentlichen wollte. Dagegen zog das bayerische Finanzminister erfolgreich vor Gericht. Seltsamer Seitenschauplatz der Copyright Wars.

Sind wir wieder einmal die Schufte, die in alldem böses entdecken? Jedenfalls fragwürdig scheint das Argument, man befürchte, so Söder, das Buch könne „in falsche Hände“ geraten (als wäre das Buch nicht schon längst via Internet und auf den üblichen Wegen in der Szene unterwegs). Und wie sehen, im Kopf von Herrn Söder, die Besitzer falscher Hände aus?

Mit der eigenen Herausgabe geht man also einer geschäftsschädigenden Freigabe im Jahr 2016 vorher. Daneben soll ein „niederschwelliges“ Angebot an Auszügen für die Schulen und auch eine englischsprachige Ausgabe herausgebracht werden. Und zu den Angeboten gehört eine Parallel-Edition von Hitlers Parteitagsreden. Ein breites Bündnis von „Betroffenen“ (Söder) sorgt für einen Mainstream-Konsens, der Kritik an dieser Edition und der Politik, die dahinter sichtbar wird, vorzubeugen.

Ich wage nicht nur vorauszusagen: Das Ding wird ein Knüller. Ich wage auch vorauszusagen: Der Kult darum wird ein perfektes Abbild der Heuchelei und Dummheit, an die wir uns im Umgang mit dem Nationalsozialismus gewöhnt haben.

1

War das ein Bestseller! 12 Millionen Mal ist „Mein Kampf“ gedruckt worden. Und kaum einer von den 12 Millionen Käufern und Beschenkten wollte es nachher gelesen haben. (Thilo Sarrazin bringt es gerade mal auf 1,5 Millionen Leser oder Nachher-nicht-gelesen-haben-Käufer.)

Vielleicht haben die Leute wirklich „Mein Kampf“ nicht gelesen wie man, meinetwegen, „Krieg und Frieden“ liest, oder „Old Surehand“, sie haben es eher wie eine Bibel benutzt. Man schaut hinein und entdeckt immer etwas, das man brauchen kann. Deshalb ist passenderweise ja ein Personen- und Sachverzeichnis vorangestellt, so dass sich der Nutzer gleich heraussuchen kann, was man so zum Stichwort „entartet“, „Adel“ oder „Antisemitisms (falscher, auf religiöser Grundlage)“ oder auch „Arier: Kulturbegründer“ nachschlagen muss, um das passende Führer-Wort zu nutzen. Es ist zugleich eine larmoyante Selbstbeschreibung (darin übrigens eine vollendete Parodie auf eine bürgerliche Memoiren-Autobiographie), eine Ableitung der „Ideen“ aus dem subjektiven Erlebnis, die Konstruktion eines politischen Subjekts, vor allem eine Text-Maschine, der bis zu einem gewissen Grad tatsächlich das Kunststück gelingt, in seinen bizarren Rückkopplungen noch den letzten Rest von rationalem Denken in einer hyperrationalen Geste verschwinden zu lassen und dafür Begriffe in semiotischen Volten zu besetzen. Der Text sentimentalisiert, was die eigene Person anbelangt, nur so vor sich hin und verbietet sich zugleich eine emotionale Beziehung zur Welt mit dem Hinweis auf den „Verstand“. Es ist für einen wie Hitler, und dann für viele, die ihm folgen, bedeutsam, dass sein Antisemitismus nicht nur nicht religiös sondern „rassisch“ bedingt ist, und auch nicht gefühls- sondern verstandesgemäß, durchaus „wissenschaftlich“. Der arme Herr H. muss sich nämlich zu Beginn regelrecht wider seine Gefühle vom Verstand zum Judenhass zwingen lassen, das ist bei ihm das erste „Ringen“. So könnte ein genauer Blick hier einem Menschen zusehen, der sich selbst die Menschlichkeit austreibt. (Allein das Wort „human“ wird ja dann bei den Nazis zum Schimpfwort; in „Mein Kampf“ spricht Hitler an anderem Ort von der „widerlichen Humanität“.)

Die Geste des Lesers, das Buch nie gelesen zu haben und es zugleich auswendig zu können, wahrhaft verinnerlicht zu haben, korrespondiert mit der Geste des Textes, der nur geschrieben wurde, um das Geschriebene in der um so vieles drastischeren Tat zu überschreiten. Leser und Autor offenbaren und verbergen sich zugleich darin, auf reziproke Weise. Ich kenne Menschen aus der Generation meiner Eltern, die stets behaupteten, „Mein Kampf“ nie gelesen zu haben, die aber, spätestens nach ein paar Gläsern Wein, ganze Passagen mehr oder weniger wortgetreu von sich gaben, so als wären es die eigenen Gedanken, die man sich so, auch im Nachklang der fünfziger, sechziger Jahre so machte. Vielleicht mussten sie ja das Buch nicht lesen, weil es nur zusammenfasste, was ohnehin die Mehrzahl dachte? Vielleicht war es nur die Digest-Fassung eines allgemeinen, diffundierten faschistischen Grundtextes in Deutschland.

„Mein Kampf“ ist ein Modell rechter Erbauungs-, Propaganda- und Selbstvergewisserungsliteratur, es hat sich weder in der Sprache noch in der Methode viel geändert. Rechte Pamphlete lesen sich, als wäre „Mein Kampf“ dazu nicht nur Modell sondern auch Anleitung gewesen. Das Buch ist interessanterweise dem durchaus zeitgemäßen Montage- und Sampling-Stil entsprechend: Es liest sich wie ein Text, wie man ihn derzeit häufig im Internet lesen kann. Der erste Teil entstand in der Festungshaft, was natürlich einen Authentizitätsbonus verleiht, wo sich allerdings der Zugang zu Büchern nicht gar so einfach gestaltete, vielleicht auch gar nicht angestrebt war, und wirkt damit als eine Art Freestyle über all den Unfug, den man sich angelesen und angeeignet hatte. Hitler selbst behauptete, sein Buch sei so etwas wie eine Ansammlung von Artikeln, die ebenso gut im Völkischen Beobachter erschienen sein könnten, aber nicht einmal das beschreibt den Mangel an Kontinuität und das gehäufte Auftreten von Redundanzen, unsinnigen Abschweifungen und schrägem Selbst-Echo. Es wird kein Unterschied gemacht zwischen schriftlicher und mündlicher Rede:  Schon am Beginn wird sofort geswitched von einer biographischen Nichtigkeit, der Geburt im Grenzstadtchen Braunau, ins ideologische Gegeifere: „Deutschösterreich muß wieder zurück zum großen deutschen Mutterlande, und zwar nicht aus Gründen irgendwelcher wirtschaftlichen Erwägungen heraus. Nein, nein: Auch wenn diese Vereinigung, wirtschaftlich gedacht, gleichgültig, ja selbst wenn sie schädlich wäre, sie müßte dennoch stattfinden. Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames R e i c h.“ Und das, wie gesagt, erkennt unser Autor, weil er das Glück hatte, in einer Grenzstadt geboren zu sein. Verfluchtes Braunau!

In die wabernden Wogen der Wirrnis werden beständig dogmatische Pflöcke getrieben. Unbegründbares  wird durch Trivialitäten gestützt. Vermeintliches Erleben in Dämonologie verwandelt. Und in „Mein Kampf“ findet sich besonders ungeniert der sexuelle Untergrund des Antisemitismus: „Das Verhältnis des Judentums zur Prostitution und mehr noch zum Mädchenhandel selber konnte man in Wien studieren wie wohl in keiner sonstigen westeuropäischen Stadt, südfranzösische Hafenorte vielleicht ausgenommen. Wenn man abends so durch die Straßen und Gassen der Leopoldstadt lief, wurde man auf Schritt und Tritt, ob man wollte oder nicht, Zeuge von Vorgängen, die dem Großteil des deutschen Volkes verborgen geblieben waren, bis der Krieg den Kämpfern an der Ostfront Gelegenheit gab, Ähnliches ansehen zu können, besser gesagt, ansehen zu müssen“. Welch ein kranker Unsinn, möchte man sagen. Leider kann das Buch selber die Frage nicht beantworten, warum er so begierig aufgenommen wurde, sieht man einmal von einer Technik der Selbstberauschung ab, die wir immer wieder finden: Aus der Tiefe der eigenen Kränkungen, familiärer, sexueller und beruflicher Art, wird eine Art negativer Energie gewonnen, die sich ein Objekt sucht. Über weite Strecken wirkt „Mein Kampf“ wie ein pornographischer Text, genauer gesagt wie ein Stück auf den Kopf gestellter Pornographie. Der immergleiche Vorgang, die Entzündung der Selbstfaschisierung anhand einer sinnlichen „Provokation“ wird in Form der „Nummern“ aneinandergereiht: „Als ich zum ersten Male den Juden in solcher Weise als den ebenso eisig kalten wie schamlos geschäftstüchtigen Dirigenten dieses empörenden Lasterbetriebes des Auswurfes der Großstadt erkannte, lief mir ein leichtes Frösteln über den Rücken. Dann aber flammte es auf. „

Auch der Trick der Negation einer vermeintlichen Selbstkränkung wird reichlich angewandt: „Das deutsche Volk besitzt solange kein moralisches Recht zu kolonialpolitischer Tätigkeit, solange es nicht einmal seine eigenen Söhne in einem gemeinsamen Staat zu fassen vermag.“ Sätze wie dieser enthalten bereits das gesamte Wahnsystem und die gesamte Politik, und das Eckengespräch des Jahres 2012 vor’m C&A: Selbsterniedrigung (wir Deutschen sind ja so dumm, dass…) und Selbsterhöhung (aber wartet nur…) in einem Satz vereint. Möglicherweise geht es nicht darum, wie uns die mehr oder weniger Verantwortlichen für die kommentierte Ausgabe weismachen wollen, „Mein Kampf“ aus sicherer historischer Entfernung zu lesen, als vielmehr darum, mit „Mein Kampf“ das allgemeine, in großen Teilen Mainstream-fähige Dumpf-Sprech von heute zu lesen.

2

Auch die terroristischen Texte, Bilder und Narrative, diesen Brei aus faschistischer Historie, Pop-Kultur und Mythologie nebst einer kreisförmigen Selbstermächtigung zur niederträchtigsten Tat, lassen sich mit „Mein Kampf“ dekonstruieren. „Erst wenn des Reiches Grenze auch den letzten Deutschen umschließt, ohne mehr die Sicherheit seiner Ernährung bieten zu können, ersteht aus der Not des eigenen Volkes das moralische Recht zur Erwerbung fremden Grund und Bodens.“ Grandiose Argumentation; so verstehen wir recht: Der Mangel, der Überdruck an sich selbst, muss erzeugt werden als Rechtfertigung für die Explosion und Expedition nach außen. Man erzeugt den Kriegsgrund (den Mord-Grund) in sich selbst; man erzeugt, und anders hat es auch ein Anders Breivik nicht gemacht, „vernünftig“ den Wahn, den man zur Explosion bringen will. Schon in seinem Text also hebt der Faschismus die Unterscheidung zwischen „ideologischer Verblendung“ und „Wahnsystem“ auf. Daher ist es ein vollkommenes Unding, mit einem Text wie dem von „Mein Kampf“ argumentieren zu wollen, ihn zu widerlegen oder zu entlarven. Wenn der Text in ein bereits vorhandenes Wahnsystem/System einer Verblendung eindringt, kann er dort nur „expodieren“.

Die politische (Schein-)Naivität mag jeden aufregen, der sich mit dem semiotischen und kulturellen „Funktionieren“ des Neofaschismus auseinandersetzt. Breiviks Tiraden haben mit diesem Buch mehr als genug zu tun, aber überhaupt könnte man umgekehrt auch auf die Text-Produktion des Faschismus und vor allem des Neofaschismus zurückgreifen, um diesen seltsamen Text-Brei zu verstehen. Einen faschistischen Text, behaupte ich, erkennt man nicht nur am faschistischen Inhalt sondern auch an seiner faschistischen Art des Gebrauchs von Sprache und Diskurs. (Daher stehe ich nicht an, Thilo Sarrazin als einen Verfasser proto-faschistischer Texte zu bezeichnen.) Was das anbelangt war Hitler auch „literarisch“ ein Meister seines Fachs. Es kommt nicht allein auf den psychotischen Nonsense an, den er verzapft, es kommt vielmehr auf die Art an, wie er es tut, wie, zum Beispiel Biographie (natürlich die genehmen Partikel) mit Ideologie verwoben werden, so als wäre eine direkte, wenngleich unglaublich vulgäre Form der Beziehung zwischen Erfahrung, Idee und Handlung verlässlich. Es ist eine Art von Selbstschöpfung oder Wiedergeburt durch einen Text, der selber Teil des Vorgangs von Spannen und Explodieren ist. Es ist ein Modell des Ausblendens, das er am Beispiel des Geschichtsunterrichts entwickelt: „Geschichte „lernen“ heißt die Kräfte suchen und finden, die als Ursachen zu jenen Wirkungen führen, die wir dann als geschichtliche Ereignisse vor unseren Augen sehen. Die Kunst des Lesens wie des Lernens ist auch hier: Wesentliches behalten, Unwesentliches vergessen.“ Klarer kann man nicht sagen, dass von der Welt nur wahrgenommen werden soll, was ins eigene Wahnsystem passt. Die Beziehung des faschistischen Subjekts zur Welt besteht nicht in einem dialogischen Verhältnis, sondern in einem architektonischen: Er baut sich aus den Trümmern, in die er die Welt vor seinen Augen legt, eine Todesfabrik.

3

„Mein Kampf“ wird bei deutschen Lesern offenbar sehnlichst erwartet:

„Das Buch gefällt mir so sehr gut, nur leider hatte ich gedacht das es alles von seinem Kampf drin steht, aber es sind nur ein paar Auszüge“ bedauert ein LeserInnen-Kommentar bei amazon zur von Christian Zentner besorgten und kommentierten Auswahl von „Mein Kampf“. Ein anderer benennt den Verweigerer: „Daß in Deutschland nur eine Auswahl erscheinen kann, liegt daran, daß nach wie vor der Freistaat Bayern die Urheberrechte innne hat und sich gegen die komplette Edition sperrt.“

Damit ist ja bald Schluss. Der bayerische Staat sorgt für eine kontrollierte, kommentierte und zuträgliche Ausgabe von „Mein Kampf“; Professor Dr. Edith Raim, die zu den Herausgebern gehört, konstatiert etwa: „Wir haben eine erfolgreiche Nachkriegs- und Demokratiegeschichte hinter uns. Seit Jahrzehnten fließt viel Geld in die politische Bildung. Wir sind heute in einer völlig anderen Situation. In der Weimarer Republik herrschte nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg eine radikale Enttäuschung in der Bevölkerung vor. Außerdem waren die Deutschen gewöhnt an einen autoritär organisierten Staat, an ein Kaiserreich, dass alles regelt. Die Deutschen waren mit den ganzen innen- und außenpolitischen Problemen der Weimarer Republik schlichtweg überfordert.“ Ob die Professorin wohl weiß, was sie da sagt? Man möchte es gar nicht so genau wissen.

4

Kann dieses Buch, mehr oder weniger (psycho-) analytisch gelesen, einen Einblick geben in die Formung der faschistischen Persönlichkeit (hier mit der Besonderheit, dass man der ersehnte große Andere gleich selber ist)?

Die Stationen sind einigermaßen bekannt: Das Widersetzen gegen den Wunsch des Vaters. Beamter zu werden, ein früh vor allem von den Lehrern vermittelter Hass auf den „Völkerbrei“ Österreichs. Die Kränkung durch die Ablehnung der Kunstakademie (herumgedreht zu einem Rat, die Architektur zu bevorzugen), das Erlebnis der Armut in Wien, der Stadt mit der große Diskrepanz zwischen den Habenden und den Armen, da schreibt er sich seine Sozialgeschichte der Armen, vor denen ihm graust: „Mich schaudert noch heute, wenn ich an diese jammervollen Wohnhöhlen denke, an Herberge und Massenquartier, an dies düsteren Bilder von Unrat, widerlichem Schmutz und Ärgerem.“

Wie Hitler in panischem Zurückschrecken als ein Ur-Erlebnis seines Antisemitismus die Begegnung mit der Prostitution imaginiert, so destilliert er aus seiner Biographie den Hass gegen das schwache (stets „ansteckend“ gedachte) andere. Aus Narzissmus und „Mitgefühl“ entsteht: „Tiefstes soziales Verantwortungsgefühl zur Herstellung besserer Grundlagen unserer Entwicklung, gepaart mit brutaler Entschlossenheit in der Niederbrechung unverbesserlicher Auswüchslinge.“ In etwas anderen Worten findet sich diese Konstruktion im Text jedes beliebigen Rechtspopulisten: Damit es „uns“ besser geht, müssen die perversen „Väter“ (für Hitler waren das die Vertreter der Habsburger Monarchie mit ihrem Vielvölkerwirrwarr und die Gründerväter der Republik, für die Rechtspopulisten sind es die „Altparteien“ oder das nicht-nationale Europa) einerseits, und die „Auswüchslinge“ (die Juden, die Schwulen, die Ausländer, die Hartz IV-Schmarotzer) „beseitigt“ werden.

Klar also, „dass die soziale Tätigkeit nie und nimmer in ebenso lächerlichen wie zwecklosen Wohlfahrtsduseleien ihre Aufgabe zu erblicken hat, als vielmehr in der Beseitigung solcher grundsätzlicher Mängel in der Organisation unseres Wirtschafts- und Kulturlebens, die zu Entartungen einzelner führen müssen oder wenigstens verleiten können.“ Die Angst vor der Entartung also wird bestimmend als Antwort auf die letzte der erfahrenen Kränkungen, die Armut und die prekären Lebensumstände des kommenden „Führers“ in Wien. Ent-Emotionalisierung, Ent-Menschlichung ist die Selbsttherapie, aus der die Mörder-Energie des Faschismus stammt: „Erst wenn einmal eine Zeit nicht mehr von den Schatten des eigenen Schuldbewußtseins umgeistert ist, erhält sie mit der inneren Ruhe auch die äußere Kraft, brutal und rücksichtslos die wilden Schößlinge herauszuschneiden, das Unkraut auszujäten.“

Mitleid, Schuldbewusstsein, eigene Erfahrung und Hass werden also „rücksichtlsos“ neu sortiert. Der Autor von „Mein Kampf“ gründet seinen Nationalismus auf die Rasse, weil ihm die anderen Identifikationsmittel verwehrt sind. Wie sich das bei Hitler herausbildet, ist zweifellos modellhaft: Die Armen, in deren Kreise er sich bewegen muss, sind ihm Liebes- und Hassobjekt zugleich. Und so kann er nur von einer „Ausmerzung“ des bösen und fremden träumen. Er muss sich von dem hässlichen Volk emanzipieren, aus dem er kommt, und er kann es nicht in der bürgerlichen Gesellschaft, eine Kränkung der kulturellen Art, die er etwa in der Denunziaton vom allem was ihm  „französisch“ erscheint abarbeitet.

„Clever“ ist der Diskurs der Rasse auch insofern, als die anderen Diskurse zu Identitätsbildung und Distinktion auch intellektuell besetzt sind; da hätte einer wie Hitler sich an Kultur, Sprache oder auch nur politischem Diskurs rasch die Zähne ausgebissen. Die Nation (ausdrücklich wendet sich Hitler gegen „Patriotismus“!), die Sprache (alles „Literarische“ ist ihm suspekt), die Religion, die Kultur, die Kunst – das alles ist ihm verwehrt, bei alledem hat er sich seine Kränkungen eingefangen. Nur was die Rasse anbelangt, da kann er noch der „Größte“ werden, da kann er „führen“. Was diese Rasse anbelangt akkumuliert er nun alle Splitter, auch die verhassten „sozialistischen“ und „bürgerlichen“, die ihm nützlich erscheinen, um sie doppelt zu konstruieren, als „Ideal“ und in der Negation: Denn genau so wenig wie ein reales Element der Identifikation kann Hitler einen realen Feind finden. Auch hier hilft nur: die Rasse. So mischt er die verschiedensten Formen des Antisemitismus zu einer rigorosen, eliminatorischen „Rassenlehre“ zusammen. So formt er seinen Wahn, wir können es in „Mein Kampf“ in der Tat „nach-lesen“, in ein „rationalisiertes“ Mordsystem um.

Im Rasse-Diskurs, so verbreitet er auch war, tummelten sich dagegen Leute, die genau so schlicht, wirr und gemütsarm waren wie er selber. Nur hier konnte er zugleich „geistige Verbündete“ finden und Hegemonie erreichen, indem er das antisemitische Beiwerk, das sich bei so vielen fand, zum Hauptpunkt erklärte. Der Rest ist ein wenig von links ein wenig von rechts klauen, vor allem aber die „Volksgemeinschaft“ als Daseinsgrund etablieren, in dem wiederum vor allem er,  Hitler,  den seinen fand. Noch einmal vermischt der Text Ursache und Wirkung; er offenbart freilich dass der Antisemitismus immer nur Zweck als Mittel  und Mittel als Zweck ist. Der Antisemitismus entwickelt sich, wo ursprünglich ganz einfach nichts war, er füllt die Lücken der Kränkungen und wird schließlich zur einzigen alles bestimmenden Sprache.

Der Urgrund von allem scheint eine Angst vor dem Asozialen zu sein, den wir heute ohne weiteres (und nicht ohne die entsprechenden Bilder) in jedem Kleinbürgerentsetzen wieder finden: „Wenn der junge Mensch nun mit vierzehn Jahren aus der Schule entlassen wird, ist es schon schwer mehr zu entscheiden, was größer ist an ihm: die unglaubliche Dummheit, insofern es sich um wirkliches Wissen und Können handelt, oder die ätzende Frechheit seines Auftretens, verbunden mit einer Unmoral schon in diesem Alter, daß einem die Haare zu Berge stehen könnten.“ Dieser Ekel vor der Jugend im allgemeinen,  der sozial und kulturell desorganisierten im besonderen, gehört zu Rhetorik jedes rechten Politikers ebenso wie die Geste, die Verantwortung für die kulturelle Verwahrlosung zu konstruieren: Auch für Hitler waren schon die Verhältnisse, das bürgerliche Ignorante Mitgefühl und die Medien schuld an der Verkommenheit, die er diagnostizierte (die ihn berührte): „Die liebe bürgerliche Mitwelt aber ist ganz erstaunt über die mangelnde ‚nationale Begeisterung’ dieses jungen ‚Staatsbürgers’. Sie sieht, wie in Theater und Kino, in Schundliteratur und Schmutzpresse Tag für Tag das Gift kübelweise in das Volk hineingeschüttet wird und staunt dann über den geringen ‚sittlichen Gehalt’, die ‚nationale Gleichgültigkeit’ der Massen dieses Volkes. Als ob Kinokitsch, Schundpresse und Ähnliches die Grundlagen der Erkenntnis vaterländischer Größe abgeben würden. Von der früheren Erziehung des einzelnen ganz abgesehen.“ Die Medien sind schuld, die pädagogische Laxheit, Schmutz und Schund! Wer hat’s erfunden? Kübel, pardon Kapitelweise würde „Mein Kampf“ in die Kolumnenspalten und Sonntagspredigten des Jahres 2012 passen. Und auch was die Rolle der Frau anbelangt, da spricht der Autor wohl dem einen oder anderen deutschen Leser nach wie vor aus dem strammen Herzen: „Gleich dem Weibe, dessen seelisches Empfinden weniger durch Gründe abstrakter Vernunft bestimmt wird als durch solche einer undefinierbaren, gefühlsmäßigen Sehnsucht nach ergänzender Kraft, und das sich deshalb lieber dem Starken beugt als den Schwächling beherrscht, liebt auch die Masse mehr den Herrscher als den Bittenden und fühlt sich im Innern mehr befriedigt durch eine Lehre, die keine andere neben sich duldet, als durch die Genehmigung liberaler Freiheit; sie weiß mit ihr auch meist nur wenig anzufangen und fühlt sich sogar leicht verlassen“. Die Masse und die Frau werden zu Fetischen, die Hitler zugleich hasst und begehrt; die Rolle eines „Vaters“ kann er nicht haben, nicht nur weil sie schon besetzt ist, die Rolle des Liebhabers ist ihm versagt, die Rolle des Bruders erschreckt in ihrer Nähe. Hitler, offensichtlich, kann die Frau nur als „Masse“ so „formen“ wie er es will (und am Ende wird er sich an dieser Masse rächen, dafür dass sie ihm doch unerreichbar blieb).

Eine semiotisch-kulturelle Lektüre von „Mein Kampf“ würde vielleicht genau den Mangel an „humanen“ Diskursen und Sprachen freilegen, der die faschistische Ausweich- und Angriffstrategie erst erzeugt. Das liegt noch hinter der Erkenntnis, dass man es mit einem zutiefst kranken Menschen zu tun hat, der gleichwohl erfolgreich seine eigene Krankheit instrumentalisiert. Wie überträgt sich ein Wahnsystem aus einem Text in eine Wirklichkeit? Durch die Ähnlichkeit von Autor und Leser, durch Strategien der Entwirklichung und Ermächtigung, durch das Neusortieren von Ängsten und Begierden, durch die aggressive Besetzung von Begriffen und Bildern, kurz, durch die Übernahme der ästhetischen und mythischen Techniken aus alledem, was man gerade als „Schmutz und Schund“ anprangerte: „Mein Kampf“ ist nicht nur zugleich Bibel und Pornographie (zwei Textsorten, die den Autor zum Verschwinden bringen, um ihn als Fiktion nur umso größer erscheinen zu lassen), sondern auch „Pulp Fiction“, ein Spiel mit den verbotenen und verborgenen Wünschen des Bürgers (der nur durch seine „widerliche Humanität“ vom Faschisten getrennt scheint), exploiation mit politischer Kruste, ein sado-masochistisches Brevier und eine Gloriole um die „normale“ Niedertracht des Menschen, der hassen will, der sich bereichern will, der morden und plündern will.

Die Professorin Edith Raim, die eine kommentierte Ausgabe plant, spricht immer wieder davon, wie „veraltet“ der Text (und damit eher ungefährlich sei). Doch diese Diskurs- und Logik-Ebene ist nicht die einzige; man muss nur einmal den Versuch machen, eine Seite von „Mein Kampf“ laut zu Nazi-Rock-Musik zu lesen und erkennt sehr rasch, wie gleich geblieben sich der Hass-Jive ist. Die Befürworter einer kontrollierten und kommentierten Freigabe – was auch immer sonst ihre Argumente sein mögen – behaupten gern, die Form des Buches, sein Mangel an Zeitgenössischkeit, an konstruktiver Rationalität, seine Wirrnis und Zerfleddertheit, würde eine direkte Wirkung verhindern, aber genau das Gegenteil ist der Fall, das Wirre, das Unzusammenhängende und Sinnwidrige ist gerade die Voraussetzung für die Wiederkehr der Refrain-Sätze. Die Langeweile, die das Buch ausstrahlt, gilt nur für jemanden, der es gewohnt ist, auch noch anderes als Nazi-Texte zur Kenntnis zu nehmen; innerhalb des Codes funktioniert es alles andere als langweilig, verboten oder nicht. Im Vergleich mit anderen mag es auch ein fürchterlich langweiliges Buch sein, aber zugleich ist es ein furchtbarer Selbstbedienungsladen für kranke Seelen, sein repetitiver, eher rhythmischer als diskursiver Stil, seine radikale Komplexitätsreduzierung – all das . Es ist der Jive, der sich am Ende nur im Mord entladen kann.

Man kann dieses Buch im Zeitalter des Internet gewiss nicht mehr „verbieten“, und das Verbot ist ohnehin kein sonderlich sinnvolles Instrument. Aber gibt uns das das Recht mit einem solchen Text umzugehen, als wäre er nur noch Geschichte und Dokument. Als wäre das Geld, das in „politische Bildung“ gepumpt worden ist, Rechtfertigung für eine Immunität des deutschen, nun ja, Volkes gegen die Blasen aus seinem braunen Sumpf. Immer noch redet dieser Text dem Bürger, der vor dem entsetzt ist, was er angerichtet hat, aus dem Herzen. Wollen wir wirklich wissen, wie viele Sätze aus „Mein Kampf“ begeisterte oder klammheimliche Zustimmung erhalten würden? Wir kommen um die Frage nicht herum. Wir werden mit diesem Buch nicht die Vergangenheit lesen, sondern die Gegenwart.

 

taken from Getidan

Nach oben scrollen