Alter Faschismus und rechter Populismus

Im klassischen Faschismus gewann eine dem Staat zunächst äußerliche und streng hierarchisch gegliederte Organisation durch legale Machtübernahme die Dominanz über die Staatsapparate, um dann mit diesen in spezifischer Weise zu verschmelzen, womit das in die Krise geratene kapitalistische System beibehalten und auf einer neuen Ebene gewaltsam abgesichert werden konnte. Am Anfang eines Faschisierungsprozesses steht die faschistische Partei also noch außerhalb der Staatsapparate, die sie später übernehmen und schrittweise verändern will, wobei vor allem der umstrukturierte repressive Apparat in der zweiten Phase der Machtintegration die faschistische Partei sogar dominieren kann, und zwar über die Mechanismen der politischen Polizei, die jetzt in ihrer Bedeutung vor der Verwaltung und Armee anzusiedeln ist. (Poulantzas 1973: 356)

Von Poulantzas als eine spezifische Form des Ausnahmestaates bezeichnet (weitere Formen sind für ihn die Militärdiktatur und der Bonapartismus), kommt es im Faschismus zu einer Reorganisation des staatlichen Systems und zu Verlagerungen und Machtverschiebungen innerhalb seiner repressiven, ideologischen und ökonomischen Apparate, wobei der repressive Apparat dominant wird, aber auch drastische Veränderungen in den anderen Apparaten stattfinden, wenn beispielsweise die politische Polizei immer stärker auch ideologische Aufgaben übernimmt. (Ebd.: 342) Das juristische System garantiert im Faschismus weiterhin die Produktions- und Eigentumsverhältnisse, übernimmt aber darüber hinaus die unmittelbare politische Funktion der Kontrolle und des Eingriffs in die Klassenkämpfe. Das Recht regelt nicht mehr zuverlässig die Exekution der Macht durch die staatlichen Apparate und den Zugang zu diesen Apparaten und ihre Relationen zueinander, vielmehr herrscht Rechtswillkür, mit der auch die Präjudierzierbarkeit der eigenen Transformationsregeln für das juristische System selbst ausfällt.

Dabei wird die Kriegsmaschine in den Staat als ein performatives Organisationsprinzip eingepflanzt und entwickelt dann durch einen Prozess der Flucht und der Steigerungen im Staat eine suizidale Tendenz, währenddessen die politische Polizei zur Praktizierung des Terrors gegen die Bevölkerung bzw. gegen deren widerständige und oppositionelle Teile übergeht, wofür die faschistische Massenpartei große Bevölkerungsteile aber auch mobilisieren können muss (wünschen sich die Massen den Faschismus?). Die hysterisch agierende faschistische Massenpartei, die eine besondere Funktion nicht nur in den repressiven, sondern auch in den ideologischen Staatsapparaten einnimmt, betreibt die permanente Mobilisierung der Volksmassen, während gleichzeitig die schärfste Form der sozialen Exklusion und der Lagerhaltung stattfindet. Im Zentrum des deutschen Faschismus stand ab einem gewissen Zeitpunkt die Vernichtung der Juden als zu spezifizierende Rasse sowie der bolschewistischen Produzenten. Propagandistisch bringt der Faschismus gegenüber dem Liberalismus die Konzeptionen der Volksgemeinschaft, des Rassismus und des Nationalismus ins Spiel und lässt sie hysterisch zirkulieren, gerade um auch bei der Bevölkerung die Einfühlung in das Vernichtungspotenzial des Staates zu sensibilisieren und zu verstärken. Der Faschismus markiert somit den Übergang vom scheinbaren Frieden zum offenen Krieg, womit auch der Staat Teil einer Kriegsmaschine wird, die er ab einem bestimmten Zeitpunkt selbst losgelassen hat. Diese Art der faschistischen Kriegsmaschine, die auf Vernichtung von Bevölkerungen abzielt, geht also aus dem Staat selbst hervor.

Gleichzeitig werden die Massen permanent mobilisiert und als Nation konstituiert, ein spezifischer Prozess, den George Mosse in seinem Buch Ein Volk, ein Reich, ein Führer ausführlich beschrieben hat. Für Mosse ist der Nationalsozialismus lediglich der Grenzfall der Demokratie, indem er die Indoktrination homogener kollektiver Vorstellungen, die in Demokratien immer zu beobachten ist, in das Extrem hinein treibt. (Mosse 1979: 15ff.) Die Predigt der Macht ist hier dem Irrationalismus einer faschistischen Massenpolitik verwandt, die eine Einheit des Volkes, die erst nur auf dem Papier besteht, realisiert und gewissermaßen fühlbar und erlebbar macht. So wird der allgemeine Wille des Staates Tag für Tag als eine kollektive Emotion vorgeführt. Die Nazis haben den Prozess der Konstruktion der Emotionalisierung der Einheit auf ein ganzes Volk ausgedehnt und bis zum Äußersten der Vernichtung vorangetrieben, was ihren eigenen Suizid letztlich einschloss. Dabei übersetzt der Faschismus die kollektiven Psychologien in äußere Manifestationen, Monumente und Kanalisationssysteme, in die die Massen hineinfließen und in denen ihre Äußerungen und Wünsche kollektiv zirkulieren können, Wünsche, die auch die Übertretung des Verbots einschließen, die wiederum mit vielen geteilt werden wollen und in monumentalen Repräsentationen kulminieren. Es findet eine rasante Steigerung von medialen Tendenzen statt, die in bestimmten demokratischen Verfahren und Zeremonien aber auch anzutreffen sind.1 Die Nation gerinnt jetzt zur imaginären Inkarnation des Volkes, es handelt sich um eine spezifische nationale Selbstrepräsentation, die auf dem beruht, was das Volk vereinen soll: Sprache, Geschichte, Heimat, Blut usw.2

Kommen wir kurz zur gegenwärtigen Lage in Deutschland. Die rechte Alternative für Deutschland (AfD) dominierte in weiten Zügen bereits den letzten Bundestagswahlkampf, indem es ihr in der Öffentlichkeit gelang, den sozialen Antagonismus zwischen Arm und Reich durch die Propaganda »Deutsche versus Ausländer« zu ersetzen, und alle großen Parteien haben ihre Politik dann mehr oder weniger an den Einwürfen der AfD ausgerichtet. Mit einem unermüdlichen Warnen vor der AfD zeigt wiederum der aufgeklärte Flügel der deutschen Mittelklasse vor allem eines, dass man nämlich wild entschlossen ist, weiterzumachen wie bisher, in seinem kleinen Land zusammenzurücken und beide Augen vor der Welt da draußen zu verschließen, außer diese als billiges Urlaubsparadies wahrzunehmen und als Müllhalde für die eigenen Waren zu benutzen. Und des Weiteren schließlich in sozialer Amnesie, jede Institution als selbstverständlich hinzunehmen und dabei alles, was stört, und sei es auch einmal die AfD, lediglich als Anlass der eigenen seelischen Verdauungsstörungen zu begreifen. Denn die Zuschreibung des Rassismus allein an die AfD verdeckt den systemischen Rassismus und den allgemeinen der Mehrheit. Es gilt nämlich inzwischen fast schon als Gemeingut, dass man einen Flüchtling, um ihn zu beherrschen, entweder integrieren oder zum potenziell Kriminellen stempeln muss, zum dann rassistisch verachteten Beherrschten. Integration heißt dann für den Flüchtling wiederum, den Deutschen nachzuäffen. Darin besteht die bis heute verkannte Idee der deutschen Bildung: Einen Affen zu erziehen. Und man darf man nicht vergessen, dass die Rechtspopulisten von der AfD bis zur CSU dem in der sozialen Hierarchie ganz unten stehenden Teil der Bevölkerung ein Angebot gemacht haben, das darauf basiert, dass man dessen soziale Unzufriedenheit mit der Bedrohung des deutschen Wohlstands durch die Flüchtlinge erklärt. Als beleidigte Deutsche dürfen sich dann auch die sozial Schwachen stark fühlen und fordern, dass die Geldsummen, die der Staat für die Kontrolle der Flüchtlinge ausgibt, einzuschränken sind, da die Flüchtlinge ja alles bekommen und die Einheimischen nichts und so weiter und so fort. In der Ablehnung gegen alles Fremde schließen sich die verschiedenen Klassen und Schichten eng zusammen, wendet das Klassensystem seine Antagonismen und die Härte seiner Konkurrenz ganz nach außen.

Die neuen neofaschistischen Bewegungen versuchen, die kapitalistische Ökonomie der Logik des Bürgerkrieges unterzuordnen (ohne allerdings die Ökonomie in ihren Spielregeln auch nur ansatzweise anzutasten), vor allem, wenn es heute so erscheint, dass Teile der Mittelklassen diversen neoliberalen Postulaten, die eine Bereicherung des Selbst, den eigenverantwortlichen Unternehmer und die kulturelle Singularität einfordern, aufgrund ihrer ökonomischen Prekarisierung nicht mehr folgen können. Das neoliberale Projekt hat in seiner Boomphase den Individualismus ohne Individuum und den harten Wettbewerb propagiert und muss nun bei drohendem Abstieg der Mittelklassen deren Ressentiments füttern und damit eben auch identitäre Politiken, Fremdenfeindlichkeit und die Paranoia befördern. Das Konglomerat neoliberaler Governancepraktiken hat die postfaschistischen Bewegungen zunächst einfach nur übernommen, um daraufhin ein Set von Dispositiven, die den zivilen Bürgerkriegs intensivieren, neu zu konfigurieren.

Das rassistische Phantasma, das stets Teil des Staatsrassismus ist, der den Fremden ausschließt und Leben und Sterben der Bevölkerung überwacht und reguliert, hat im Moment eine nicht unbeabsichtigte geringfügige Modifizierung angenommen. Gemäß den allgemeinen Spielregeln des Neoliberalismus beobachten wir auch hier eine Fortentwicklung vom Sicherheitsdispositiv hin zum Risikodispositiv. Der rassistisch konnotierte Migrations-Diskurs stellt die einheimische Bevölkerung zunächst als einen integralen, einen quasi-organischen Körper vor, der durch klare Grenzen gegenüber der Außenwelt charakterisiert ist und gegen die Horden und Nomaden aus dem Süden verteidigt werden muss, welche die Homogenität des gesunden Volkskörpers bedrohen. Und dies schließt heute, mit der Veränderung vom Rassismus der Rasselehren zum Rassismus der Nützlichkeitserwägungen und in der Erweiterung vom Sicherheits- zum Risikodispositiv, die strikte Unterscheidung zwischen erwünschten und qualifizierten ausländischen Fachkräften, an denen es in Deutschland in einigen Sektoren mangelt, und dem unerwünschten Flüchtling ein, der für die Masse der unbrauchbaren Menschen aus dem globalen Süden steht.

Es ist nicht die Dynamik der Biomacht, welche den Rassismus determiniert, sondern dieser insistiert unter der Notwendigkeit, die Klassenteilung innerhalb der Bevölkerung zu intensivieren. Die Bevölkerung kann sich nicht reproduzieren, ohne geteilt zu sein, womit sie auch unter biopolitischen Gesichtspunkten von vornherein durch die Strategien des Kapitals differenziert wird, dessen Klassenkampf damit je schon eine rassistische Komponente besitzt.

Das biopolitische Konzept dieser Postfaschismen besteht in der direkten Einpflanzung des Postulats des »Rassenkrieges« in die Klassenkonflikte. Es verwundert deshalb nicht, dass die wichtigen Operationen der rechtspopulistischen und neofaschistischen Politiken, die sich im realen Milieu des Krieges der und gegen die Bevölkerungen bewegen, als ihre Feinde vor allem die tief kolonisierten Bevölkerungsanteile wie Migranten, Flüchtlinge und Muslime bestimmen. Die in diesem Kontext widerständigen Subjekte, die heute per se politisch sind, da sie quasi als eine homogene Gruppe in den globalen Weltmarkt integriert werden, wo man sie total enteignet und entrechtet hat, und sie damit die Wahrheit der heutigen ökonomischen und politischen Welt-Situation ausdrücken, sind die Migranten und Flüchtlinge, die während der Flucht meistens ihr (nacktes) Leben riskieren.3

So hat der grenzüberschreitende freie Fluss von Waren, Dienstleistungen und Kapital grundsätzlich Vorrang gegenüber der Mobilität von Menschen, wobei hochqualifizierte ausländische Arbeitskräfte aus dem Süden durchaus auch in die Ökonomien der Metropolen integriert werden sollen, aber nur den Eigentümern und Managern des großen Kapitals sowie den politischen und kulturellen Eliten ist eine relativ freie Beweglichkeit auf dem ganzen Globus garantiert. Ein großer Teil der Menschheit sitzt heute in mehr oder weniger lagerartigen Zuständen und Behausungen einfach fest.

Man muss es sich noch einmal auf der Zunge zergehen lassen, es verschwanden auf globaler Ebenenach der Finanzkrise von 2008 Vermögenswerte in Höhe von circa 40 Billionen US-Dollar im Nichts, allein in den USA lösten sich 14 Billionen US-Dollar an Vermögen privater Haushalte in Luft auf. Schon lange zuvor hatten sich die in US-Dollar denominierten Geldkapital- und Finanzströme, die seit den 1970er Jahren unter anderem aufgrund des US-Handelsdefizits ständig gewachsen waren, von den globalen Handelsvolumen gelöst. Gerade die europäischen Großbanken hatten seit den 2000er Jahren in gigantischen Summen in US-Dollar notierte Wertpapiere und Derivate gekauft, die, wie sich in der Krise dann herausstellte, zum teil toxisch waren, sodass sich eine gigantische Deckungslücke bei der Dollarfinanzierung der europäischen Banken auftat. Als der Markt im Jahr 2008 einbrach, betrugen beispielsweise die Außenstände der deutschen Banken bei der Wall Street mehr als 1.000 Milliarden US-Dollar. Man hatte also in großem Stil US-Derivate mit von der Wall Street geliehenen Dollars gekauft, die nun von dieser zurückverlangt wurden. Es brach Panik unter den Banken aus, worauf die Regierungen Billionen in das Finanzsystem pumpen und Teilverstaatlichungen von Banken, Versicherungen und anderen Unternehmen vornehmen mussten. Das belastete die Haushaltskassen der USA und der Staaten in Europa so schwer, dass eine verschärfte Austeritätspolitik die logische Folge war, wobei die Regierungen die Verluste des Kapitals und des Finanzsystems zu den lohnabhängigen Arbeitern und Angestellten, Teilen der verschuldeten Mittelschicht, zu den Arbeitslosen und den ganz Abgehängten transferierten. In Europa wurden die Länder gegeneinander aufgehetzt, das heißt, die vom finanziellen Kapital ausgehende Krisenproblematik wurde in einen Konflikt zwischen arbeitsscheuen Südländern und hart arbeitenden Nordeuropäern umgedeutet. Wahlweise waren es auch der angeblich aufgeblähte Wohlfahrtsstaat in Deutschland, Italien oder Griechenland, zu hohe Löhne, zu starre Arbeitsmärkte oder gar die Gewerkschaften, die für die Krise verantwortlich gewesen sein sollten. Hinzu kommt, da die staatlichen Bailouts bei größeren Teilen der Bevölkerung unpopulär sind, dass Finanzkrisen oft mit moralischem Versagen nicht nur der Banker, sondern auch der Politiker in Verbindung gebracht werden und die Beziehungen zwischen Gläubiger und Schuldner leicht personifiziert werden können. All dies stärkt rechte Bewegungen. Es ist leicht zu sehen, dass in den USA und in Europa ideologische Versatzstücke, die sich aus Nationalismus, Rassismus und neoliberalem Abfall zusammensetzen, nach der Finanzkrise an Gewicht und Fahrt gewinnen konnten. Die rechtspopulistischen Bewegungen mussten an diese Art von »Diskursen« nur noch anknüpfen, um mit ihren Paranoia-Inszenierungen und Ausrottungsfantasien gerade auch in den sozialen Netzwerken Teile der Bevölkerung zu beflügeln und dann endlich auch selbst tätig zu werden und mit Brandsätzen und Stahlkugeln die Lagerunterkünfte der Flüchtlinge zu attackieren. Die nationalen Präferenzen, die heute inszeniert werden, wie etwa der Brexit, können nicht Teil des reibungslosen Funktionierens der Politik des Staates werden, ohne dass ständig die Furcht vor Migranten, Flüchtlingen und Muslimen konstruiert, verbreitet und mobilisiert und damit in den Dienst der Kontrolle der Mobilität von solchen Bevölkerungsteilen gestellt wird, die vom Süden des Globus abwandern müssen, um überhaupt zu überleben. Der Gegensatz zwischen den kompletten Freiheiten der Waren-, Geld- und Kapitalströme einerseits und der fehlenden Mobilität großer Teile der Weltbevölkerung andererseits muss über spezifische Formen der Regulierung befriedet werden, die von den Staatsapparaten materialisiert und von den populistischen neofaschistischen Bewegungen ideologisch bearbeitet werden.

Als im Jahr 2008 das Management der Finanzkrise in den kapitalistischen Kernländern, das insbesondere In Europa im Transfer der Schulden der privaten Banken hin zu den Steuerzahlen bestand,4in der Öffentlichkeit akzeptiert wurde, war es klar, dass sowohl die transnationale Kriegsmaschine des Kapitals als auch die Staaten eine neue Welle der internen und externen Kolonialisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen in Gang setzen mussten, um einerseits durch eine verschärfte Austeritätspolitik die staatliche Verschuldung aufzufangen und anderseits einen Feind zu finden, der für die Misere verantwortlich gemacht werden konnte5 Der Abbau des Sozialstaates und die Stagnation der Reallöhne führten dazu, dass die privaten Haushalte weiter in die Schuldenökonomie integriert wurden und auf ihre Einkommen in finanzieller Hinsicht »spekulieren« mussten.6 Und Schulden müssen als Machtapparate verstanden werden, die besonders auch die Frauen, die Schwarzen und Armen betreffen. Rassistische Politiken, insbesondere die institutionalisierten Rassismen, waren von Anfang an Teil der Austeritätspolitik. Nach der Krise von 2008 wurde der Rassismus und der Nationalismus also endgültig auf die Höhe der Staatsmacht gehoben.

1 Deleuze und Guattari haben die Demokratie in all ihren Formen und Konstellationen scharf kritisiert und nennen sie den Cousin des Totalitarismus.

2Der Staat kann die Wahrnehmungskategorien innerhalb der Grenzen seines Territoriums dadurch universalisieren, dass er eine Bevölkerung konstituiert, deren Mitglieder die gleichen Wahrnehmungskategorien besitzen, nachdem sie spezifische Konditionierungen und Einimpfungen von Prozeduren, die man Bildung nennt, durchlaufen und erlitten haben. Dies betrifft insbesondere die Konstruktion des Bürgers: In der liberalen Staatsauffassung ist der Bürger jeder, der von einer Verfassung als solcher anerkannt wird, er muss dafür keine besonderen Eigenschaften mitbringen, die etwa mit dem Blut oder der Herkunft verbunden sind, wie es später der völkische Rassismus annimmt. Der Staat etabliert den Bürger als ein formell freies und gleiches Subjekt, das mit seiner Atomisierung identisch ist, und repräsentiert zugleich die Einheit, die in formell gleichberechtigte Monaden unterteilt ist. So zeigt sich seine politische Souveränität an. Hingegen setzt der Faschismus die Nation vor den Staatsbürger, um diesen letztendlich zu liquidieren. Der Nationalcharakter, der keineswegs mit der Staatsbürgerschaft gleichzusetzen ist, der aber in Deutschland immer wieder mit dieser vermischt wird, um schließlich sogar die Nation gegenüber dem allgemeinen Staatsbürger zu bevorzugen, ist das Ergebnis von bestimmten Disziplinierungen und Einimpfungsprozeduren, die allesamt auf einen sublimierten Rassismus hinauslaufen.

Im Gegensatz zum Nationalcharakter ist der Bürger eine rein juridische Einheit, die existiert, insofern der Bürger in ein Verhältnis von Rechten und Pflichten zum Staat gesetzt ist, wohingegen es die Nation in der deutschen konservativen Staatslehre als eine ethnokulturelle Einheit gilt, die zwar gesetzlich definiert und vom Staat territorialisiert werden kann, aber doch deutlich von der Staatsbürgerschaft unterschieden ist. Letztendlich ist es aber der kapitalistische Staat, der die Nation mit seinen konstitutiven Elementen (einheitlicher ökonomischer Markt, Territorium und Sprache) hervorbringt, indem er gezielt in die materiellen Raum- und Zeitmatrizes interveniert, die Bestandteil der kapitalistischen Ökonomie und der Produktionsverhältnisse werden sollen.

3Das Proletariat ist je schon ein objektiv migrantisches Proletariat, denn zu jedem Zeitpunkt kann der im Lohnarbeitsverhältnis stehende Arbeiter entlassen werden, um sich gemäß den Anforderungen der Kapitalakkumulation woanders niederlassen zu müssen. Diese Mobilität des Proletariats, wenn sie auch räumlich begrenzt bleibt, ist eine Bedingung der modernen Industrie. Und ohne die Migration des globalen Proletariats hin zu neuen Märkten, vom Land zur Stadt, von der Stadt zur Stadt, von Land zu Land, ist die kapitalistische Akkumulation nicht möglich. Als der am weitesten deterritorialisierte Teil des Proletariats besitzt heute die globale Surplus-Bevölkerung, obgleich sie räumlich festgesetzt wird, das größte Potenzial für eine revolutionäre Transformation. Dies ist so, weil sie im Sinne von Deleuze und Guattari als eine Minderheit fungiert, die nichts weiter als eine proletarisierte Masse ist, aber als Masse sofort mit den institutionellen, polizeilichen und juristischen Strukturen der Nationalstaaten konfrontiert wird. Dabei muss der schmittschen Konstruktion der Migrationspolitiken unbedingt Einhalt geboten werden: Der Nomadismus ist für ihn immer nur eine zeitweilige Erscheinung der Migration, sodass sie unweigerlich zur Quelle einer neuen territorialen Ordnung, die sich zwischen Imperialismen oder Staaten abspielt, werden muss; sie findet ihr historisches Schicksal darin, Teil dieser Formationen zu werden, und wenn von ihr bestimmte Bedingungen verweigert werden, dann kommt es schnell zu Gewaltakten, die sie zerstören.

4Die staatlichen Interventionen zur Rettung des Finanzsystems erstreckten sich auf die Kreditvergabe an private Banken und an auf ihre Rekapitalisierung, auf den Kauf von Bankaktiva und staatliche Garantien für Bankeinlagen oder gar für Bankbilanzen. Insgesamt wurden von beteiligten Institutionen, Zentralbanken, Bankenaufsichten und Finanzministerien dafür über sieben Billionen Dollar zur Verfügung gestellt. Diese Intensität der Maßnahmen waren für die jeweiligen Volkswirtschaften davon abhängig, in welchem Grad der Vernetzung ein Land sich mit dem globalen finanziellen Kapital befand, von der Höhe der verfügbaren öffentlichen Gelder, den Exekutivpolitiken und der Macht der einheimischen Konzerne und Banken. In den USA wurden durch die Rettungsmaßnahmen des US-Finanzministeriums die Steuerzahler weniger als in Europa belastet.

5Diese Verschärfungen gründen auf den Vorspielen der Exklusion, hat doch der Arbeitslose unter dem Diktat der Jobcenter auf demjenigen Markt nichts zu schaffen, auf dem es in den großen Unternehmen eine einigermaßen abgesicherte Kernbelegschaft, das zum Teil selbständige Prekariat und die staatlich subventionierten abhängig Beschäftigten gibt. Der überflüssige Rest wird als ALG-II-Empfänger in die Zwangsarbeit verwiesen, in der die Arbeit selbst das geringfügige Einkommen ist, da ein von der Arbeit unabhängiges Grundeinkommen weiterhin abgelehnt wird.

6Bezüglich der Austeritätspolitik gilt es zu wiederholen, dass diese nicht ausschließlich die Kürzung der Leistungen des Sozialstaats betrifft, sondern eine langfristige Umstrukturierung des Staates erfordert, welche die Expansion der Finanzialisierung in die Bereiche der sozialen Reproduktion hinein sowie die Integration der Bevölkerung in das Finanzsystem befördert. Austerität beinhaltet eine langfristige politische Strategie, durch welche sowohl die Ökonomie der Schulden, in die via Kredit selbst noch die kleinen Einkommen eingespeist werden, als auch die spekulativen Operationen mit dem Geld (Verbriefung von Konsumentenkrediten) ausgebaut werden. Insbesondere die Stagnation der Reallöhne treibt die Haushalte in die Schuldenökonomie hinein, innerhalb derer sie nun fatalerweise auf ihre reduzierten kleinen Einkommen spekulieren müssen.

7Dividuation ist der Vorgang, eine von vielfältigen Strömungen durchzogene Geteiltheit zu erzeugen, die in spezifische maschinelle Prozesse eingebunden wird. Diese Prozesse, welche die Subjekte teilen, spalten und neu zusammensetzen, sie fluider, flexibler und variabler machen und sie zu Dividuen transfomieren, bezeichnen Deleuze und Guattari als »maschinische Indienstnahme«. In diesem Modus lässt sich der/die Einzelne nicht länger als ein individualisiertes Subjekt, als ökonomisches Subjekt oder als Bürger verstehen, sondern er/sie muss als ein Teil oder als eine Komponente der Gefüge der Maschinen, Unternehmen, finanziellen Systeme, Medien und des Staates beschrieben werden. Die Dividuen inkorporieren eine statistische Existenz, die von privaten Unternehmen, Meinungsinstituten und den Institutionen des Staates erfasst, kontrolliert und reguliert wird. (Vgl. Deleuze/Guattari1992: 633-636)

Nach oben scrollen