Althusser und das “Problem” in der Philosophie

Deleuzes Virtualitätsphilosophie hat die nicht-kreationistische Konstruktion von Problemen, Begriffen und deren Relationen schlichtweg vor die Interpretation gesetzt.. Ähnlich hat dies Althusser in mehreren Passagen in der Schrift Das Kapital Lesen 1 formuliert, wenn er schreibt, dass die Produktion einer Problemkonstellation und der sie entfaltenden Begriffe als Effekt einer neuen Theorie zu verstehen sei. Diese neue Theorie entwickelt zuallererst ein Feld der theoretischen Erkenntnisse, innerhalb dessen das Problem konstruiert wird, wozu wiederum die Erfindung ganz bestimmter Begriffe notwendig ist. Althusser schließt an, dass erst durch die Herstellung einer gegliederten Ordnung innerhalb einer Problematik Begriffe ihre Stellung in einem Feld, ihre Bedeutung und ihre Konsistenz beziehen, um mit der jeweiligen Problematik zu variieren. Die Problematik ist das »Gravitationszentrum, von dem die Ordnung und die verschiedenen Teile dieses Textes (Gegenstand, Sprache, Terminologie, Methode, Probleme und ihre Lösungen) ausgehen.« (Karsz 1975: 27) Für Althusser stellt schon allein der Versuch, von den Lösungen auszugehen sich insofern als ideologisch dar, als man das Problem dann genau so stellt, dass die Lösung, die man ihm geben will, mit der angeblichen wirklichen Lösung tatsächlich übereinstimmt, d. h., man konstruiert die Problematik ganz im Hinblick auf die Lösung, die aktuell von den sozioökonomischen Verhältnissen gerade gefordert wird.) Für Althusser wie für Deleuze resultieren dagegen die »Lösungen« aus der Konstellation der das Problem skizzierenden Begriffe, Relationen und Topologien und eben nicht umgekehrt. Die Lösung wird mit der Konfiguration der Komponenten, Parameter und der Relationen von Begriffen, die das Problem artikulieren, immanent produziert, sie unterscheidet sich aber auch vom Problem. Und wie sich die Probleme nicht ohne Weiteres in den Lösungen enthüllen, so können umgekehrt die Lösungen Probleme auch verstellen, was auf dieser Ebene schon auf die komplexen Übersetzungsverfahren von Problemen und Lösungen hinweist. Und die Produktionen von Ordnungen, Konstellationen und Übersetzungsverfahren als Problematiken bzw. die theoretischen Produktionsmittel zur Produktion von Erkenntnissen sind je schon sprachlich/schriftlich organisiert. Auch hinsichtlich der Darstellungsproblematik von ökonomischen Strukturen hat man es ständig mit neuen theoretischen Produktionen zu tun, sodass »veraltete« Produktionen schließlich keinen Platz mehr finden, wobei es zu bedenken gilt, dass man grundsätzlich die Relationen und Elemente der Strukturen in ihrem Zusammenspiel nur bruch- oder krisenhaft auszulegen vermag, i. e. das Werk als »Baustelle«.

Althussers Verfahren einer wissenschaftsgeschichtlichen Rekurrenz, auch »symptomale Lektüre« genannt, verweist in diesem Kontext darauf, dass man keinen Text einer teleologischen Denkweise unterwerfen sollte, die ihn auf ein Ziel ausrichtet. Ganz im Gegenteil sei die jeweilige Unzulänglichkeit in einem internen Vergleich des Textes mit sich selbst zu suchen, der ja immer schon von heterogenen Diskursstrukturen durchzogen sei. Deshalb kann Althusser von der Problematik als einem »begrifflichen Arbeitsinstrument der theoretischen Praxis«  schreiben, das sowohl die Objekte (Daten, Informationen, Begriffe, Ideen etc.) als auch die Produktion derselben ständig in Spannung und Offenheit hält. Und er nimmt schließlich bezüglich des jeweiligen Erkenntniseffekts in der Theorie eine Differenzierung zwischen Problematik und wissenschaftlichem Objekt vor: Während die Problematik mit ihrer jeweiligen Struktur das Feld der möglichen Gegenstände absteckt, besitzt die streng wissenschaftliche Theorie ein gegliedertes und hierarchisiertes Ganzes, das sie erst vollständig von sämtlichen Ideologien bzw. überkommenen Vorstellungen ablöst. Und die Aufgabe der Philosophie besteht gerade darin, diese Spaltung zu beschreiben, ohne jedoch selbst in die theoretische Praxis der einzelnen Wissenschaften einzugreifen. Mit ihren Operationen untersucht die Philosophie, so sieht es zumindest der Althusser der mittleren Phase, das Zusammenspiel von Problematiken, Objekten und Diskursen in den Wissenschaften, und dies eben ohne direkte Intervention. Damit zeigt sich für Althusser die epistemologische Struktur einer Wissenschaft erst vor dem Hintergrund einer Philosophie, der es gelingt die Geschichte epistemologischer Strukturen zu problematisieren, insofern die Wissenschaften tatsächlich neue theoretische Objekte hervorbringen. Dies sei bei Marx geschehen, sodass zugleich ein neuer Typus von Philosophie entstehen konnte, der mit der Vermittlung von Geist und Materie bzw. der Subjekt-Objekt-Problematik gebrochen hätte. Allerdings sei es Marx nicht gelungen, die in seiner Theorieproduktion schon untergründig wirksamen wissenschaftlichen Begriffe selbst auszuformulieren und zu entfalten, und gerade dies zu tun, erweise sich heute als die Aufgabe einer marxistischen Philosophie. Dabei hat sich die Philosophie auf keinen Fall im Sinne einer Wissenschaft der Wissenschaften als die ultimative Richterin aufzuspielen, sondern sollte neben der Konstruktion der Geschichte der Wissenschaften die interne Diskursstruktur singulärer Theorien untersuchen und damit zeigen, wie unter bestimmten Bedingungen in der Theorie selbst immanent geregelte und zu regulierende wissenschaftliche Erkenntniseffekte zustande kommen, ohne dass die Philosophie dafür einerseits transzendentale Garantien abgibt, andererseits bloße Ansammlungen historischer Theorien abliefert, mit denen das jeweilige stringente Objekt der Theorie sich nicht erfassen lässt. Der Erkenntniseffekt der philosophischen Analyse bestünde demnach in der Deskription des spezifischen Erkenntniseffekts einer regionalen Wissenschaft mit ihren Axiomen, Hypothesen, schlüssigen Argumentationslinien, kategorialen Prägnanzen, Methoden, experimentellen Apparaten, empirischen Operationalisierbarkeiten, politischen Relevanzen und Problematiken, d. h., all den Diskursivitäten einer Theorie, die anzeigen, »wie ein Wort zum Begriff, ein Begriffssystem zur Problematik und eine theoretische Montage zur Erkenntnis wird«. (Ebd.: 251) Die Theorie hat sich den pragmatisch zu bestimmenden Begründungskriterien zu stellen, ohne eine Letztbegründung zu initiieren. Gleichzeitig sollte die Philosophie ihre Beziehung zur Nicht-Philosophie insofern in Betracht ziehen, als sie selbst von den ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen, die auf sie einwirken und auf die sie einwirkt, nicht zu trennen ist. Deshalb gilt es hier dreierlei zu beachten: a) Die Struktur einer singulären Wissenschaft wäre zu untersuchen, die Eröffnung neuer Problematiken, Begriffsfelder, Methode, Instrumente und Objekte; b) das wissenschaftliche Umfeld wäre abzustecken, das einen theoretischen Bruch beeinflusst hat und von ihm beeinflusst wird; c) es wären die historischen sozio-ökonomischen Verhältnisse selbst in den Blick zu nehmen, in denen die jeweiligen Wissenschaften und ihre Institutionen arbeiten. Obgleich die Philosophie ständig neue Begriffe und Theorien aus den Wissenschaften zieht, in spezifischer Weise absorbiert und darauf folgend immer neue »Objekte« konstruiert, besitzt sie selbst nicht dieselben Objekte wie die Wissenschaften. Und als Philosophie, die den Gestus der traditionellen Philosophie, in letzter Instanz auf die Dualismen von Geist und Materie und/oder Subjekt und Objekt zu rekurrieren, zurückweist, kann sie nur eine »nicht-philosophische Theorie der Philosophie« sein, wie Althusser selbst schreibt, und damit legt er tatsächlich eine Lunte an Laruelles Konzeption der Nicht-Philosophie.

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