Anmerkungen zu Yanis Varoufakis: Der globale Minotaurus.

Einer der Sachverhalte, der das gegenwärtige System der Kapitalisierung stark beeinflusste, war die im Zuge der Auflösung des Bretton Woods Systems im Jahr 1971 getroffene Entscheidung der amerikanischen Regierung, das damals schon existierende doppelte Defizit der USA (Leistungsbilanz- und Haushaltsdefizit. Das Defizit in der Leistungsbilanz besteht vor allem aus dem Handelsdefizit) in Zukunft vor allem durch Waren- und Kapitalflüsse aus dem Ausland kompensieren und finanzieren zu lassen. Insbesondere die aus der Nachriegsordnung neu entstandenden Exportländer Deutschland und Japan lieferten in der Zeit nach 1971 ihre Produkte wieder in größerem Umfang in die USA, während die Gewinne, die durch diese Verkäufe realisiert wurden, bis zu 70% wieder an die Wall Street zurückflossen, wo sie wiederum in Direktinvestitionen, Finanzinstrumente, Staatsanleihen und Aktien transformiert wurden. (Vgl. Varoufakis 2012: 35) Später wurde die Absorption der Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen der Exportländer Japan und Deutschland durch den sogenannten pazifischen Kreislauf zwischen den USA und China ergänzt, erweitert und teilweise sogar ersetzt.

(Im Jahr 2015 ist die Volkswirtschaft Chinas die zweitgrößte der Welt und wird wahrscheinlich im kommenden Jahrzehnt schon die Spitzenposition besetzen. Seit dem Jahr 2009 führt China bei den Weltexporten.  Im Jahr 2009 brach das amerikanische Handelsdefizit zwar ein, doch heute steigt es wieder an. Ein Großteil des amerikanischen Handelsbilanzdefizits entfällt eben auf China. Zwischen beiden Großmächten entwickelte sich ein Defizitkreislauf, der bspw. in der Eurozone zwischen Deutschland und den Ländern der südlichen Peripherie besteht. Die USA fungieren jedoch immer noch als Konjunkturstütze des kapitalistischen Weltsystems. Seit 1987 haben die USA die Weltwirtschaft insgesamt – qua der kumulierten Handelsdefizite – mit einer kreditfinanzierten Nachfrage von 10,7 Billionen US-Dollar unterstützt.
Allerdings muss die Annahme, dass Chinas Wachstum vor allem aus seiner Exportstärke besteht, relativiert werden. Sie “beruht” darauf, dass man den Export als ein Teil des BIP definiert. Doch den Export durch das BIP zu teilen ergibt eine ziemliche bedeutungslose Zahl. So waren die Exporte von HongKong and Singapore im Jahr 2006 um über 200% höher als ihr BIP, was absurderweise bedeuten würde, dass die Exporte zweimal so hoch wie der Output ihrer Ökonomien waren. Diese Werte sind zu hoch angegeben, weil die typischen Exportstatistiken die intermediären Inputs nicht berücksichtigen, die ungefähr zwei Drittel des BIP ausmachen. Beispielsweise werden Autoteile aus Australien von China importiert, dort zusammengesetzt und dann in die USA exportiert. Die obigen übertreibenden ideologischen Figuren haben politische Auswirkungen, von protektionistischem Lobbyismus bis hin zu diplomatischen Disputen. Was es wirklich zu eruieren gilt, das ist der in China hinzugesetzte Wert. Wenn man die internationalen Wertschöpfungsketten berücksichtigt, dann schrumpft das Handelsdefizit der USA gegenüber China um 40%. Anstatt „Made in China“ sollte auf vielen Produkten „Made globally’ stehen.)

Die Finanzierung des doppelten Defizits war, wie Yanis Varoufakis in seinem Buch “Der globale Minotaurus” ausführt, auch das Resultat einer gescheiterten US-Politik des Globalen Plans, mit dem die US-Regierung ihre Handelsüberschüsse nach dem zweiten Weltkrieg unter allen Umständen aufrechterhalten wollte, während sie gleichzeitig in Form von Direktinvestitionen, Soforthilfen und anderen Zuschüssen Japan und Deutschland finanziell massiv unterstützte, womit es diesen Staaten erst ermöglicht wurde, in größerem Umfang amerikanische Produkte zu kaufen. Zugleich sollten Deutschland und Japan durch diese Unterstützung zumindest auf regionaler Ebene wieder eine hegemoniale Basis gewinnen. (Ebd.: 108) Was die US-Strategen in den oberen Politetagen allerdings nicht voraussehen wollten oder auch gar nicht konnten, das bestand später einfach darin, dass sich die globalen Ungleichgewichte – auch infolge eines fehlenden Regulationsmechanismus, der das „globale Überschussrecyling“ (Varoufakis) koordinieren kann – mit der Zeit tatsächlich umkehrten, sodass die USA zum Defizitland in doppelter Hinsicht transformierten.

Insbesondere durch die enormen Kriegskosten (Vietnam) und die massive Ausweitung der internen Sozialprogramme wurde schon in den 1960er Jahren das Ende des Globalen Plans eingeleitet. Die steigende Staatsverschuldung der USA, die Anfang der 1970er Jahre durch ihre eigenen Goldbestände längst nicht mehr gedeckt war, beschleunigte die Dollarflut an den Weltmärkten (und zugleich den Inflationsdruck auf Staaten wie Frankreich und Deutschland, die nun gezwungen waren, die Geldmengen in ihrer Währung zu erhöhen, um die Wechselkurse stabil zu halten), mit dem bekannten Resultat, nämlich dem Ende des Bretton Woods Systems (Aufhebung der Konvertabilität des Dollars in Gold).

Es galt nun seitens der US-Regierung zu organisieren, dass die Minusse der USA, die aus ihrem doppelten Defizit resultierten, vom „Rest der Welt“ finanziert wurden, und dafür bedurfte es der rigorosen Umverteilung der globalen Profitmassen, das heißt die Umkehr der globalen Geldkapitalflüsse in die USA; dies erforderte aber auch signifikante Produktivitätszuwächse der US-Industrie vor allem gegenüber den Konkurrenten in Deutschland und Japan (hier gilt es die Senkung der Lohnkosten in den USA und den Anstieg der Ölpreise, der Japan und Deutschland wesentlich stärker betraf als die USA, zu beachten). In den 1980er Jahren erhöhten die US-Unternehmen qua neuer Technologien, der Verdichtung der Produktionsprozesse und ausländischen Direktinvestitionen ihre interne Produktivität, was die absoluten Profitmassen und prozentualen Profitraten der US-Unternehmen zumindest zeitweilig wieder ansteigen ließ. (Schon seit den 1970er Jahren stagnierten die realen Löhne in den USA, was zur zeitweiligen Erholung der Profitraten beitrug.)

Mehr als nur orchestriert wurden diese ökonomischen Prozesse durch die kurzfristigen sprunghaften Erhöhungen der Zinssätze ab dem Jahr 1979, um damit weitere Geldkapitapitalströme an die Wall Street zu locken. Der von Präsident Carter zum Chef der FED ernannte Paul Volcker setzte auch angesichts hoher Inflationsraten in den 1970er Jahren eine radikale Erhöhung der Zins- und Diskontsätze durch, was sich in einer Stabilisierung des Dollarkurses und einer Erhöhung der Profitraten für inländische und ausländische Investoren, Banken und großen Unternehmen niederschlug, während es gleichzeitig zu einer Verteuerung der Schulden kam. Dabei wurde das ständig ansteigende staatliche Haushaltsdefizit (Reagonomics qua Steuersenkungen für die reichen Eliten, Einkommensumverteilung und höhere Militärausgaben) stärker denn je durch das ausländische Kapital finanziert, indem es Wertpapiere, Anleihen, Aktien und kurzfristige US-Schuldverschreibungen (Treasury Bills) in großem Umfang erwarb. Zumindest zeitweise konnte damit das wachsende Handelsbilanzdefizit kompensiert werden. (Varoufakis 2012: 135) Auf dem Höhepunkt ihrer Defizitkonjunktur verzeichneten die Vereinigten Staaten ein jährliches Handelsdefizit von nahezu 800 Milliarden US-Dollar. Durch sein Handelsdefizit nahm die USA einen Großteil der Überschussproduktion der Welt auf und wirkte somit stabilisierend auf das gesamte Weltsystem des Kapitals.

Der Besitz einer globalen Leitwährung ermöglicht es, mit den Waffen der Inflation und der Abwertung der Währung zu drohen und wenn notwendig diese auch effektvoll einzusetzen. Eine Leitwährung kann aggressiv sein, weil sie zu Außenhandelsbilanzdefiziten (Triffin-Dilemma) und einer Schuldenblase bei genau dem Staat führen kann, der im Besitz der Leitwährung ist. (Dies heißt seit den 1970er Jahren auch, dass die Finanzierung der Staatsschulden der kapitalistischen Kernstaaten zunehmend durch das finanzielle Kapital erfolgte, durch seine institutionellen Anleger wie Pensionsfonds, Versicherungen und Investmentgesellschaften, und dies wurde von den Ratingagenturen eskortiert, die nun auch für die Staaten exakt diejenigen Bewertungskriterien einführten, mit denen private Unternehmen evaluiert wurden. Man etablierte in den wirtschaftspolitischen Öffentlichkeiten statistische Kennzahlen für Leistungsbilanzen, Haushalte, Pro-Kopf Einkommen, Inflations- und Wachstumsraten. (Gegenwärtig orinetiert sich die gesamte Austeritätspolitik mit ihren Schuldenbremsen, Stabilitätspakten und Privatisierungen ganz am Gläubigerschutz des finanziellen Kapitals, das zuverlässige staatliche Schuldner einfordert, die auch in Krisenzeiten die Forderungen der privaten Kreditgeber zu bedienen in der Lage sind.)

Dabei kann die Schuldenblase zu einer Waffe mutieren, die an eine Art Sprengstoff erinnert. Wie Heiner Mühlmann es treffend formuliert hat, man kann die Waffe zünden, muss dann aber auch dafür sorgen, dass sie nicht im eigenen Land in die Luft fliegt, sondern im Land der anderen. (Mühlmann 2013) In diesem Kontext führte das freie Flottieren der Währungen nach dem Ende von Bretton Woods zu einer erweiterten Nachfrage nach dem weiterhin als Leitwährung fungierenden Dollar, wobei dies nicht unbedingt einer Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen aus den USA gleichkam. Vor allem die nach wie vor weltweit in Dollar abgewickelten Öl- und Rohstoffgeschäfte bewirkten eine ständige Nachfrage nach dem Dollar, und dies zeigte sich in den 1970er Jahren besonders deutlich am Beispiel des Petrodollars, die in großen Mengen an die Wall Street flossen, wo sie umgehend in Staatsanleihen, Aktien und Wertpapiere umgewandelt wurden. Weil der Dollar im globalen Maßstab als Zahlungsmittel eingesetzt werden konnte, kam es hohen Dollarbeständen bei Unternehmen und Privatpersonen in aller Welt, die vor allem darum bemüht waren, das Geldkapital umgehend an der Wall Street in Fonds, Aktien, Staatsanleihen, später in Hedgefonds und Derivaten anzulegen, womit man mehr oder weniger freiwillig die Bonität der USA befeuerte. Der militärisch-ökonomische Komplex verfestigte zudem die ökonomische Hegemonie des US-Kapitals. Dieses absorbierte also die Geldkapitalströme aus anderen Staaten und von ausländischen Unternehmen und recycelte sie unter anderem dadurch, dass man die Importe in das eigene Land unverdrossen ankurbelte. Solange der Dollar nach wie vor als globale Leitwährung (Reservewährung und Zirkulationsmittel) fungiert, bleibt die hegemoniale Rolle der US-Ökonomie bis heute im Weltmaßstab gesichert (gestützt durch den militärischen Komplex). Allerdings hat sich mit Beginn des Jahres 2000 der wirtschaftliche Abstieg der USA vor allem gegenüber China beschleunigt, und damit sank auch die internationale Stärke des Dollars. Hielten die Notenbanken der Welt im Jahr 2000 noch ca 70 Prozent ihrer Währungsreserven in US-Dollar, so waren es 2010 nur noch 60 Prozent. Im Jahr 2016 wird die Marke von 50 Prozent angestrebt und dann ist es in der Tat nicht vollkommen auszuschließen, dass bei einem weiteren Rückgang eine Massenflucht aus dem Dollar einsetzen wird.

Das längst global agierende finanzielle Kapital erfand Anfang der 1980er Jahre mit der Finanzialisierung, dem System der Derivate, eine neue Geldkapitalform, die durch eine Machttechnologie und Regierungsform komplementiert wird, kurz gesagt, es kam zu einer Transformation der polit-ökonomischen, der strategischen RaumZeit. An dieser Stelle kommen die CDS-Versicherungen ins Spiel, mit denen auf den Ausfall eines Referenzkredits spekuliert wird, auf ein Kreditereignis, das zunächst als Bankrott nur inszeniert wird, das heißt einen Bankrott nur bedeutet, insofern der reale Bankrott innerhalb einer fixierten Zeitspanne ständig simuliert wird. Dabei ist davon auszugehen, dass es sich bei den CDS-Ketten um temporale, virale Verkettungen handelt, die zur andauernden Produktion von differenziellen Klonen führt. Gerade wenn darauf spekuliert wird, dass die Preise der Referenzkredite (Staatsanleihen) fallen, steigen die Preise der CDS-Versicherungen, und auf dieser Bewegung des asymptotischen Aufschubs bzw. der differanziellen Preisbewegung wird sozusagen gesurft, bis es zum Ende des Aufschubs bzw. zur Katastrophe kommt, die man in Fachkreisen „Das Kreditereignis“ nennt. Mit den CDS-Versicherungen werden einerseits die Preise der Referenzkredite manipuliert (steigende Nachfrage nach CDS führt zu höheren Gebühren im Simulationsraum und damit zu höheren Zinsen der Referenzkredite (Staatsanleihen), mit denen eben auch die CDS-Kosten gedeckt werden müssen), andererseits werden die Ereignisse, die monetäre Katastrophen zunächst nur bedeuten, aufgeschoben, und dies wiederum beeinflusst deutlich die Katastrophen in der sog. Realökonomie. (Die seit einigen Jahren festzustellende sprunghafte Multiplikation des internationalen Kreditvolumens lässt sich eher durch den Handel der Forderungen von Eigentumskontrakten als durch die direkte Eigentümerschaft an Wertpapieren at full cost erklären, was nichts anderes heißt, als dass der fiktive oder nominale Wert der Derivate das Vielfache der direkten Kosten betragen kann.)

(In den Jahren vor der Finanzkrise 2007 wurden in den USA in großem Umfang Hypothekenkredite vergeben, in die der Kreditausfall von vornherein miteingerechnet war. Qua mortgagebacked und asset-backed securities wurde es möglich, eine große Anzahl von Hypothekenkrediten zu bündeln, deren Strukturierung, Evaluation und Bewertung immer komplexer wurde, was unter anderem auch dazu diente, toxische bzw. subprime Hypotheken zu verstecken oder zu waschen, indem sie mit tragfähigen Hypotheken gemischt wurden. (Die Effekte der seit den 1990er Jahren stattfindenden Expansion der Derivate als Geldkapital und als Macht-Instrumente des finanziellen Kapitals bestanden auch in der Vervielfachung informeller, opaker und zum Teil unlesbarer Strukturen, von internationalen Organisationen und maschinellen Abläufen, die jeder sozialen oder demokratischen Kontrolle entzogen waren.) Mit dem Instrument der collateralized default obligations (CDOs) wurden Bündel von Hypotheken geschaffen, die zunächst ein singuläres Risiko und einen singulären cashflow konzentrieren/verdichten, wobei diese Konzentrate wieder aufgeteilt, das heißt in verschiedene Ebenen mit verschiedener Kreditwürdigkeit tranchiert und damit rekombiniert werden können. Auch dadurch wurden die toxischen Tranchen verdeckt, verdunkelt und verkleidet. Das Instrument der Hypothek auf Wohnungen und Häuser geronn also zum Ausgangspunkt einer Kaskade von derivativen Preisbewegungen. Dabei ist die Hypothek selbst schon eine abgeleitete und zugleich dominante Form des „Besitzes“, denn die Hypothekenbesitzer können sich keineswegs Eigentümer des Hauses nennen, zumindest nicht bis zum Ende eines langen Periode der Amortisierung. Die kreditgebende Bank ist die wirkliche Eigentümerin, während die Hypothekenbesitzer mit ihren Zinszahlungen periodisch die Profite der Banken realisieren. Während die materielle Form des hypothekenbelasteten Hauses fix und unteilbar ist, besitzt seine finanzielle Form, die Hypothek, die differenzielle Struktur der Teilbarkeit und Rekombinierbarkeit im Zuge des Handels mit Derivaten. Die gesamte Architektur der Derivate ermöglichte es, durch diese Verdichtungs- und Differenzstrategien das Gesamtkreditvolumen der Kreditinstitute enorm auszudehnen.

Heute muss die Vergabe von Anleihen, Staatsanleihen und Krediten immer durch CDS-Versicherungen gedeckt werden. Wenn Banken Geld ohne Sicherheiten verleihen, dann schließen sie auf jeden Fall CDS-Versicherungen ab, und dies unter Umständen auch im Ausland, womit man das Risiko teilweise ins Ausland zu exportieren vermag. (Vgl. Mühlmann 2013: 59) Gerade die Kombination von Weltleitwährung und Einsatz von Derivaten wie CDS ermöglicht es den USA, Krisen ins Ausland zu exportieren bzw. Entropie zu transferieren. Dies geschieht im Kontext der Viralität von CDS-Versicherungen, die sich qua Klonierung zu differanziellen Kettenbriefen fortschreiben, in die per se der zeitliche Aufschub integriert ist, wobei die letzten Käufer, die in die Kette einsteigen, bevor ein Kreditereignis wie die Insolvenz eintritt, die Verlierer darstellen. So verkauften US-Banken vor der Subprime Krise eben zur Absicherung von unbesicherten Hypothekenkrediten ihre Derivate/CDS massiv ins Ausland, wobei die CDS ausgezahlt werden mussten, wenn es zu Bankrotten und Pleiten (vor allem in den USA selbst) kam. Wenn nun eine Abwertung des US-Dollar eintritt, dann ist bezüglich der CDS, die vormals mit der eigenen, später abgewerteten Währung bezahlt worden waren, eben auch mit Verlusten auch des auslandischen Kapitals zu rechnen. (Mühlmann 2013: 111).

In Europa hatten wir in den letzten Jahren nun folgende Entwicklung zu verzeichnen. Varoufakis spricht hinsichtlich der Struktur des ESM von einem Modell, das die Dominanz einer neuen Bankrottokratie ausdrücke, weil mit dem Geld zum einen die europäischen Pleitebanken gerettet würden, zum anderen mit der Ausgabe von differenziellen Eurobonds das System der Derivate erneut aufgegriffen (Bonds sind wie CDOs in verschiedene Tranchen strukturiert) und erweitert würde, sodass man Banken, Versicherungen und Hedgefonds geradezu einlade, neues spekulatives Geldkapital zu kreieren. (Varoufakis 2012: 207) Die Banken, Versicherungen und Hedgefonds kauften also die ESM-Anleihen und kassierten hohe Risikoaufschläge, die u.a. auf den Kosten der CDS basieren, die im Interbankenverkehr entstehen, wenn die Anleihen durch eben diese CDS abgesichert werden müssen. Weil die Mitgliedschaft in der Eurozone die am höchsten verschuldeten Staaten daran hindert, ihre eigene Währung abzuwerten, war es dem finanziellen Kapital ohne weiteres möglich, gerade auf Insolvenzen exakt dieser Staaten zu spekulieren, und dies geschah mit den Versichungsderivaten CDS, bei denen man gerade dann Renditen einfährt, wenn ein Staat seiner Insolvenz immer näher kommt. Heiner Mühlmann resümiert an dieser Stelle: “Damit befindet sich der Markt der Staatsanleihen zur Gänze in der Gewalt der strategischen CDS-Räume.“ (Mühlmann 213: 109) Und dies eben angesichts der Tatsache, dass mit Hilfe der CDS Gewinne genau dann realisiert werden können, wenn auf den Ausfall von schwachen Mitgliedsstaaten der EU wie Griechenland oder Portugal spekuliert wird, was zunächst zu einem Kursanstieg dieser CDS führt, worauf die Zinsen für Staatsanleihen dieser Länder steigen und sie, wenn kein Geld am Geldmarkt mehr zu bekommen ist (wie im Fall Griechenlands), beim ESM vorstellig werden müssen. Die Eurobonds und die mit ihnen entstandenen CDS trugen damit also erneut zu einer Expansion spekulativen Geldkapitals bei.

Einige amerikanische Hedgefonds verloren das Gros ihres Wertes, zwei deutsche Banken gerieten in Liquiditätsnöte. In Großbritannien, wo die Einlagen der Sparer nur zu einem geringen Umfang abgesichert sind, zeichnete sich zum ersten Mal seit 1866 ein Bank-Run ab: Sparer leerten ihre Konten bei Northern Rock und entzogen der Hypothekenbank Milliarden-Pfund-Werte. Sogar in Kasachstan und Indonesien waren Auswirkungen zu spüren. Sicherlich hat ihr rasches Um-sich-Greifen zum einen mit den gewachsenen Möglichkeiten der Informationstechnologie zu tun. Diese erleichtert Finanzmarktakteuren die Investition auf ausländischen Märkten – oftmals aber fehlt ihnen ein adäquates Verständnis für die Risiken, die sie auf Fremdmärkten eingehen.Zum anderen hängt die internationale Krisen-Ausbreitung mit der Liberalisierung der Finanzmärkte zusammen. Zumal in Schwellenländern Kapitalmärkte überstürzt dereguliert wurden, ohne dass eine starke Bilanzaufsicht, andere Aufsichts- und Regulierungsstellen und Transparenzregeln geschaffen wurden, die ein Minimum an Stabilität garantieren. Die Flucht in sichere Anlagemöglichkeiten ist dann schon programmiert, Selbst in entwickelten Finanzmärkten wie denen der USA und Westeuropas bleibt die Aufsicht über Finanzmarktinnovationen hinter dem Wünschenswerten zurück. Dies gilt auch für den Markt mit hypothekenbesicherten Wertpapieren (mortgage-backed securities, MBOs) und anderen forderungsbesicherten Schuldpapieren (collateralized debt obligations, CDOs), der erst in den neunziger Jahren größere Bedeutung für die Finanzmarktpraxis erlangte. Dies gilt aber auch für den Bankensektor. Im Verlauf eines Booms, so Minsky, steigen zunächst die Finanzmarktwerte, womit – scheinbar – auch die Bonität potentieller Schuldner zunimmt. Die Gewinnhoffnungen klettern, die realistische Wahrnehmung von Risiken leidet. Banken und Finanzhäuser intensivieren ihre Kreditvergabe, weil sie selbst problemlos an Kredite herankommen.Der “irrationale Überschwang” führt zu einem Übergang von der rein spekulativen zur “Ponzi-Finanzierung” – spätestens ab diesem Punkt entsteht bedrohliche Instabilität. Kein Zufall ist, dass die gegenwärtige Krise vom Immobiliensektor ausging. Zum einen hat die bisher hohe Liquidität im Markt zu einem markanten Anstieg der Häuser- und Grundstückspreise geführt – diese trügerischen “Sicherheiten” heizten die Schuldenaufnahme an, die amerikanische Kreditmaschine funktionierte. Zum anderen wurden durch den Weiterverkauf von Immobilienkrediten in Form von hypothekenbesicherten Wertpapieren die Risiken der Schuldenaufnahme breit gestreut. Hedgefonds und Großbanken waren dabei stark involviert.Die aktuelle Kreditkrise verlief daher in – bisher – zwei Akten. Ihren Ursprung nahm sie ihm Geschäft mit subprime-Hypotheken, also mit Immobiliendarlehen an Kunden unsicherer Bonität. Viele Haushalte mit geringem Jahreseinkommen wurden auf oft undurchsichtige Weise in solche Verträge hineingelockt.Spätestens nach der De-facto-Insolvenz zweier Hedgefonds der Investmentbank Bear Stearns, die in diesem Bereich spekulierten, sank auch bei anderen Finanzgeschäften die Bereitschaft der Banken zum Risiko. Die Geldhäuser vergaben weniger Kredite, sowohl an Kunden als auch unter sich, oder riefen gar Kredite zurück. Die Krise tangiert seitdem ganz neue Bereiche – Firmenanleihen, Überziehungskredite von Privathaushalten und sogar Anleihen für die Finanzierung des Universitätsstudiums (college loans). Die Frage lautet nun, ob ein Übergreifen der Kredit- und Bankenkrise auf die Realseite der Wirtschaft verhindert werden kann.

Ein bis heute nicht ganz von der Hand zu weisender ökonomischer Diskurs besagt, dass gerade weil man die virale Wirkung der finanziellen Instrumente und ihrer Risiken, vor allem der CDS und CDOs, nicht mit letzter Sicherheit auf bestimmte Sektoren einschränken oder die Bewertung nur auf bestimmte Unternehmen beschränken kann, die Finanzinstitutionen in den USA ab dem Jahr 2006 aufgrund ausfallender Hypothekenkredite Kredite und Liquidität aus dem interfinanziellen Handel abziehen mussten, was schließlich trotz der ständigen durch die FED initiierten Geldzuflüsse und Stützungsmaßnahmen im Kollaps von großen Finanzunternehmen wie Lehman Brothers im Jahr 2008 endete. Damit war man endgültig in die typische, nach Keynes benannte Liquiditätsfalle geraten, und dies, wie wir es schon kurz angesprochen hatten, im globalen Maßstab. Es war Keynes, der darauf hinweis, dass in einer Rezession die Zinsen nicht weiter fallen können, wenn sie erstmal bei Null liegen. Wenn aber die Preise weiter fallen, dann steigt zwar nicht der nominale, dafür aber der reale Zinssatz an, was die Krise nur noch weiter verschärft. Und tatsächlich brach mit der Finanzkrise 2007f. auch die stark kreditgestützte Realökonomie in sämtlichen Sekoren (Haushalt, Staat und Unternehmen) ein, wobei die Krise durch die folgenden staatlichen Austeritätspolitiken noch wesentlich verschärft wurde. Der Bankrott von Lehman Brothers bildete hier ein entscheidendes Ereignis: Die Kredit- und Derivatmärkte stagnierten oder froren ganz ein, es kam zur Fusionierung und Verstaatlichung von Banken, die in den USA zunächst mit 700 Mrd. Dollar gerettet werden mussten. (Die Finanzkrise 2007f. bildet nur den vorläufigen Abschluss einer Reihe von vorausgegangenen Finanzkrisen: Mexiko 1994, Asienkrise 1997/98, Russland 2009, Argentinien 2000/2001.) Während das Epizentrum der globalen Finanzkrise in den (in)formellen Organisationsformen des finanziellen Kapitals, seines Kreditsystems und seiner Derivatindustrie lag und auch den Staat-Finanz-Nexus betraf, gelang es dem Kapital insgesamt seine Macht gegenüber den Lohnabhängigen qua sinkender Kaufkraft und wachsender ungleicher Einkommensverteilung weiter zu stärken, wobei konstatiert werden muss, dass weder Konsumentenkredite noch die zu schnelle Ausweitung der Produktion von Gütern in anderen Teilen der Welt die globale Krise zu lösen in der Lage waren.

 

Literatur: Heiner Mühlmann 2013: Europa im Weltwirtschaftskrieg. Philosophie der Blasenwirtschaft.

Yanis  Varoufakis 2012: Der globale Minotaurus. Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft,

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