Aus dem Krieg desertieren/ Deserting the War

Der Krieg in der Ukraine, mit seinen verheerenden und für alle sichtbaren Folgen für die Zivilbevölkerung, ist zweifellos ein europäischer Krieg. Auch wenn „eurasische“ Vorstellungen wie die von Aleksandr Dugin, eines innerhalb des Establishments um Vladimir Putin immer mehr an Einfluss gewinnenden neurechten „konservativen Revolutionärs“, Russland aus kultureller und „geopolitischer“ Sicht als einen autonomen Raum darstellen, bleibt das Land ein integraler Bestandteil Europas. Freilich in einer besonderen Weise: Seit dem 18. Jahrhundert richte sich, so eine gängige historiographische These, wenn es um Europas „Selbstverständnis“ gehe, der Blick auf Russland, und zwar in dem Sinne, dass man in Europa auf der Suche nach einer Definition Russland als eine Art Spiegel ansehe, als einen Grenzraum, der zugleich innerhalb und außerhalb der eigenen Entwicklung liege. In gewisser Weise findet selbst die Oktoberrevolution in diesem Grenzraum einen Ausgangspunkt: Die Bolschewiki blickten nach Westen, obwohl sie sich der Besonderheiten der russischen Verhältnisse bewusst waren und die Notwendigkeiten des antikolonialen Aufstands sie nach Osten trieben. Wie dem auch sei, die Lage Russlands begründet für Europa ein Moment von Virtualität, einen Appell, die eigene Definition offen zu halten – genauer gesagt: die eigenen Grenzen und die Mechanismen der Kräfte, die darin die Politik bestimmen. Es ist dieses Moment von Virtualität, das der Krieg von Putin auszulöschen versucht. Und das ist ein erster Grund, sich diesem Krieg unbedingt zu widersetzen.

Allerdings bedarf die Feststellung, der Krieg in der Ukraine sei ein europäischer Krieg, einer Ergänzung, denn er ist nicht nur ein europäischer Krieg. Im Gegenteil: Tatsächlich geht es heute um nicht mehr und nicht weniger als um die „Weltordnung“. Gewiss gibt es tatsächlich in der Welt nur sehr wenig Ordnung. Hatte sich der Entwurf multilateraler und zugleich imperialer Architekturen in den 1990er Jahren auf die weit verbreitete Zuversicht gestützt, ein „neues amerikanisches Jahrhundert“ stehe bevor, so wurde im darauffolgenden Jahrzehnt – nach dem 11. September 2001 – der Versuch der USA, den eigenen Unilateralismus mit einem „globalen Krieg gegen den Terror“ zu untermauern, durch die militärische Sackgasse (und dann die Niederlage) im Irak und in Afghanistan zunichte gemacht. Auf der anderen Seite hat die Finanzkrise von 2007/08 die ökonomische Stärke der Vereinigten Staaten sowie deren globale Ausstrahlung tiefgreifend erschüttert und gleichzeitig den Aufstieg Chinas und dessen Wandel von der „Werkbank der Welt“ zu einer potenziellen Führungsmacht in den Bereichen digitaler Technologien, „wissensbasierter Ökonomie“ und künstlicher Intelligenz beschleunigt. Das große, als „Neue Seidenstraße“ oder „Belt and Road Initiative“ bekannte Handels- und Infrastrukturprojekt, das seit 2013 vorangetrieben wird, aber schon lange in Vorbereitung war, ist eine Erweiterung jenes inneren Wandels, ein spezifisches chinesisches Globalisierungsprojekt. (Und es ist kein Zufall, dass die Initiative von Präsident Xi Jinping ständig in einer „multilateralen“ Perspektive dargestellt und verteidigt wird.) Die Krise der globalen Hegemonie der USA – wie Vertreter:innen der Weltsystem-Theorie sie in den 1990er Jahren zu beschreiben begannen – ist vor diesem Hintergrund zu einem durchgängigen Thema verschiedener globaler Szenarien geworden, denen zufolge Instabilität und Kriege sich ausbreiten. So war in den vergangenen Jahren oft von „zentrifugaler“ oder „konfliktbeladener Multipolarität“ die Rede, um die grundlegenden Merkmale dieser krisenhaften Situation zu beschreiben.

Wo steht nun Russland in diesen Entwicklungen? In aller Kürze lässt sich feststellen, dass sich auf der Grundlage der realen ursprünglichen Akkumulation, die in den Jahren der rücksichtslosen neoliberalen Reformen unter Boris Jelzin stattfand, allmählich eine eigentümliche Form eines „politischen Kapitalismus“ herausbildete. Das heißt, die politische Macht gewährt und garantiert einem relativ kleinen Kreis von ökonomischen Akteuren, die in diesem Sinne tatsächlich als „Oligarchen“ zu bezeichnen sind, monopolistische Erträge (vor allem aus dem Abbau von Rohstoffen), während ein weiterer Teil der Erträge, um Konsens zu schaffen, der Bevölkerung zugutekommt. Gleichzeitig zeitigt diese besondere Form eines politischen (sicherlich nicht besonders dynamischen oder innovativen) Kapitalismus eine ebenso besondere Form von militärischem Expansionismus, wie er in den letzten Jahren nicht nur in den Kriegen und Interventionen an den Grenzen Russlands, sondern ebenso in Syrien, Libyen und im Sahel (unter anderem durch die Operationen des als „Gruppe Wagner“ bekannten privaten Militärunternehmens) zu beobachten war. Es ist dies ein wichtiger Aspekt für das Verständnis des Krieges in der Ukraine (und ein zweiter Grund, sich ihm mit allen erforderlichen Mitteln zu widersetzen): nämlich die Konsolidierung und Ausdehnung des „politischen Kapitalismus“, wie er während der Putin-Jahre Gestalt angenommen hat, in notwendigerweise vergrößerten Räumen, während viele der „Oligarchen“ den Umfang ihrer Operationen global ausgeweitet haben und objektiv in Spannung zu den Strategien des russischen Präsidenten geraten sind – und letztlich immer weniger als „Oligarchen“ agieren und immer mehr zu kapitalistischen Akteuren in der Art von Jeff Bezos oder Elon Musk werden. Daraus ergeben sich zum einen starke Widersprüche mit anderen kapitalistischen Interessen unterschiedlicher Provenienz im nationalen Rahmen, die zweifellos zum Hintergrund der Ereignisse der vergangenen Wochen gehören. Doch zum anderen ist der Konflikt zwangsläufig global: Eine besondere Rolle spielt dabei China, das zwar in vielfältiger Weise mit Russland verbunden ist, aber eine völlig andere Strategie verfolgt, was die Außendarstellung der eigenen ökonomischen Stärke und den Umgang mit internationalen Beziehungen anbelangt.

Ein weiterer Punkt ist hier zu erwähnen. Die Pandemie bot wieder einmal einen willkommenen Anlass, das „Ende der Globalisierung“ zu feiern. Nun ist dies nicht der Ort diese Behauptung ausführlich zu diskutieren. Doch sei darauf verwiesen, dass der Krieg nachdrücklich deutlich macht, wie weitgehend und umfassend sich die wechselseitige Abhängigkeit auf globaler Ebene zeigt. Man denke nur an die Rohstoffmärkte (Getreide, Energieträger, Mineralien etc.), die auf der Grundlage mittel- und langfristiger Verträge organisiert und vollständig finanzialisiert sind, so dass es praktisch unmöglich ist, an den Außenhandel gebundene Ressourcen anderen Verwendungszwecken im Inland zuzuführen. Der Anstieg des Mehlpreises um 30 % in Argentinien, einem der wichtigsten Weizenproduzenten weltweit, mag als paradigmatisches Beispiel dienen. Die Frage der Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen Russland gewinnt in diesem Zusammenhang ihre Bedeutung: einerseits wegen der Auswirkungen der Sanktionen auf die Länder, die sie verhängen (und der daraus resultierenden Differenzen innerhalb des Westens, insbesondere was den Energiebereich anbelangt); andererseits wegen des Auftriebs, den – natürlich unbeabsichtigt – die seit einiger Zeit laufenden Prozesse der „Entdollarisierung“ (mit der Konsolidierung eines alternativen Währungspols rund um den Renminbi) und der Bildung eines Bankenzahlungssystems, das (wie etwa das ebenfalls chinesische Cips) eine Alternative zum Swift bietet, erfahren könnten. Es ist unschwer zu erkennen, dass China auch in dieser Hinsicht eine zentrale Position einnimmt, auch wenn das Land angesichts der Aussichten einer „Abkopplung“, das heißt einer Loslösung von den Wirtschafts- und Finanzsystemen des Westens (insbesondere mit Bedacht auf eigene Interessen in Europa) sehr zurückhaltend agiert. Jedenfalls ist China objektiv in der Lage, eine führende Rolle bei der Beendigung des Krieges zu spielen. Ob es sich dafür entscheidet, steht auf einem anderen Blatt.

Wenn ich bislang bei dem Versuch, verschiedene für eine Analyse des Krieges bedeutsame Aspekte zu benennen, in erster Linie politische Kräfte und vor allem ökonomische Mechanismen in den Blick gerückt habe, so erscheint es mir nun notwendig, eine andere Perspektive einzunehmen, die sich freilich keineswegs auf den „Überbau“ beschränkt. Eine Studie über Ideologie, Politik und die Linke im postsowjetischen Russland (in englischer Übersetzung unter dem Titel Dissidents Among Dissidents vor kurzem bei Verso erschienen) von Ilja Budrajtskis beginnt mit einem Kapitel, das „Putin lebt in der von Huntington errichteten Welt“ überschrieben ist – was sich ganz offensichtlich auf Samuel P. Huntington und sein Buch The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order von 1996 bezieht. Man wird sich an Huntingtons Grundmotiv erinnern: Nach dem Ende des Realsozialismus entbrenne auf globaler Ebene ein „Kampf der Kulturen“ (wobei den Religionen eine besonders wichtige Rolle zukomme). Die Argumentation von Budraitskis nun ist eingängig: Huntingtons Buch mag heute als vorausschauend erscheinen, und zwar nicht, weil es eine besondere analytische Kraft hätte, sondern weil es eine Art politisches und ideologisches Manifest war, das sich einflussreiche Akteure (von George Bush bis Abu Bakr al-Baghdadi) zu eigen machten und in die Praxis umsetzten. Ganz vorne zu diesen Akteuren gesellt sich auch Putin, den Budraitskis als „Huntingtons Musterschüler“ bezeichnet. Die von Putin betriebene spezifische Identitätspolitik mit dem obsessiven Rekurs auf traditionelle Familienstrukturen, auf Religion und „Werte“ als Bollwerke von Stabilität und Ordnung zielt im Kern darauf ab, die Gestalt einer mythologischen russischen „Kultur“ zu umreißen und festzuschreiben. Eine solche ideologische Konstruktion ist ein Schlüsselelement der Politik Putins und der herrschenden Klasse Russlands. Die Dämonisierung von Homosexualität und Feminismus sowie eine daraus abgeleitete buchstäbliche Überhöhung des Patriarchats findet ihren wenig überraschenden Ausdruck in den Worten des Moskauer Patriarchen Kyrill, wonach man in der Ukraine gegen „die Schwulen“ kämpfe. Es liegt auf der Hand, dass hier ein dritter Grund zu finden ist, sich Putins Krieg zu widersetzen und vor allem die Frauen und Männer in Russland zu unterstützen (und um es noch einmal zu sagen: mit allen erforderlichen Mitteln), die gegen ihn und seine „Kultur“ kämpfen. Freilich bleibt noch etwas hinzuzufügen, worauf auch Budriatskis hinweist: Der Kampf der Kulturen führt in Europa und im Westen zu „spiegelbildlichen Erscheinungen“. Es genügt, den Leitartikel von Federico Rampini im Corriere della Sera vom 9. März zu lesen, um einen ausgezeichneten Eindruck davon zu erhalten.

Im Übrigen mehren sich die Stimmen, die hervorheben, dass der Krieg in der Ukraine den Westen geeint habe und es nun an Letzterem sei, die eigene Identität zu stärken. Da ich hier nicht auf die Geschichte des schwer fassbaren Begriffs „Westen“ eingehen kann, sollen ein paar Anmerkungen zu den Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges genügen: Zu Beginn der 1990er Jahre verfügten die USA im Westen über eine unangefochtene Führungsrolle. Die „einsame Supermacht“, wie sie oft genannt wurde, verschloss sich Appellen zur Mäßigung, wie einige der in den Beziehungen zu Russland erfahrensten Diplomaten sie äußerten. (Dazu gehörte selbst George F. Kennan, einer der Architekten der Politik der „Eindämmung“ der sowjetischen Macht.) Vielmehr haben die USA, berauscht von der Gewissheit eines „neuen amerikanischen Jahrhunderts“, die Nato-Osterweiterung eingeleitet, die objektiv zu einer Einkreisung Russlands geführt hat. Man könnte auch noch lange die Rolle diskutieren, die viele osteuropäische Länder – von den baltischen Staaten bis Polen – in diesem Prozess gespielt haben, für die die Mitgliedschaft in der Europäischen Union faktisch der Mitgliedschaft in der Nato untergeordnet war. Doch mag es an dieser Stelle genügen hervorzuheben, dass die Osterweiterung der Nato in einer im Vergleich zu heute völlig anderen Situation stattfand, in der die Vereinigten Staaten in der Gewissheit ihrer ökonomischen, politischen, militärischen, kulturellen und selbst moralischen Überlegenheit lebten. In dieser Zeit trugen die USA zur Verschärfung der Spannungen mit Russland bei, indem sie insbesondere Verhandlungen über Abrüstung erschwerten, und zwar zu einem Zeitpunkt, als es vermutlich notwendig gewesen wäre, über eine neue Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa nach dem Vorbild der Konferenz von Helsinki im Jahr 1975 nachzudenken. Stattdessen war die Nato in den letzten Jahrzehnten eine ständige Hypothek der europäischen Autonomie in der Außenpolitik und ein Apparat der anhaltenden Militarisierung der Länder Europas. Nachdem drei Gründe, warum es notwendig ist, sich Putins Krieg mit allen Mitteln zu widersetzen, bereits genannt wurden, bleibt anzufügen, dass die Nato für uns Teil des Problems und nicht Teil der Lösung ist.

Spätestens seit dem Koreakrieg ist der „Westen“ freilich auch nicht mehr auf den europäisch-atlantischen Raum beschränkt. In jüngerer Zeit hat sich die globale Achse der US-Politik bekanntlich in Richtung Indopazifik verlagert und zielt darauf ab, ein neues, gegen China gerichtetes System von Bündnissen zu schaffen, für die Akronyme wie Aukus (eine Allianz Australiens, Großbritanniens und der USA) und Quad (unter Beteiligung Australiens, Indiens, Japans und der USA) stehen. In diesem Zusammenhang ist es allerdings bemerkenswert, dass Indien, was den Krieg in der Ukraine anbelangt, im Grunde genommen zugunsten Russlands Stellung bezog, als es sich bei den Vereinten Nationen in der Abstimmung über die Resolution zur Verurteilung des Krieges der Stimme enthielt. Gleichwohl sollte dies nicht überbewertet werden: Indien, dessen derzeitiger Präsident Narendra Modi Positionen vertritt, die man ohne weiteres als hindufaschistisch bezeichnen kann, unterhält seit jeher kooperative Beziehungen zu Russland, und der „quadrilaterale Sicherheitsdialog“ Quad trägt eher informellen Charakter und ist kein Militärbündnis im eigentlichen Sinn. Die Einbeziehung Indiens scheint jedoch ein wesentliches strategisches Anliegen der US-Regierung unter Joe Biden zu sein, die – im Gegensatz zur Trump-Administration – von Anfang an die Perspektive verfolgte, einen Westen zu (re‑)konstruieren, der sich bewusst ist, Teil in einem System globaler Beziehungen zu sein. Die Haltung Indiens ließe sich nun als Symptom einer Verschiebung im Rahmen jener strategischen Anordnung deuten, die bedeutsam wird, wenn man gleichzeitig Positionen von Ländern wie der Türkei, Israel, Saudi-Arabien und den Emiraten (bei den beiden Letztgenannten insbesondere in der Ölfrage) betrachtet. Wie sich daraus schließen lässt, weist der Westen als globales Gefüge offenkundig Momente grundlegender Fragilität auf – die, um es klar zu sagen, nicht auf das Wirken emanzipatorischer Kräfte zurückzuführen sind. Dies ist ein Faktor, den es zu berücksichtigen gilt, wenn wir das – meiner Meinung nach essenzielle – Ziel verfolgen, (aufs Neue) eine globale Politik der Bewegungen und Kräfte zu schaffen, die für Freiheit und Gleichheit kämpfen.

Noch ein paar abschließende Worte zu diesen Bewegungen und Kräften. Der Kampf gegen den Krieg wird heute vor allem von denjenigen geführt, die in den Straßen der russischen und ukrainischen Städte demonstrieren und dabei Gefängnis und Tod riskieren. Und dann wird er von jenen geführt, die aus dem Krieg desertieren, dessen Logik ablehnen und an Orte fliehen, die als sicher gelten. Aber er wird auch von den Zehntausenden von Menschen geführt, die in Europa und anderswo auf der Welt auf die Straße gehen. Gewiss gibt es dabei unterschiedliche und oft gegensätzliche Perspektiven, von „Nein zu Putin, Nein zur Nato“ bis „Waffen für den ukrainischen Widerstand“. Gerade Letzteres ist nicht nur eine Parole der Stahlhelmfraktion in Politik und Medien, von Kriegsbegeisterten und militaristischen Kommentator:innen: Auch Menschen, die uns politisch nahe stehen, haben sich so positioniert, und in der ukrainischen Diaspora in Italien (der größten in Europa, mit vielen Beschäftigten in der Pflege und in tausend anderen Berufen) ist es sicherlich das vorherrschende Schlagwort. Auch wenn eine solche Position meiner Meinung keine ist, die es zu unterstützen gilt, geht es dabei nicht ums Prinzip: Es geht darum festzustellen, dass alles getan werden muss, um die Ausweitung des Krieges zu verhindern. Dass Verhandlungsräume eröffnet und vervielfacht werden müssen und dass die Antikriegsbewegung selbst dabei eine wichtige Rolle spielen kann, vor allem durch „Diplomatie von unten“, durch materielle Hilfe und Unterstützung, durch die Unterstützung von Geflüchteten und das Erweitern von Begegnungsräumen.

Zugleich ist es notwendig, sich von der, zunächst verständlichen, Allgemeinheit der Schlagworte zu lösen. Gewiss sind wir gegen Putin und denken, dass die Nato Teil des Problems und nicht Teil der Lösung ist. Doch in dem turbulenten Prozess einer Neudefinition internationaler Ordnung und Unordnung, vor dessen Hintergrund sich der Krieg abspielt, müssen wir es wagen, etwas mehr zu tun. Nach den großen weltweiten Demonstrationen am 15. Februar 2003 gegen den Krieg im Irak schrieb die New York Times, dass die Friedensbewegung (jene globale Bewegung, die Seattle, Porto Alegre und Genua hinter sich hatte) die „zweite Weltmacht“ sei. Damals haben wir diese Zuschreibung kritisiert, weil sie die Bedeutung der Bewegung auf die Ebene einer „Meinung“ zu beschränken schien. (Benedetto Vecchi hat darüber, wie ich mich erinnere, mit gewohnter Klarheit geschrieben.) Sich heute daran zu erinnern, könnte jedoch eine Herausforderung sein – die Herausforderung, eine Kraft, ein Potential zu schaffen, das unseren „schrecklichen“ Zeiten angemessen ist. Viele von uns dachten während der Pandemie darüber nach. Und nun hat sich der Pandemie praktisch nahtlos ein Krieg angeschlossen. Auch andere Probleme, die eine globale Politik erfordern, sind nicht weniger geworden, allen voran die Klimakrise. Die Aufrüstungsdynamik, die durch den Krieg beschleunigt wurde, ist ebenfalls global und wird sich in Europa sehr stark auf die Haushaltspolitik auswirken, zumal der Aufbau einer europäischen Armee jetzt auf der Tagesordnung steht. Aus dem Krieg desertieren ist heute ein Gebot der Stunde, doch können Praktiken der Desertion nur dann Wirkung entfalten, wenn sie in einen globalen Rahmen eingebettet sind. Wenn sie durch einen neuen Internationalismus getragen werden, der nicht am Reißbrett geschaffen werden kann und der zwar anders heißen mag, sich aber auf den Geist seines historischen Vorläufers bezieht. In den vergangenen Tagen kam aus Russland und der Ukraine der Aufruf zu einem „neuen Zimmerwald“, einer Konferenz im Geiste jener, die im September 1915 in der Schweiz Sozialistinnen und Sozialisten zusammenführte, die sich dem Weltkrieg widersetzten. Wir wissen nicht, wie konkret dieser Aufruf ist, und sicherlich ist die Situation heute eine völlig andere als vor über einem Jahrhundert. Es ist jedoch ein starker Vorschlag, den es aufzugreifen gilt.

https://www.medico.de/blog/aus-dem-krieg-desertieren

The war in Ukraine, with its devastating effects visible to the whole world, is without doubt a European war. Even if notions of “Eurasia” — as held, for example, by Aleksandr Dugin, a “conservative revolutionary” of the new right whose influence is growing within the establishment around Vladimir Putin — depict Russia as an autonomous cultural and “geopolitical” space, the country remains an integral part of Europe. But this is the case in a particular way: according to a well-known historiographic argument, Russia has been integral to Europe’s “self-image” ever since the eighteenth century; that is, the definition of Europe has relied on Russia as a kind of mirror, as a liminal space simultaneously interior and exterior to its own development. In a certain way even the October Revolution was born in this liminal space: the Bolsheviks looked westward, even as they were aware of the particularities of the Russian situation and pushed eastward by the imperatives of promoting anticolonial insurrection. Be that as it may, Russia’s position constitutes an element of virtuality for Europe, a call to maintain an openness in its definition of itself —concretely, that is, openness regarding Europe’s own borders and the mechanics of force that determine its politics. It is this moment of virtuality that Putin’s war is attempting to destroy. And that is a first reason to absolutely resist this war.

But to the observation that the war in Ukraine is a European war, it is necessary to add that it is not only a European war. On the contrary: what is at stake today is nothing more and nothing less than the “world order”. To be sure, there is little order in the world. If the design of multilateral and at once imperial architectures in the 1990s rested on widespread confidence that a “new American century” was underway, the attempt of the United States in the following decade — after September 11, 2001 — to support its own unilaterialism with a “global war on terror” was undermined by military stalemates (and then defeat) in Iraq and Afghanistan. On the other hand, the financial crisis of 2007/2008 was a deep blow to the economic might of the United States as well as its global reach, and it simultaneously accelerated the rise of China and the latter’s transformation from the “factory of the world” to a potential leading power in the areas of digital technology, “knowledge-based economy”, and artificial intelligence. The giant trade and infrastructure project known as the “New Silk Road” or ”Belt and Road Initiative”, which has been underway since 2013 but was longer in preparation, is in this sense an extension of that internal transformation — a specifically Chinese project of globalization. (It is no coincidence that President Xi Jinping consistently portrays and defends the initiative in “multilateral” terms.) In this context, the crisis of the global hegemony of the United States — as world-systems theorists started describing it in the 1990s — has become the underlying theme of various global scenarios, spreading war and instability. Talk of “centrifugal” or “conflictural multipolarity” in recent years is an attempt to grasp the basic characteristics of this critical juncture.

Where does Russia stand in these developments? In brief, the real originary accumulation[1] that took place following the reckless neoliberal reforms under Boris Yeltsin provided a foundation for a peculiar kind of “political capitalism” to gradually take shape. This means that political power grants and guarantees monopolistic rents (primarily from raw materials) to a relatively small circle of economic actors, who in this sense really can be called “oligarchs”, while part of the rent is channeled to the population with view to popular consensus. At the same time, this specific form of political capitalism (which is by no means particularly dynamic or innovative) generates a similarly peculiar form of military expansionism, which has been observable in recent years not only in the wars and interventions along Russia’s borders, but also in Syria, Libya, and the Sahel (including in the operations of the private military company known as the “Wagner Group”). This aspect is key to understanding the war in Ukraine (and is a second reason to oppose it with all means necessary). That is, the “political capitalism” that took shape during the Putin years has consolidated and expanded in necessarily enlarged areas, while many of the “oligarchs” have extended the scope of their operations globally, leading to objective tensions with the strategies of the Russian president, and ultimately are acting less and less as “oligarchs” and becoming instead more like capitalist actors along the lines of Jeff Bezos or Elon Musk. This results, for one, in hard contradictions with other capitalist interests of various kinds within the Russian domestic sphere, which undoubtedly are part of the backdrop of the events of the past weeks. But on the other hand, the conflict is necessarily global: a special role here is played by China, which is, as it were, connected to Russia in multiple ways, but follows an entirely different strategy when it comes to outwardly projecting its economic might and managing international relationships.

A further point must be mentioned here. The pandemic afforded yet another welcome occasion to celebrate “the end of globalization”. While this is not the place to discuss this claim at length, it can be remarked that the war emphatically makes clear the extent and scope of interdependence at the global level. We need only think of the markets for raw materials (grains, energy sources, minerals, etc.), which are organized and fully financialized on the basis of medium and long-term contracts, making it practically impossible to turn resources bound for external trade towards other, domestic uses. The 30% increase in the price of flour in Argentina, one of the most important wheat producers worldwide, can serve as a paradigmatic example. This is the context in which the question of economic and financial sanctions against Russia becomes relevant: on the one hand because of the consequences of the sanctions on the countries implementing them (and the resulting differences within the West, especially with regard to the energy sector); on the other hand due to the boost that could be given — unintentionally, of course — to ongoing processes of “de-dollarization” (with the consolidation of an alternative currency pole around the renminbi) and the development of a bank payment system (such as the Chinese Cips) that could pose as an alternative to Swift. It is not difficult to recognize that China has a central position in this sense as well, even if the country acts very reservedly when it comes to the topic of decoupling from the economic and financial systems of the West (especially with forethought to its own interests in Europe). In any case, China is objectively in a position to play a leading role in ending the war. Whether it decides to do so is another matter.

If up to now my attempt to name various significant aspects for an analysis of the war has focused primarily on political forces and economic mechanisms in particular, it is now necessary to examine another perspective, a topic by no means limited to the “superstructure”. A study of ideology, politics and the left in post-Soviet Russia (recently published in English translation as Dissidents among Dissidents by Verso) by Ilja Budrajtskis begins with a chapter titled “Putin Lives in the World that Huntington Built” — an obvious reference to Samuel P. Huntington and his 1996 book The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. Recall Huntington’s basic motif: after the end of real socialism, the line of conflict at the global level would be defined by a “clash of civilizations” (in which religions would become particularly important). Budraitskis’ argument can be understood in this context: Huntington’s book may appear today to have had foresight, but not because of any particular analytic strength — rather, because it was a kind of political and ideological manifesto taken up and put into practice by influential actors from George Bush to Abu Bakr al-Bagdadi. Front and center among these actors is Putin, who Budraitskis characterizes as “Huntington’s star pupil”. The specific identity politics promoted by Putin, with its obsessive recourse to traditional family structures, religion and “values” as bastions of stability and order, aims at its core to define and establish a mythological form of Russian “civilization”. This kind of ideological construction is a key element of Putin’s politics and in Russia’s dominant class. The demonization of homosexuality and feminism and the literal upholding of patriarchy is expressed, unsurprisingly, in the words of the Muscovite patriarch Kyrill, according to whom the fight in Ukraine is directed against “the gays”. It is evident that a third reason to oppose Putin’s war, and especially to support women and men in Russia (and to say it again, with all means necessary) who are fighting against him and his “civilization”is present here. Of course, something remains to be said here, a phenomenon that Budraitskis also refers to in his book, which is that the clash of civilizations also creates “mirror images” within Europe and the West. One need only read the headline article by Federico Rampini in the March 9th edition of Corriera della Sera for an excellent demonstration.

More and more voices are emphasizing that the war in Ukraine has unified the West, and that it is now up to the latter to strengthen its own identity. Since I cannot provide an exposition here of the history of the difficult concept of “the West”, a few remarks relating to the years following the end of the Cold War will have to suffice. At the beginning of the 1990s, the United States’ leadership in the West was unchallenged. The “lonely superpower”, as it was commonly known, did not listen to the calls for restraint expressed by some of its diplomats most experienced in Russian relations. (Even George F. Kennan himself, one of the architects of the “containment” strategy of Soviet power, belonged to this group). Instead, the United States, exhilarated by the certainty of a “new American century”, set NATO’s eastward expansion into motion, which objectively resulted in an encirclement of Russia. It would be a long discussion to go into the role played by many Eastern European countries in this process — from the Baltic states to Poland, for whom membership in the European Union was effectively secondary to membership in NATO. But for now, it suffices to highlight the fact that the Eastern expansion of NATO took place under conditions entirely different from the situation today, insofar as the United States was certain of its economic, political, military, cultural and even moral superiority. At the time, the United States contributed to the heightening of tensions with Russia, especially by hindering disarmament negotiations, and it did so at a moment when it would have probably been necessary to consider a new conference on security and cooperation in Europe modeled on the Helsinki conference of 1975. In place of this, NATO has been a steady burden on European autonomy in international policy and an apparatus of the continued militarization of European countries in the past decades. Now that three reasons why it is necessary to oppose Putin’s war with all means have been named, it must be added that NATO is for us part of the problem and not part of the solution.

At least since the Korean War, it has been clear that “the West” is no longer limited to the Euro-Atlantic space. The global axis of US politics is commonly understood to have shifted more recently to the Indo-Pacific realm, with the aim of creating a new system of coalitions directed against China — for which there are now acronyms such as AUKUS (an alliance of Australia, Great Britain and the US) and QUAD (led by Australia, India, Japan and the US). In this context it is remarkable, however, that India, in relation to the war in Ukraine, basically took a position in favor of Russia when it abstained from voting on the resolution condemning the war at the United Nations. But this should not be overinterpreted, either: India, whose current president Narendra Modi holds positions that can unquestionably be called Hindu-fascist, has always maintained cooperative relations with Russia, and the “quadrilaterial security dialogue” QUAD has a more informal character and is not a military alliance in the strict sense. The inclusion of India appears, however, to be an important strategic aim of the United States under Joe Biden, who — in contrast to the Trump administration — from the beginning has attempted to (re)construct a West that understands itself as part of a system of global relationships. India’s stance could be understood as a symptom of a shift in the frame of that strategic order, which becomes significant when countries such as Turkey, Israel, Saudi Arabia and the United Arab Emirates are considered (and with regard to the latter two, especially in terms of oil). What can be derived from this is that the West as a global formation is evidently showing signs of fundamental fragility, which — to put it bluntly — cannot be traced back to emancipatory forces. This factor must be considered when we attend to the aim — an essential one in my option — of creating (anew) a global politics of movements and forces that fight for freedom and equality.

A few concluding remarks on these movements and forces. The struggle against the war is being led today above all by those who are protesting in Russian and Ukrainian streets and thereby risking imprisonment and death. And it is being led by those who are deserting the war, who are refusing its logic and fleeing to places considered safe. But it is also being led by the tens of thousands of people who are taking to the streets in Europe and elsewhere. Of course, there different and often contradictory perspectives are coming together there, from “No to Putin, No to NATO” to “Weapons for the Ukrainian resistance”. The latter is not only a slogan of the steel helmet faction in politics and media, of war enthusiasts and military commentators. Even people who are politically close to us have taken this stance, and in the Ukrainian diaspora in Italy (the largest in Europe, with many workers in the care sector and in many other professions) it is the dominant catchphrase. Even if this position is in my opinion unsupportable, this is not a matter of principle: it is a matter of being clear that everything must be done to prevent the spread of the war. That spaces for negotiation must be opened and multiplied, and that the antiwar movement can play an important role in this sense, especially through “diplomacy from below”, through material assistance and support, by supporting refugees and expanding spaces of encounter. At the same time, it is essential to separate ourselves from the generalities of the catchphrases, which are themselves initially understandable. Of course, we are against Putin and think that NATO is a part of the problem and not part of the solution. But in the turbulent process of a redefinition of international order and disorder, which is the context of this war, we must dare to do something more. Following the giant worldwide protests on February 15, 2003 against the war in Iraq, the New York Times called the peace movement (the global movement that had been in Seattle, Porto Alegre and Genoa) the “second world power”. At the time, we criticized this designation because it seemed to reduce the significance of the movement to an “opinion”. (Benedetto Vecchi, if I remember correctly, wrote about this with his usual clarity.) To be reminded of this today, however, could be a challenge — the challenge of creating a force, a power that is adequate for our “terrible” times. Many of us reflected on this during the pandemic. And now a war has added itself to the pandemic in a practically seamless way. Other problems that require a global politics have not shrunk, either, the climate crisis foremost. The militarization dynamic that has been accelerated by the war is similarly global and will have major effects on fiscal policy in Europe, seeing as the creation of a European army is now on the agenda. To desert the war is today a demand of the hour, but practices of desertion can only develop efficacy when they are embedded in a global framework. When they are carried by a new internationalism, one that can’t be drawn up at a table and could also be called something else, but which connects to the spirit of its historical predecessors. In recent days there were calls from Russia and Ukraine for a “new Zimmerwald”, that is, a conference in the vein of the one in Switzerland that convened socialists who opposed the war in September 1915. We don’t know if this is an actual concrete call, and surely the situation today is completely different than a century ago. But it is a powerful suggestion, and it deserves to be taken up.


[1] On opting for “original” rather than the canonical “primitive” to translate Marx’s concept ursprüngliche accumulation, see Rosalind C. Morris; Ursprüngliche Akkumulation: The Secret of an Originary Mistranslation. boundary 2 1 August 2016; 43 (3): 29–77.

taken from here

Nach oben scrollen