Autoritärer Etatismus?

Poulantzas hat in seiner Kennzeichnung den autoritären Etatismus in seiner Kennzeichnung klar vom faschistischen Ausnahmestaat abgegrenzt, wobei letzterer für ihn einer politischen, einer Hegemoniekrise innerhalb des Blocks an der Macht (aber nicht unbedingt einer Staatskrise) entspricht, deren Überwindung spezifische »Lösungsvorschläge« und gerade deshalb den Bruch mit den ineffizient gewordenen Strukturen der liberalen und repräsentativen Demokratien erforderlich mache. Der autoritäre Etatismus ist hingegen durch eine zunehmend totalitärere Repräsentationsform von demokratischen Mechanismen gekennzeichnet, der ein institutionelles Präventiv-Dispositiv innewohnt. (Poulantzas 1978: 192) Dieses Dispositiv beinhaltet ein Arsenal von Instrumenten, welches weit über die in den parlamentarischen Demokratien bereitstehenden rechtlichen und juristischen Möglichkeiten der Verwaltung und Kontrolle der Bevölkerungen und Klassen hinausreicht und den Regierungen jederzeit für weitere Faschisierungsmaßnahmen zur Verfügung steht. Es entwickelt sich neben dem offiziellen Staat und steht mit ihm gleichzeitig in einem osmotischen Verhältnis, erfordert aber bei seiner Durchsetzung immer auch einen relativen Bruch mit dem liberalen Staat. Poulantzas nennt zur Untermauerung seiner Thesen, die wir ja schon angeführt haben, die Stärkung der Exekutive, den Verfall der Bedeutung des Parlaments, das normalerweise die Institutionalisierung des Gesetzes und des Rechts betreibt und als ein System der legitimen und normativen Vernunft gilt, und die wachsende Bedeutung der Verwaltung und der Bürokratie. Den Anomalen, linken Politikaktivisten und anderen Systemgegnern wird nun eine vom normalen Strafrecht abweichende Behandlung zugesprochen, die einem neuen Feindstrafrecht entspricht. Und schnell stellt sich diese oder jene Regierung über das Gesetz, schreibt es um oder schafft es ganz ab. Der Notstand konnte in Frankreich nach den terroristischen Anschlägen im Jahr 2015 auch deshalb so schnell ausgerufen werden, weil in der bestehenden Form des Rechts bereits der Ausnahmezustand aufzufinden ist, oder, um es anders zu sagen, der Ausnahmezustand ist jetzt ein Synonym für den Rechtsstaat. (Vgl. Unsichtbares Komitee 2017)

Zur Herstellung jener neuen technokratischen Staatsform, die Poulantzas »Autoritärer Etatismus« nennt, bedarf es wissenschaftlicher Analysen der Governance, wobei hier nicht die Verwissenschaftlichung der technologischen Arbeitsorganisation an sich entscheidend ist, sondern es sind die neuen Praktiken, die eine Verbindung von verschiedenen Funktionen der Kontrolle durch das technische Management ermöglichen: Programmierung, Organisation, Koordination, Entscheidung und Kontrolle. Ein Arsenal, das dem technokratischen Management sozusagen eine Umzingelung des juristisch-politischen Frameworks ermöglicht. Die Geschwindigkeit der Interventionen und die Effizienz der Entscheidungen, die heute beide vom freien Fluss der Ströme des finanziellen Kapitals vorgegeben werden, erfordern eine materielle Rekonstruktion des Staates, die es wiederum der Exekutive erlaubt, einen großen Teil der juristischen und legislativen Macht zu absorbieren und die wissenschaftliche und militärische Organisation der Arbeit zu forcieren.

In diesem Kontext hat Giorgio Agamben zu Recht darauf hingewiesen, dass heute längst Sicherheitsgründe den Platz dessen eingenommen haben, was früher noch Staatsräson hieß. Die Sicherheitsgründe implizieren zum einen das Geheimnis, nämlich eine Art der Unsichtbarmachung administrativer Prozeduren und Unterlagen, zu denen die Bevölkerung keinen Zugang besitzt, zum anderen dienen sie ganz der Legitimation der Überwachung der Bevölkerung. Für Agamben gibt es dementsprechend eine Reihe von Techniken, die im Ausnahmestaat resultieren, der von ihm als eine neue Regierungstechnik begriffen wird, mit der die Ausnahme zur Regel wird. Es geht hier zum ersten darum, neue Beziehungen in der Bevölkerung herzustellen, die auf einer permanenten Überwachung basieren – deswegen die forcierte Anwendung von Technologien, die eine lückenlose Aufzeichnung und Kontrolle der elektronischen biometrischen Daten der Staatsbürger erlauben. Zugleich wird die Teilhabe der Bevölkerung am politischen Leben auf die Beteiligung an Meinungsumfragen im Vorfeld von Wahlen und auf die Exekution der Stimmabgabe selbst reduziert. Werden die Bürger derart entpolitisiert, dann können sie aus ihrer Passivität nur noch durch die Angst vor einem fremden Feind herausgehoben werden. Und so gehen Terrorismusbekämpfung und Sicherheitsstaat eine symbiotische Beziehung ein, was wiederum voraussetzt, dass bei den Definitionen terroristischer Verbrechen auf die Tatsachensicherheit im juristischen Sinne zunehmend verzichtet wird.

Folgt man dem Konzept des Ausnahmestaates folgt und fasst es insbesondere unter den Gesichtspunkten Gesetz und staatliche Souveränität zusammen, wie Agamben das in seinen Analysen vorführt, dann überschätzt man unserer Ansicht nach die staatliche Souveränität im Vergleich zu den vernetzten Governancepraktiken der Macht. Der Ausnahme- oder Sicherheitsstaat lässt sich heute nicht mehr allein im Bezug zum Gesetz denken, weil er inzwischen in ein weitgespanntes Modul der Gouvernementalität eingebunden ist.1 Die gegenwärtige juridische Leere, die durch die andauernden Weiter- und Neuschreibungen der Gesetze und durch die Dominanz der Rechtsprechung gegenüber dem Gesetz entstanden ist, mag zwar für den souveränen Staat und das Gesetz undenkbar sein, aber sie ist den Praktiken der staatlichen Macht keineswegs unbekannt. Die heutige Macht umspielt konstant das Gesetz, wobei sich bestimmte staatliche Praktiken immer mehr außerhalb der juristisch-politischen Souveränität des Staates abspulen, ohne dass sie aufhören, eben Teil des Staates zu sein. Was seit dem Ersten Weltkrieg über die Entwicklung des Faschismus bis zu unserer Gegenwart immer stärker an Bedeutung gewonnen hat, das ist eben nicht der Ausnahmestaat, sondern die Macht der globalen Kriegsmaschine des Kapitals, für die der Ausnahmestaat nur ein weiterer Apparat oder Dispositiv ist.

1Die Macht betrifft hier weniger die strategische Konfrontation zwischen zwei Gegnern oder das juristische Modell, das an die staatliche Souveränität gebunden bleibt, sondern wird im Sinne Foucaults als ein strukturierendes Feld begriffen, in dem eine Aktion auf eine Aktion folgt. Die Macht hält sich an die Beziehung zwischen Regierenden und Regierten, während die Strategie zwei Gegner gegenüber stellt. Aber es gibt stets eine Verbindung zwischen Macht und Strategie. Wir folgen hier aber nicht Foucaults These, dass die Staatsmacht ganz in Netze privatisierter Regierungstechniken diffundiert.

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