Baudrillard: Nach der orgie

… Wenn ich den gegenwärtigen Stand der Dinge benennen müsste, würde ich sagen, dass jedes explosive Moment in der modernen Welt ein Moment der Befreiung in irgendeinem Bereich ist. Die Befreiung des Politische und des Sexuellen, die Befreiung der produktiven und destruktiven Kräfte, die Befreiung der Frauen und Kinder, die Befreiung der unbewussten Triebe, die Befreiung der Kunst. Und das Aufsteigen aller Mysterien und Anti-Mysterien.

Es war eine allumfassende Orgie des Materiellen, Rationalen, Sexuellen, kritisch und antikritisch, eine Orgie aus allem, was mit Wachstum und Wachstumsschmerzen zu tun hat. Wir haben den ganzen Weg der Produktion und der versteckten Überproduktion von Objekten, Symbolen, Botschaften, Ideologien, Vergnügungen erlebt. Heute ist das Spiel vorbei – alles ist veröffentlicht. Und wir alle stellen uns die wichtigste Frage: Was tun wir jetzt, nach der Orgie?”

Die Transparenz des Bösen.

Jean Baudrillard

Die Orgie charakterisiert für Baudrillard das, was er das Konsumsystem nennt. Der Kapitalismus hat sich, zumindest in den Zentren, in den letzten Jahrzehnten von einer Orgie zur nächsten hochgeschaukelt.

Der Massenkonsum ist ein gesellschaftliches System zur Stabilisierung der kulturellen und gesellschaftlichen Ordnung. Es ist, und das ist wichtig, er ist immer auch ein System der Produktion, das das Nutzlose verdammt. Der Überfluss an Objekten und Konsummöglichkeiten sei einem magischen Denken verhaftet, meint Baudrillard. Die Monströsität voller bunter Regale lebt nicht vom Versprechen auf Bedürfnisbefriedigung, sondern vom „Überfluss“ der Zeichen und der „Akkumulation der Zeichen des Glücks“…. „Es geht um das konsumierte Bild des Konsums. Das ist die neue Stammesmythologie, die Moral der Moderne.“ Und weiter: „Es ist also nicht richtig, dass die Bedürfnisse Ergebnis der Produktion sind, vielmehr ist das System der Bedürfnisse das Produkt des Produktionssystems.“  Nicht die Produkte sind primäres Ziel der Bedürfnisbefriedigung, sondern das mit ihrem Kauf erworbene Prestige. Das Produkt mutiert zu einem austauschbaren Zeichen des Begehrens, mehr noch, die Produkte und Wünsche tendieren zu einer „generalisierten Hysterie“. Der Konsum fördert eine Art objektloses Verlangen, ein Verlangen, das auch ohne die Objektwahl insistiert. Somit orientiert sich der Konsum nicht am Gebrauchswert, sondern an der Produktion und Manipulation sozialer Signifikanten, oder, um es anders zu sagen, der Konsum ist ein Prozess der Signifikation und der Kommunikation, basierend auf einem Code, der sich beständig und zugleich unsichtbar in die Konsumpraktiken einschreibt.

Die Kategorie der Orgie ist für Baudrillard wichtig, weil die Superproduktion von Zeichen, Waren, Events, Symbolen, Ideologien etc. zu Zuständen der unmittelbaren Erregung führt, durch die es zu einer Freisetzung oder Enthemmung zuvor gebundener Energien kommt, oder eine physische und psychische Stimulation erfolgt. Der Hyper-Erreger ist natürlich das Geld bzw. das Geld als Kapital. Die Orgie ist zu unterscheiden von den tieferen Prozessen der Psyche und vom Bösen im Sinne Baudrillards; Orgien finden in der Welt des Guten statt, oder besser gesagt, in der Welt verschiedener konkurrierender Produkte. Baudrillards Begriff der “Orgie” hat viele grundlegende Manifestationen, was es zu einem Phänomen mit einer Reihe und verschiedenen Ebenen macht.

Baudrillards Orgie impliziert den ununterbrochenen Prozess der Veröffentlichung und der Sichtbarmachung. Baudrillard widersetzen sich dem Produktivismus, der wie eine virale Ansteckung noch die Schriften der Poststrukturalisten durch-läuft und selbst von Marx keinerlei Kritik unterzogen wurde. Hier besteht die Gefahr, dass die Theorie nichts weiter als eine besondere Ausarbeitung der kapitalistischen Prinzipien bleibt. Alles soll produziert werden, alles soll lesbar sein, alles soll sichtbar und rechenschaftspflichtig werden; alles soll in Kräfteverhältnisse, Begriffssysteme oder messbare Energie umgeschrieben werden; alles soll gesagt, akkumuliert, indiziert und aufgezeichnet werden. Das ist der Sex, wie er in der Pornographie existiert, aber allgemeiner, das ist das Unternehmen unserer gesamten Kultur, deren Zustand obszön ist: eine Kultur der produktiven Monstrosität (Baudrillard). Baudrillards Proliferation der Zeichen, der Semio-Sadismus (Kroker) führt schließlich in die zynische Ekstase einer coolen Welt der operationalen Simulation, denn das fatale Schicksal der Zeichen als Information dominiert längst die Energie der Produktionsmaschine. Die Zirkulation der Finance ist dann die neue Hyper-Produktion oder die Ekstase der Produktion. Das einzige, was in dieser Ökonomie des Hyper-Produktivismus wieder-kehrt, ist die Inflation. Sie war nie verschwunden, sie verändert nur ihre Schnelligkeit.

Oleg Maltsev schreibt: “Eine der wichtigsten Orgien in der Welt des Konsums ist mit dem “zur Arbeit gehen” verbunden. Arbeit ist nicht mehr in erster Linie ein produktiver Prozess; viele Menschen arbeiten in Büros und produzieren nichts, und die Dinge, die in den Fabriken produziert werden, sind meist Objekte, die für die verschiedenen Klassen von Orgien. Vielmehr ist die Arbeit heute eine Art gesteuerte soziale Leistung. Eine Person geht zur Arbeit und beginnt, an einer Orgie teilzunehmen. Was wollen die Menschen normalerweise von der Arbeit? So wenig wie möglich zu arbeiten und so viel wie möglich zu verdienen. Eine Art von Harmonie: Minimale Kosten – maximales Ergebnis. Wenn aber alle oder fast alle dies wollen, dann wäre dann wäre die Produktivität theoretisch sehr gering; es würde nichts (oder fast nichts) produziert werden (oder was sonst an einem Arbeitsplatz passiert). Aus irgendeinem Grund laufen die Dinge jedoch anders. Die Antwort ist einfach: Die Unternehmer beginnen, ihre Mitarbeiter zu motivieren und “spielen” ihnen vor, warum sie heute bis 22:00 Uhr hart arbeiten müssen, weil sie ein Lob, einen Bonus, einen Ego- oder Statusboost erhalten oder eine Strafe oder einen Statusverlust vermeiden oder einen Statusverlust… In der Regel sind diese Motive für verschiedene Menschen unterschiedlich.

An die Stelle des Produzenten, der sich im Laufe der kapitalistischen Historie zumindest für gewisse Lebensphasen von seiner Internierung in der Fabrik sowie von der kompletten Rechtlosigkeit in Sachen Freiheit emanzipiert hatte, der also immerhin die Freiheit besaß, seine Arbeitskraft an Märkten anzubieten, tritt heute zunehmend der Beschäftigte  bzw. der Konsument von »Arbeit«, der an diese Tag und Nacht gekettet wird. Während der potenzielle Produzent am Arbeitsmarkt als Arbeitskraft ein Angebot verkörpert, stellt der Konsument von Arbeit für die Agenturen, die Arbeit vermitteln, die verkörperte Nachfrage dar, wobei die Arbeitskraft an den Arbeitsmärkten permanent designt und gehandelt, gecoacht und gecastet wird; sie wird nun zum flexiblen Modus für das Businessmodell einer Arbeits-Design-Industrie, welche der Arbeitskraft das Permanent-Casting verordnet. Und selbst wenn heute der Produzent seine Arbeitskraft noch verausgabt, ist sie an ihm insofern tendenziell gestrichen, als er sich nicht mehr allein über einen Produktions-, sondern überdies als Konsument von Arbeit über einen Kaufakt definiert. Und je weniger heutzutage angesichts der Automation und der exzessiven Zunahme von Bullshit-Jobs den Beschäftigten die Notwendigkeit von Arbeit noch zu vermitteln ist, desto stärker soll die Nachfrage nach Arbeit zum ubiquitären Modell gerinnen, was auch heißt, dass man die potenziellen Produzenten über die Jobcenter und die diversen privaten Vermittlungsdienste in die Rolle des Konsumenten von “Arbeit” versetzt.

Viele Menschen, die im Bereich der Arbeit wie faule Menschen wirken, die aus Gründen der produktiven Arbeit nie einen Finger in einer Fabrik, einem Bergwerk oder einem Feld rühren würden, verbringen paradoxerweise lange und Stunden im Fitnessstudio und arbeiten hart an ihrem eigenen Körper. Dabei scheint es um Gesundheit, Fitness, Muskelwachstum, Schönheit usw. zu gehen, aber ist es oft eine andere Art von Orgie.

Die affektiv besetzte, blitzartige Schnelligkeit, die man im Umgang mit digitalen Geräten und Medien zu pflegen hat, erwartet man oft auch im Umgang mit Personen, Objekten und Materien, und diese Attitude wird heute, wird sie bezahlt, als Beschäftigung getarnt. Nonstop-doing ist hip und angesagt, auch wenn es noch der allerletzte Blödsinn ist, der ausgeführt wird, zumindest sollte ein wenig spiritueller Profit aus der Beschäftigung entspringen, wofür der wuchernde Hobbysektor vom Baumarkt bis zur FKK-Oase, der Boom der therapeutischen Wellness- und Freizeitbeschäftigungen mit ihren Patchworks  selbststeigernder Aktivitäten und die spirituelle Wohlfühlindustrie vom Tantra über das Yoga bis hin zum Thai Chi die affektiven Steilvorlagen geben, wobei monetäre Profite aus solchen Tätigkeiten meist nur vermittelt gezogen werden

Die bioenergetische Struktur einer Orgie ist eine Spannungsabbau-Struktur, ein vorübergehender Höhepunkt, der nicht von Dauer ist. Orgien werden über das momentane “Hoch” vermarktet, das sie geben. Jede Orgie, auf welcher Ebene auch immer, tendiert daher dazu, einen psycho-spirituellen Zustand der Erregung auszulösen, die schließlich in eine “Sackgasse” führt. In diesem Stadium beginnt die Person auf der Suche nach einer anderen, intensiveren Orgie und treibt den Prozess auf die Spitze. Angetrieben wird die Orgie durch eine Arbeit, die im Kreislauf Erregung-Frustration-Erregung permanent moduliert wird, i.e. durch Erektion, Ejakulation, Lust, Masturbation, Kontrolle und Destruktion.

Im Pornofilm zum Beispiel wird die Lust einzig zum Zweck der Erregung der Konsumenten visualisiert, es handelt sich um ein sowohl optisches als auch pragmatisch-chemisches Dispositiv, das die dargestellten und darstellenden Lustmaschinenkörper mit Hilfe der technischen Möglichkeiten des Schnitts ins Irreale bzw. A-topische abgleiten lässt, denn die Lust kennt im pornografischen Set ja anscheinend keine Erschöpfung und auch kein Ende, vielmehr wird diese allein zum Zwecke der Erregung der Zuschauer visualisiert. Ganz im Gegensatz zur Orgie bei Sade, die einer Dramaturgie der zerstörenden Überschreitung folgt (welche das zu Überschreitende und damit das Verbotene voraussetzt), um die Erregung durch die (sprachliche) Kombination von Sex, Philosophie und Verbrechen einzufordern und sie bis hin zum Ziel der Orgie (meistens Mord und/oder Inzest) auch zu steigern, obwohl über die Stellungen (elementare Einheit in der Orgie) genauestens Buch zu führen ist -, ganz im Gegensatz dazu kennt bspw. der Gangbang weder bei den Beteiligten noch bei den Rezipienten die Idee/Praxis der Überschreitung. Der Gangbang negiert selbst die fantastischsten Turnerpyramiden de Sades, mit denen dieser die Orgie berechenbar macht, sie sozusagen normalisiert, und was von der Orgie im Pornofilm übrigbleibt, ist die spröde Vernunft des Profits, die neutrale Konstruktion des Addierens und Kopulierens. Die Teilnahme an einem Gangbang ist für den Newcomer im Pornobusiness ein Sprungbrett auf der Karriereleiter nach oben. Gangbangpartys versammeln in der Regel ein Minimum an Frauen, die ein Maximum an Männern befriedigen. Gangbangs addieren & optimieren, erhöhen fast fahrplanmäßig die Sexualfrequenz. Dennoch, Lustmaschinen sind immer auch Frustmaschinen.

Es gibt Massenorgien, die auf denselben Prinzipien der Orgie unmittelbaren Erregung beruhen: Fußball, Konzerte  und Wahlen.  Diese Art von Orgien versetzen die Massen in einen post-orgasmischen und post-fanatischen Zustand, der immer total sichtbar bleibt.

Baudrillard ist der erste Denker des Objekts, indem er sagt, dass die Objekte jenseits ihres Gebrauchswertes ein Eigenleben entwickeln. Wenn Baudrillard seinen Fokus auf die Objekte richtet, sointeressiert ihn daran das Universum der Zeichen, das sie etablieren. Diese Zeichen übersteigen alle Zuschreibungen des Subjekts. In Zeiten des Konsums bilden die Objekte die weitaus größere Macht aus.

Stiegler versucht das zu relativieren und spricht von einer modernen kapitalistischen Ökonomie der Seele, die auf dem Kommerz und industriellen Technologien aufbaue, wobei wir uns jedoch inzwischen in einer hyper-industriellen Epoche befänden, die einem absolut und total (be)rechnenden und quantifizierenden Kapital gleichkomme. In libidinöser Hinsicht handelt es sich um eine Dis-Ökonomie, die sich überhaupt nicht mehr um ihre Objekte kümmert. Klossowski hatte in der „Lebenden Münze“ schon darauf hingewiesen, dass die industrielle und serielle Massenproduktion zur Flüchtigkeit und zum Verlust des Objekts führt, ja jeden Gedanken an die Haltbarkeit des Objekts eliminiert. Somit können die Objekte auch keinerlei Unterstützung für psychische und kollektive Investments mehr liefern, sie sind nicht mehr verschiebbar und unendlich, sondern sie sind in ihrer Waren-Endlichkeit reine Quasi-Objekte, das heißt kalkulierbar und quantifizierbar und damit als Objekte total nichtig. Die Objekte mutieren zu Nicht-Dingen. Sie sind nichts, oder, anders gesagt, heute ist jedes Objekt potenziell Müll, ja das Objekt ist Müll. (Nur der Preis hält das Objekt noch am Leben). Insofern sind die Objekte wiederum etwas, nämlich Projektile, die die Erde zerstören.

Sicherlich muss man sich mit Baudrillard die Frage stellen, was nach der Orgie kommt. Corona war ein Ereignis, das die Orgie danach noch einmal zum Laufen gebracht hat  – als Simulation der Simulation. Aber die Massen fragen nichts, sie wissen noch einmal nicht, was die Orgie war.

Und es gilt zu berücksichtigen, dass die Orgie hauptsächlich eine des globalen Nordens war. Für den globalen Süden stellt sich eine andere Frage, nämlich die des schleichenden Massenmordes an der Surplus-Bevölkerung.

Foto: Sylvia John

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