Baudrillards radikales Denken – eine Paraphrase

Für Baudrillard liegt die Würze des Denkens nicht so sehr in der allzu utopischen Übereinstimmung mit der Wahrheit, als vielmehr in den unermesslichen Abweichungen, die es von der Wahrheit trennen. Wir erreichen auch niemals, ganz im Gegensatz zu den Informationstechnologien, die Realität in Echtzeit, die von diesen ja gerade produziert wird. Das Bewusstsein ist niemals das Echo der Existenz in Echtzeit, sondern das “aufgezeichnete” Echo; es ist die kurz aufscheinende Projektionsfläche für die Zerstreuung des Subjekts und seiner Identität, die sowieso nur im Schlaf, in der Bewusstlosigkeit und im Tod erreicht wird.  Für Baudrillard ist es nicht die Anpassung an die Realität im Sinne einer evolutionären Dynamik, sondern gerade deren Infragestellung, die für das Überleben der Spezies entscheidend ist.

Der Glaube an die Realität steht für ein religiöses Mysterium, das einem Versagen des Verstandes gleichkommt und die letzte Zufluchtsstätte für  die Moralisten und die Apostel der Rationalität ist. Demgegenüber ist sich Baudrillard sicher, dass heute niemand mehr naiv an die Realität glaubt, worauf die guten Wissenschaftler antworten, dass man mit solchen Ansichten die Realität und diejenigen diskreditiere, die ein Recht auf die Realität und Existenz haben.

Hinter dieser wohltätigen Absicht, die den Minderheiten eine Existenzberechtigung mit dem Verweis auf das Realitätsprinzip geben will, verbirgt sich laut Baudrillard eine tiefe Verachtung, weil man die Realität als eine Art Lebensversicherung oder als eine Art Menschenrecht bzw. Konsumgut begreift. Man vertröstet die Minderheit darauf, alles nur auf die sichtbaren Beweise ihrer Existenz zu setzen: Indem man ihnen diesen genügsamen Realismus unterstellt, hält man sie für naiv und schwachsinnig.

Wenn man sagt, die Welt ist real, das Reale existiert – niemand lacht. Wenn man aber sagt das ist ein Simulakrum, dann lachen alle.  Alles, was mit dem Simulakrum zu tun hat, gilt als tabu oder obszön, während es doch gerade die sich selbst permanent ausstellende und simulierende Realität ist, die obszön ist. Es ist diese Wahrheit, über die wir lachen sollten. Man sollte sich lieber ein System vorstellen, in der jeder spontan lacht, wenn jemand sagt: “Das ist wahr“.

Eine bestimmte Form des Denkens bleibt immer an das Reale gebunden, indem man von der Hypothese ausgeht, dass Ideen stets Referenten haben, während eine andere Form des Denkens exzentrisch gegenüber der Realität und sogar sogar gegenüber dem kritischen Denken bleibt. Für Baudrillard spielt hier die Macht der Illusion ihr extravagantes Spiel, das gerade nicht  einem philosophischen Zweifel, einer utopischen Übertragung oder einer idealen Transzendenz entspringt, sondern die Extrapolation dieser Welt in eine andere Welt anstrebt.

Baudrillard fordert die Unvereinbarkeit zwischen dem Denken und der Realität ein, denn nur Andersartigkeit und Distanz halten die beiden Pole in Spannung. Die dadurch entstehende Singularität des Denkens gewährleistet, dass sowohl Denken als auch die Welt ein Ereignis bleiben.  Die notwendige Beziehung oder gar Übereinstimmung zwischen Denken und Realität ist sowieso unter dem Druck einer gigantischen technischen und mentalen Simulation zusammengebrochen, um durch die Autonomie des Virtuellen, das von nun an vom Realen befreit ist, aber die Realität simuliert, ersetzt zu werden.  Das Reale ist, aus dem Realitätsprinzip vertrieben, das wiederum in der Simulation aufgelöst wurde, ein extremes Phänomen geworden. Man muss es nicht als real denken, sondern von einer anderen Welt aus sehen –  als Illusion. Baudrillard schreibt: „Stellen Sie sich die verblüffende Erfahrung vor, die die Entdeckung einer anderen realen Welt als der unsrigen bedeuten würde.“ Warum sollte es eine einzige reale Welt geben, fragt Baudrillard, eine Ausnahme.

Das radikale Denken befindet sich am gewaltsamen Schnittpunkt von Bedeutung und Nicht-Bedeutung, von Wahrheit und Nicht-Wahrheit, und ganz im Gegensatz zum Diskurs des Realität, der auf die Tatsache setzt, dass es etwas und nicht nichts gibt, und damit die Garantie einer objektiven und entzifferbaren Welt abliefern will,  setzt das radikale Denken auf die llusion der Welt. Es strebt nach dem Status der Illusion, indem es die Nicht-Wahrhaftigkeit der Tatsachen, ja die Nicht-Bedeutung der Welt wiederherstellt und die Hypothese aufstellt, dass es nichts gibt und nicht etwas. Das radikale Denken verlangt geradezu nach der Nicht-Wirklichkeit der Tatsachen, nach ihrer Illusion. Jede Verwechslung des Denkens mit der Ordnung des Realität  ist halluzinatorisch und entspringt einem völligen Missverständnis der Sprache, die in ihrer Bewegung ja selbst Illusion ist. Denn sie ist Trägerieiner Kontinuität der Leere, da sie in ihrer Materialität immer die Dekonstruktion dessen ist, was sie bedeutet. Es ist die ironische Dimension der Sprache, die mit den Tatsachen insofern korreliert, als diese zum einen sind, was sie sind, zum anderen aber etwas anderes sind als das, was sie sind. Das heißt, sie sind nie mehr als das, was sie sind und sie nie nur das, was sie sind.  Eine faktische Existenz ist unmöglich – nichts ist völlig offensichtlich, ohne rätselhaft zu werden. Die Wirklichkeit selbst ist zu offensichtlich, um wahr zu sein. Es ist die ironische Verklärung, die für Baudrillard das Ereignis der Sprache ausmacht, um die fundamentale Illusion der Welt und der Sprache wiederherzustellen.

Es gibt eine doppelte, widersprüchliche Anforderung an das Denken. Es geht nicht darum, die Welt zu analysieren, um ihr eine unwahrscheinliche Wahrheit zu entlocken, und auch nicht darum, sich den Tatsachen anzupassen, um aus ihnen eine logische Konstruktion zu extrahieren, sondern es geht darum, eine neue Form zu schaffen, eine Matrix der Illusion und der Desillusion.  Denn die Wirklichkeit verlangt nichts anderes, als sich den Hypothesen zu unterwerfen.

Das theoretische Ideal wäre es, Thesen so aufzustellen, dass sie von der Realität widerlegt werden können, indem diese widersprechen muss und sich damit selbst entlarven könnte. Denn die Wirklichkeit ist selbst eine Illusion, und alles Denken muss zunächst einmal versuchen, sie zu entlarven. Dazu muss es sich selbst maskieren und sich als Lockvogel darstellen, ohne Rücksicht auf seine eigene Wahrheit. Es muss sich gerade rühmen, kein Instrument der Analyse und kein kritisches Werkzeug zu sein. Denn es ist die Welt selbst, die sich eben nicht als Wahrheit, sondern als Illusion entlarven muss. Die Derealisierung der Welt wird das Werk der Welt selbst sein, schreibt Baudrillard.

Die Realität muss in die Falle gehen, wir müssen uns schneller bewegen als die Realität. Auch die Ideen müssen sich schneller bewegen als ihre Schatten. Ideen bewegen sich stets schneller als die Bedeutung, aber wenn sie zu schnell gehen, landen wir im Wahnsinn. Das Höchste wäre es, wenn eine Idee als Idee verschwindet, um ein Ding unter Dingen zu werden. Eine Idee ist nie dazu bestimmt, in der Welt zu verbleiben, sondern in ihr zu erlöschen, in ihrem Durchscheinen in der Welt, dem Durchscheinen der Welt in ihr.

Baudrillard weiß es, wenn er schreibt: „Ein Buch endet erst mit dem Verschwinden seines Gegenstandes. Seine Substanz darf keine Spuren hinterlassen. Dies ist das perfekte Verbrechen.“ Was auch immer sein Gegenstand sein mag, das Schreiben muss die Illusion dieses Gegenstandes zum Vorschein bringen, muss ihn zu einem undurchdringlichen Rätsel machen, und das ist ganz inakzeptabel für die Realpolitiker des Begriffs. Das Ziel des Schreibens ist es, seinen Gegenstand zu verändern, ihn zu verführen, ihn für sich selbst verschwinden zu lassen. Das Schreiben zielt auf eine totale Auflösung — eine poetische Auflösung. Heute reagieren aber nur die fanatischen Anhänger der Realität.

Dabei sind es die Ereignisse, die uns den Sinn rauben.  Sie passen sich den fantastischsten Hypothesen an, so wie sich natürliche Arten und Viren an die feindlichsten Umgebungen anpassen.  Nicht mehr die Theorien passen sich den Ereignissen an, sondern umgekehrt.

Wir haben den Vorsprung verloren, den die Ideen gegenüber der Welt hatten, diesen Abstand, der bedeutete, dass eine Idee eine Idee blieb. Das Denken muss heute außergewöhnlich sein, antizipierend und im Außen – es muss der projizierte Schatten zukünftiger Ereignisse sein. Heute hinken wir aber den Ereignissen hinterher. Sie mögen manchmal den Eindruck erwecken, dass sie sich zurückziehen; in Wirklichkeit sind sie längst an uns vorbeigezogen. Die simulierte Unordnung der Dinge hat sich schneller entwickelt als wir.  Die Ereignisse sind immer  vor ihrer Bedeutung. Daher die Verzögerung der Interpretation, die nur noch die retrospektive Form des unvorhersehbaren Ereignisses ist.

Was also tun? Für Baudrillard sind wir nach der Orgie und das einzige Problem ist, zu überleben.  Die Indifferenz ist uns aber gestohlen worden, und zwar von einer gleichgültig gewordenen Welt:  Keine Auseinandersetzungen mehr; nichts steht auf dem Spiel.  Heute ist es schwierig, gleichgültiger gegenüber ihrer Realität zu sein als die Fakten selbst, gleichgültiger gegenüber ihrer Bedeutung als die Bilder. Die operative Welt ist eine apathische Welt. Was nützt es, in einer Welt ohne Leidenschaft leidenschaftslos zu sein, oder in einer Welt ohne Verlangen distanziert? Andererseits müsse man sich, so Baudrillard, gegen alle Vorwürfe der Verantwortungslosigkeit, des Nihilismus oder der Verzweiflung wehren. Radikales Denken ist niemals depressiv. Es gilt das Schreiben, den Akt des Schreibens, ja die poetische, ironische, anspielende Kraft der Sprache, das Jonglieren mit dem Sinn zu verteidigen.

Der Sinn ist immer unglücklich. Die Analyse ist per definitionem unglücklich, da sie aus einer kritischen Desillusionierung geboren wird, während die Sprache glücklich ist, selbst wenn sie sich auf eine Welt ohne Illusion und ohne Hoffnung bezieht. Das könnte für Baudrillard sogar die Definition eines radikalen Denkens sein: eine glückliche Form und eine Intelligenz ohne Hoffnung. Und dies ist der einzige politische – oder transpolitische – Akt, den der Schreibende vollbringen kann. Was zählt, ist die poetische Einzigartigkeit der Analyse. Auf jeden Fall ist eine trostlose Analyse in einer glücklichenSprache besser als eine optimistische Analyse in einer unglücklichen Sprache, die wahnsinnig ermüdend ist und Plattitüden hervorbringt.

Dem radikalen Denken ist jede Auflösung der Welt in Richtung auf eine objektive Wirklichkeit und deren Entzifferung fremd. Es entschlüsselt nicht, vielmehr zerstreut es Begriffe und Ideen. Die Sprache nimmt Rücksicht auf die Illusion der Sprache, und zwar als endgültige List und damit zelebriert sie die Illusion der Welt als unendliche Falle, als Verführung des Geistes. Während sie ein Träger von Bedeutung ist, ist sie gleichzeitig ein Supraleiter von Illusion und Nicht-Bedeutung. Für Baudrillard ist die Sprache allenfalls der unfreiwillige Komplize der Kommunikation, viel mehr appelliert sie an die Zerstreuung des Sinns im Ereignis der Sprache. Diese Leidenschaft für das Künstliche, für die Illusion, ist die Leidenschaft für das Auflösung der allzu plumpen Konstellation von Bedeutung. Wo dieser Kunstgriff nicht beachtet wird, geht nicht nur der Charme verloren, sondern der Sinn selbst kann nicht aufgelöst werden.  Verschlüsseln, nicht entschlüsseln. Baudrillards Forderung: Überarbeite die Illusion. Schaffe Illusion, um ein Ereignis zu schaffen. Mach rätselhaft, was klar ist, mach unverständlich, was nur zu verständlich ist – man muss das Ereignis selbst unlesbar machen. Die falsche Transparenz der Welt akzentuieren, um eine terroristische Verwirrung über sie zu verbreiten, oder die Keime oder Viren einer radikalen Illusion verbreiten. Virales, verderbliches Denken, das den Sinn zersetzt. Einen heimlichen Handel mit Ideen fördern, mit allen unzulässigen Ideen, mit unanfechtbaren Ideen, wie in den 1930er Jahren der Schnapshandel gefördert werden musste. Denn wir befinden uns bereits in einem Zustand der totalen Prohibition. Das Denken ist zu einer äußerst seltenen Ware geworden – verboten und prohibitiv -, die an geheimen Orten nach esoterischen Regeln kultiviert werden muss.

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