Bemerkungen zu Max Haivens “Cultures of Financialization”

Die in dem Buch “Cultures of Financialization” zusammengefassten Essays referieren immer wieder auf den letztes Jahr verstorbenen Randy Martin, der die Finanzialisierung des alltäglichen Lebens in aller Drastik beschrieben hat.

Finanzialisierung besitzt für Max Haiven zwei sich überlappende Funktionen: der Einfluss auf die Struktur der gegenwärtigen Kapital-Ökonomie und diskursive Machttechnologie, die zunehmend auch die Kultur und das alltägliche Leben dominiert. Ökonomen tendieren dazu, den Begriff insbesondere auf die steigende Macht des sog. Fire-Sektors (Banken, Investments, Spekulation, Versicherung und Real Estate) in der globalen Ökonomie zu beziehen. Dazu gehören die enorme Größe der finanziellen Unternehmen, die der neoliberalen Reregulation geschuldet ist, mit der die Trennung von Investment und kommerziellen Banken eliminiert wurde, und die „mortgage markets“, die die Märkte für neue Formen der Securitization öffneten. Finanzialisierung referiert in diesem Sinn auch auf die multinationalen Unternehmen, auf den sog. Shareholder Value. Es geht um die ökonomische Macht der Finanzmärkte, besonders der Anleihen- und Währungsmärkte, die selbst die Politiken der Regierungen zunehmend dirigieren, nicht nur die der Staaten, sondern auch die der Städte, Provinzen, Länder, und wie wir in Europa sehen, auch die der supranationalen Organisationen. Finanzialisierung referiert generell auf die steigende Mobilität der transnationalen Geldkapitalströme, auf die Art und Weise, wie diese Ströme beschleunigen und immer chaotischer werden, und dies aufgrund der sophisticated Formen der Securitization und des automatisierten High-Frequency-Tradings, einem System, in dem die Computer heute die Mehrheit der Transaktionen exekutieren. Es gibt sublime Techniken des Risikomanagements, um neue kreative, vernetzte und zusammengesetzte Derivatprodukte zu kreieren, deren Skalen und Komplexität die menschliche Imagination schlichtweg übersteigen.

Schulden und Defizite werden selbst für die Politik extrem relevant, nicht nur auf der Ebene der Nationalstaaten, sondern auch auf der Ebene der Sub-Staaten, der Städte, der Transportfirmen, Universitäten, Krankenhäuser etc. Die Finanzmärkte diktieren die Unternehmensstrukturen, globale Konzerne werden von den anonymen Superegos der Shareholder und ihren Repräsentanten dominiert. Die große Mehrheit der wichtigsten Rohstoffe und Lebensmittel (Öl, Getreide, Reis, Wasser etc.) werden, bevor man sie konsumiert, dutzendmal getradet, und dies dank der Spekulation in Futures und Derivate, wobei Geld hier wenig mit Nation, sondern mit dem transnationalen Währungstausch zu tun hat. Man muss zur Finance unbedingt die Kapitalisierung der Assets hinzuzählen, die an den digitalisierten, globalisierten und vernetzten Märkten zirkulieren. Man kann zwischen den Praktiken des High-Frequency-Tradings, dem internationalen Arbitrage, den neuen synthetischen Derivaten und den zum Teil korrupten Investments der Investmentbanken, Hedgefonds und der Schattenfinanz keine klaren Trennungslinien mehr ziehen, vor allem was die Unterscheidung zwischen einem finanziellen Imaginären und einer realen Ökonomie betrifft. Das finanzielle Kapital misst nicht nur die Geldkapitalströme und profitiert nicht nur durch die Spekulation auf die sog. Fundamentaldaten der Ökonomie, sondern gestaltet und diszipliniert als eine spezifische Machttechnologie und die Produktion und Zirkulation. Dies deckt sich in weiten Teilen mit den Analysen, wie sie John Milios schon seit längerer Zeit vorgenommen hat. (Zu einer marxistischen Kritik an Randy Martin siehe

Die Preise der Derivate sind keine direkten Repräsentationen der unterliegenden Werte, auf die sie referieren. Im Jahr 2007 hatten die Preise der Hypothekenkredite in den USA wenig mit den Werten der Häuser zu tun, auf die sie dennoch referierten. Die Preise reflektierten auch nicht auf die Möglichkeit, dass die Kredite zurückgezahlt werden könnten. Vielmehr waren die Kredite eine Funktion ihrer Zirkulation in einer weiteren spekulativen finanziellen Ökonomie, einer konnektiven Spekulation. Während weiterhin behauptet wird, dass Assets rein eine Repräsentation der unterliegenden realen Werte darstellten (eine Aktie von VW repräsentiert einen Teil der unterliegenden Assets und der produktiven Kapazität von VW), hängt der Kurs der Aktie doch auch davon ab, dass potenzielle Investoren die kommende Zukunft von VW imaginieren. Diese ist von den geopolitischen Faktoren der Ölproduktion, der Wahrscheinlichkeit der Regulationsmöglichkeiten von sozialen Umgebungen, der politischen Instabilität von Regionen abhängig und nicht zuletzt von den Preisfluktuationen an den Märkten selbst. Die Aktien von VW werden nicht allein aufgrund der Fundamentaldaten des Unternehmens bewertet, sondern als Teil von Portfolios verstanden, innerhalb dessen sie fragmentiert und versichert sind, eingebettet in Derivatverträge und schließlich in die komplexe finanzielle Ökonomie.

Die Preisbewegungen an den Finanzmärkten implizieren per se einen a-personalen Sachverhalt, dessen Kontraperformativität je schon in den Begriffen eines objektiven Preises artikuliert wird. Die Realität der derivativen Preisgestaltung manifestiert sich innerhalb einer zweifach gefalteten Kontingenz: Kontingenz der Abstraktion (Variabilität des Derivatvertrags und generelle Fungibilität des Underlyings) und Kontingenz der Revision (indefinite Plastizität der differenziellen Preisbewegung selbst). Diese kontingenten Bedingungen des Auspreisens bleiben stets an die institutionell-materiellen Machtpraktiken, die an den Derivatmärkten aktuell vorherrschen, sowie an die monetäre Architektur der quantitativen Kapitalisierung des finanziellen Kapitals gebunden. Die Preisgestaltung der Derivate ist sui generis als immanent und als kontingent einzuschätzen, weil sie eine spekulative Dimension hinsichtlich der jetzt noch unbekannten Eventualität installiert. Diese Eventualität existiert jedoch nicht vor dem Schreiben des Derivatvertrags, vielmehr wird sie durch diesen geradezu fabriziert (Fälligkeit wird nur als eine von mehreren in Frage kommenden möglichen Realitäten aktualisiert). Als eine Beifügung zur Kontingenz der Abstraktion (universelle Fungibilität des Underlyings) ist das Derivat also dahingehend mit Kontingenz ausgestattet, dass es eine spekulative, eine heute noch nicht gewusste Eventualität in Gang setzt, die durch den Vertrag selbst mit-konstituiert wird.

(Marx behauptet über weite Strecken, dass eine Aktie oder eine Anleihe eine Forderung auf zukünftigen Mehrwert sei, der aus der Arbeitskraft extrahiert werde. Eine Aktie von VW mag einen Preis haben, der auf spekulativen Märkten konstituiert wird, aber ihre unterliegender Wert wäre dann eine Forderung auf einen Anteil am Mehrwert, der aus den Arbeitern extrahiert werden müsste. Für Marx war die Mehrheit des finanziellen Reichtums fiktiv. Der Preis der finanziellen Assets war letztendlich eine Halluzination, eine Abweichung. Für Harvey repräsentiert das fiktive Kapital nicht die Forderung auf eine existierenden Wert, sondern auf einen Teil des Mehrwerts, der in Zukunft extrahiert wird. Für Harvey ist die Finance nicht einfach ein parasitäres Rudiment, sondern eine wichtiges Set der ökonomischen Institutionen, durch die das Kapital seine immanente Tendenz zur Überproduktion fixiert und stoppt. Aus verschiedenen Gründen ist heute die Finanzindustrie profitabler als die anderen Sektoren des Kapitals und dominiert damit zunehmend die Ökonomie, insofern das Kapital in spekulative Projekte investiert, die auf der Differenz der Einkaufs- und Verkaufspreise von Sicherheiten beruhen.)

Des Weiteren kann die Finanzialisierung als Spread zwischen finanziellen Narrativen, Metaphern, Tropen, Klischees, Stereotypen, Plots und Diskursen in der sozialen Fabrik verstanden werden. Wir leben in einer Zeit, in der Studentendarlehen,Hypothekenkredite, Konsumentenkredite, Kreditkarten und die Strategien der Investments das alltägliche Leben dominieren und generell das Ökonomische gestalten wie nie zuvor. Das fiktive Kapital ist längst eine wichtige Ressource, durch die das soziale Leben auf der Ebene der alltäglichen Entscheidungen, der institutionellen Kulturen, der kulturellen Narrative und Ideologien reproduziert wird. Selbst die immanente Reproduktion des fiktiven Kapitals muss auf soziale Fiktionen referieren, wie sie bspw. in den institutionellen Kulturen der Wall Street zirkulieren. Das fiktive Kapital ist immer auch eine soziale Fiktion, die sich über die Natur der Welt auslässt. Diese Fiktion besitzt eine ungeheure Macht: Die Finanzialisierung repräsentiert die Hegemonie des fiktiven Kapitals über alle anderen Mittel, die die globale Ökonomie zu erklären und zu imaginieren versuchen. Haiven schreibt: „It becomes the metanarrative that increasingly influences and shapes social fictions throughout the social fabric.“

So impliziert die ubiquitäre Metapher des Investments die tiefe Penetration der finanziellen Ideen, Tropen, Logiken und Prozesse in das alltägliche Leben. Bildung wird heute nicht einfach nur als eine individualisierte Ware verstanden, mit der Studenten erzählt wird, dass sie in sie investieren sollen, um ein stabiles Leben in der Mittelschicht zu genießen. Darüber hinaus ist sie nämlich einer der Schlüsselbegriffe, mit der die Individuen in die globale Ökonomie integriert werden. In den USA haben die Studentendarlehen die Summe von einer Billion US-Dollar erreicht. Wie die Anlagen an den „sub-prime mortgage markets“ werden diese Darlehen gebrochen, gebündelt und versichert; ihre spektrale Präsenz geistert durch die globale Finanzarchitektur und wirft ihre Schatten auf die Investment-Portfolios. Aber es sind nicht nur die Studentendarlehen, sondern auch die Hypothekenkredite und Kreditkartenschulden, die Altersversorgung und das Daytrading von Amateuren – Instrumente, die heute fast jeden Akteur in die alltäglichen Prozesse der Finanzialisierung integrieren, wobei individuelle Schulden und das Investment in einem interkonnektiven Äther der Spekulation verschwimmen. Während die reale Welt der Werte weiter existiert, sind die finanziellen Instrumente niemals eine perfekte oder unproblematische Repräsentation dieser Werte. Finanzielle Phänomene sind weniger Repräsentationen des realen Reichtums, sondern sie sind größtenteils imaginär. Imaginär bedeutet aber nicht, dass die finanziellen Assets nicht real wären

Finanzialisierung impliziert also die Art und Weise, wie finanzielle Messmethoden, Ideen, Prozesse, Techniken, Metaphern, Narrative, Werte und Themen über den finanziellen Sektor hinausgehen und andere Sektoren des Gesellschaftlichen transformieren. Die steigende ökonomische und materielle Macht des Finanzsektors, so Haiven, sei unmittelbar verbunden mit seinem wachsenden Einfluss auf bestimmte Bereiche der Kultur. Das primäre Produkt und Medium des Finanzsektors ist immateriell, spekulativ und prognostizierend: die Manipulation des Risikos, der Wahrscheinlichkeiten, der Differenziale, der Versicherungen und des Glaubens.

Haiven geht es um die rhizomatischen und diffusen Erscheinungsweisen der finanziellen Metaphern, Praktiken, Narrative, Normen, Messmethoden, Ideologien und Identitäten, die die soziale Fabrik durchziehen, und um die Art und Weise, wie die Finanzialisierung ein neues Set von Techniken und Dispositiven entwickelt, durch die die verschiedenen Elemente der sozialen Fabrik in die Ordnung der Kapitalakkumulation eingeschrieben werden, oder, um es anders zu sagen, wie die Finanzialisierung das Verständnis der Bürger, der Subjekte als kreative Akteure, als ökonomische Partizipienten und als soziale Wesen transformiert. Sie ist keine dystopische Monokultur, sondern eine kreative, konfliktuelle und ökonomische Antwort auf die materiellen Bedingungen des Lebens, die heute unter der Regie des spekulativen, neoliberalen Kapitals stehen.

Wenn wir Bereiche wie Gesundheit, Erziehung, Regierung, Software, Spiele und selbst noch das Shoppen als Investments ansehen und das Leben als Feld einer paranoiden Securitization begreifen, dann bilden wir selbst ein ideologisches Gerüst, das bestimmte Aspekte der sozialen Realität und bestimmte Zukünfte ausschließt. Die Finanzialisierung benötigt zu ihrer Stabilisierung immer auch Ideologien, Praktiken und Fiktionen des alltäglichen Lebens, in die entsprechend auch investiert wird. In einer Zeit der ubiquitären Schulden, eines eskalierenden Konsumismus, einer politischen Quietismus und einer hochvolatilen finanziellen Ökonomie können die Bereiche der Ideologie und Kultur nicht einfach dem Überbau zugerechnet werden, dem eine reale ökonomische Basis unterliegt. Haiven bezieht sich hier auf Frederic Jameson, der schreibt, dass heute das Ökonomische kulturell und das Kulturelle ökonomisch sei. Die Dialektik von Ökonomie und Kultur sei vom fiktiven kapital überschattet.

Wir sprechen hier hingegen in loser Anlehnung an Francois Laruelle von der Ökonomie als Determination-in-der-letzten Instanz, was heißt, dass Politik, Kultur, Recht, Kunst etc. der Ökonomie immanent sind. Für eine begriffliche, nicht-dialektische Bestimmung des Kapitals könnte dies heißen, das begriffliche Kapital im Kontext einer unilateralen »Logik« neu zu verstehen. Analog der Figur der »unilateralen Dualität« werden dann zwei Terme – der erste Term steht für das Kapital (Verhältnis bzw. Nicht-Relation) und der zweite Term umfasst die von jenem abgeleiteten Elemente und Relationen – nicht durch einen dritten Term, den der abstrakten Arbeit, synthetisiert, sondern der erste Term (Geld als Kapital) determiniert uni-lateral den zweiten Term und die daraus weiter entstehenden Relationen, Teilungen und Terme. Sowohl der zweite Term (dieser Term steht hier für Ware, Produktion, Arbeitskraft, Zirkulation, Formen des Kapitals etc.) als auch die Relation zwischen dem erstem Term und dem zweitem Term (Geld-Ware-Produktion-Ware`-Geld`) sind dem ersten Term immanent, das heißt sie werden von ihm inklusive der möglichen Kontingenzen, die die Relation bereithalten, in der letzten Instanz determiniert. Das Entscheidende bezüglich des ersten Terms besteht hier darin, dass seine Identität sui generis eine uni-laterale Relation oder Uni-lation enthält. Der zweite Term ist immer schon ein uni-lateraler Klon des ersten Terms, was nichts anderes bedeutet, als dass das Geld als Kapital primär ist, oder, um es anders zu sagen, dass man je schon von einer monetären Werttheorie bzw. Kapitaltheorie auszugehen hat.

Haiven bezieht sich grundlegend auf die marxistische Theorien der Reproduktion der Kapitalakkumulation inklusive der systemischen Krisen (Krieg, Imperialismus und Spekulation). Darüber hinaus mobilisiert er Texte der Cultural Studies, die untersuchen, wie die sozialen Relationen, Hegemonien und Ideologien durch kulturelle Diskurse und das alltägliche Leben reproduziert werden. Des Weiteren bezieht er sich auf feministische Texte, die auf die kapitalistische Subordination der reproduktiven Arbeit verweisen.

Hinsichtlich der Finanzialisierung muss zunächst die Reproduktion des finanziellen Sektors durch sich selbst beachtet werden, die zugleich diejenige einer Sub-Klasse von hochspezialisierten Operationen ist. Zum Zweiten gilt es zu bedenken, dass heute die Reproduktion des sozialen und kulturellen Lebens, der Identitäten und Institutionen intensiv finanzialisiert wird, und zum Dritten ist die Reproduktion des finanziellen Systems selbst von der populären Kultur und dem alltäglichen Leben abhängig. So sollte, laut Haiven, die Finanzialisierung als ein Terrain des Kampfes zwischen verschiedenen Sphären und Zyklen der Reproduktion verstanden werden. Diese dreiteilige Theorie der Reproduktion lokalisiert auch die Kultur im Herzen der Ökonomie. Wenn das Gesellschaftliche durch diverse Patterns der Reproduktion komponiert wird, dann werden diese wiederum durch unzählbare individuellen Handlungen und Transaktionen permanent transformiert, ohne dass diese die Ökonomie konstituieren, sie aber dennoch reproduzieren oder herausfordern. Reproduktion referiert nicht auf einen automatischen, unbewussten und subjektlosen Prozess, vielmehr prozessiert sie in einem Feld der Verweigerung, des Kampfes, der Kompromisse, der Verhandlungen und der Experimente. Die soziale Fabrik der Reproduktion ist sublim: Ihre Größe, Komplexität, Interkonnektivität und Totalität kann von der Imagination nicht getrennt werden. Die Finanzialiserung operiert auf allen Ebenen der Reproduktion, der ökonomischen und politischen Reproduktion des Kapitals, der Gestaltung der sozialen und kulturellen Reproduktion sowie der Verbindung der beiden Prozesse. Dies erlaubt auch eine exakte Bestimmung der Krisen des Reproduktionssystems, der Klassenkämpfe oder des Imperialismus.

Haiven interessiert zudem die metaphorische Bedeutung von Derivaten. Er zitiert in diesem Kontext Derrida, der schreibt, dass die Sprache niemals auf einer stabilen und ewigen Beziehung zwischen Signifikat und Signifikanten beruhe, vielmehr sei sie endlos metaphorisch. In MacKenzie’s Worten sind Derivate (geschriebene Forderungen) als der Motor, nicht als die Kamera (der Märkte) zu verstehen. Sie messen nicht einfach nur Marktrealitäten, sondern sie produzieren sie auch. Fiktives Kapital referiert hier auf ein Set von Prozessen, wobei die soziale Reproduktion in die Finanzialisierung eingeschrieben ist. Wir würden an dieser Stelle eher mit der a-signifikanten Semiotik eines Guattari argumentieren. i.e. die heutigen finanzielle Prozesse sind weniger sprachlich, vielmehr semiotisch und algorithmisch verfasst.

Haiven gibt einen Vielzahl von Beispielen, die den enormen Einfluss der Finance auf das kulturelle Leben nachweisen. Spiele wie Pokémon seien symptomatisch für die Finanzialisierung des Alltags und sie seien ein Mittel, mit denn junge Subjekte in der Ära der spekulativen Akkumulation kreiert werden oder sich selbst kreieren. Wie Kinder Pokémon Cards handeln, sei ein Beispiel für das Lernen von finanziellen Skills und Habiti, die auf ein kulturelles Klima der Finanzialisierung bezogen seien. Schon die Kinder etablieren damit die neoliberale Arbeit am eigenen Selbst, gestalten sich als Subjekte. Haiven untersucht den Wall Street Financier, den viel gepriesenen “risk-taker”, dessen professionelle Einstellung zum Prekären ihn zum extrem affektiven Agenten eines breiteren Prozesses der Finanzialisierung macht. Am unteren Ende untersucht er das abjektive Opfer, das auch „at risk“ ist, den rassifizierten Sub-Prime Borrower, dessen toxische Schulden das finanzielle System im Jahr 2007 vergiftete. Im Zuge der Austeritätspolitik und dem Kult des Brandings gestaltet selbst Walmart seine Kunden und Arbeiter als Risikonehmer, als neoliberale Subjekte und sophisticated finanzielle Akteure, die die Methoden und Praktiken des finanziellen Risikomanagements zu ihrer eigenen Sache machen. In einer Ära, in der alle Aspekte des Lebens gemessen, quantifiziert und spekulativ verwaltet werden, erlangt der nebulöse Term „Kreativität“ eine überragende Aktualität; er inkludiert eine neue diskursive Formation der Finanzialisierung. Und schließlich kann der finanzielle Sektor nur überleben, wenn er verschiedene Formen des Widerstands berücksichtigt. So kann man das Verleihen von Geld (zwischen den Ländern der dritten Welt und zwischen Individuen in der ersten Welt) als – wenn auch erfolglose . Versuche lesen, Ansprüche der Subalternen auf Mehrwert zu realisieren. Letztlich macht aber die Finanzialisierung, indem sie Agenten, Kreativität und Subjektivität wesentlich beeinflusst, jede „Bemerkung“ zum Widerstand problematisch. Sie repräsentiert eine Form der kapitalistischen Akkumulation, die elaborierter und nuancierter als jede andere ist, aber auch viel pathologischer und destruktiver,

Metaphern sind elementar für den Diskurs im Sinne Foucaults, dem Wahrheitsregime als Ordnung des Wissens, des Sprechens und des Verstehens – einer Ordnung, die von sozialen Machtbeziehungen abhängt und diese Beziehungen reproduziert. In diesem Sinn ist die Überstülpung der Metapher „Investment“ auf alle Lebensbereiche keineswegs harmlos, vielmehr ist sie symptomatisch und konstitutiv für den Shift der sozialen Ökonomie hin zur Finanzialisierung. Mit dieser Metapher artikulieren die Leute ihre Beziehungen und Wahlmöglichkeiten, bis sie in ein allgemeines Bewusstsein der finanziellen Ideen eintauchen.

Für Frederic Jameson ist der Aufstieg des finanziellen Kapitals untrennbar vom postmodernen Turn; die disjunktiven und hybriden kulturellen Praktiken der Postmoderne können nicht ohne den Bezug auf die „post-gold-standard world“ verstanden werden, in der das Geld keine fixe Bedeutung mehr besitzt und Schulden und Kredite regieren. Ein Ding ist heute nur ein „wertvolles“ Ding, insofern es von einer Story gestützt wird, und dies gilt für den Wert des Brots, eines Bild von Warhol, einer Stunde beim Therapeuten und dem Future Preis. Während immer wieder von dem hyperbolischen Reichtum der Finanzindustrie im Kontrast zu dem der „Realökonomie“ schwadroniert wird, sei, so Haiven, sei in der Realität jeder Wert fiktiv, i.e. eine Story über das, was in einer Ökonomie Wert besitzt und damit die sozialen Relationen gestaltet. Der Begriff „Fiktives Kapital“ beinhaltet auch, das die Finance die Produktion der sozialen Fiktionen vorantreibt als auch von ihnen abhängig ist. Finance ist nicht nur fiktiv, weil sie eine Fiktion ist, sondern weil sie die sozialen Relationen zu transformieren hilft. Sie produziert Fiktionen und wird durch Fiktionen reproduziert. Es geht Haiven um die Intensität der Relation zwischen Fiktion und Wert, wenn sie durch die Finanzialisierung dominiert wird, und um die einheitlichen und komplexen sozialen Fiktionen, die durch das finanzielle Kapital und seine Agenten selbst gestreut werden. Kultur referiert hier auf die Art und Weise, wie wir unser Leben leben und unsere sozialen Umgebungen reproduzieren, und wie dies wiederum durch Kunst, Literatur, Spiele, Bildung etc. beeinflusst wird. Die Kultur ist direkt damit verbunden, wie das Gesellschaftliche und die Individuen sich reproduzieren, sodass Reproduktion niemals einfach bewusstlose Replikation meinen kann. Vielmehr impliziert sie einen komplexen, konfliktuellen, kreativen und reflexiven Prozess.

 Die letzten vier Jahrzehnte der Finanzialisierung haben eine massive quantitative und qualitative Transformation des finanziellen Sektors und der Finanzialisierung mit sich gebracht. Die Finance wird immer stärker von den hochwissenschaftlichen Praktiken des Risikomanagements getrieben, das komplexe Formulare und Techniken auf einem interkonnektiven globalen Marktplatz hervorbringt. Wie Randy Martin schon hervorgehoben hat, ist das emblematische Konstrukt dieses Systems derivativ, gleich einem finanziellen Asset, das ein handelbares Agreement zwischen zwei Parteien beinhaltet, um einen spezifizierten Austausch zu einem zukünftigen Zeitpunkt vorzunehmen.

Die Trades sind in Portfolios eingeschrieben, und manche neuen synthetischen Derivate enthalten ein Vielzahl von Fragmenten verschiedener Assets, die mit einer ungeheuren Geschwindigkeit zwischen den großen Investmentbanken und durch die digitalisierten Weltmärkte zirkulieren. Die Finance funktioniert hier als eine Modalität der sozialen Fiktion, indem sie eine performative Story über die Welt erzählt, und zwar mit einer Vielzahl von Metaphern, die niemals in ein kohärentes oder lineares Narrativ übergleiten. In derselben Art und Weise, wie die Finance die De-Evolution des Werts qua differenzieler Preissetzung in fragmentarische Metaphoriken vorantreibt, nehmen wir in den sozialen und kulturellen Bereichen eine steigende Fragmentation, Bedeutungslosigkeit und Chaos wahr. Selbst die Strategien der Unternehmen werden zunehmend von den Aktienmärkten und den finanziellen Institutionen diszipliniert, durch kurzfristige Anforderungen gelenkt, um höhere Renditen zu sichern. Regierungspolitiken haben, wenn sie den Strategien der Anleihenmärkte unterworfen sind, keine Möglichkeiten langfristige Planungen durchzuführen und versuchen weitestgehend die potenziellen Risiken im Kontext der Profitabilität ihrer großen transnationalen Unternehmen zu managen. Sogar die Individuen, die von den Schulden und einer liquiden Welt ohne Garantien getrieben werden, haben Schwierigkeiten, ihre Zukunft als etwas anderes als die kontinuierliche Wiederholung der Gegenwart zu begreifen.

Mit der Finanzialisierung wird fast alles, von der Bildung bis hin zur Religion, unter der Linse der Finanzialität gesehen. Man soll üben und richtig essen, das heißt, selbst die Nahrung als Investment in den Körper begreifen; Fettleibigkeit, eine der heute am schnellsten zunehmenden Krankheiten, wird als das Resultat eines falschen Investments begriffen. Die Performance der Unternehmen (hinsichtlich der Flexibilität) und die der Regierungen (hinsichtlich der Effizienz) müssen in erster Linie die Märkte überzeugen und erst in zweiter Linie Kosten sparen. Dies führt unter anderem zu einer Fragmentierung der Arbeit und dem daraus resultierenden Prekariat. Die Devise lautet: Antworte auf dein prekäres Leben, indem du Risiken managst, investiere in die Krankenversicherung und die Erziehung der Kinder, antworte auf fehlende Solidarität, indem du deine Zeit in ein Hobby oder freiwillige Tätigkeit investierst. Die Finanzialisierung treibt selbst noch das Prekariat voran und bietet sich als Lösung an; Prekärsein ist nicht nur eine Norm, sondern ein Geschenk, eine Möglichkeit für das fianzialisierte Subjekt. Jede Ambition muss darauf ausgerichtet sein, im Jetzt zu leben, schnelle Entscheidungen zu treffen und die Zukunft zu privatisieren, indem man die Kosten für das Alter und die Gesundheit auf sich nimmt und schließlich alles Mögliche versichert. Im Financier finden wir die Figur des gehebelten Prekariats, dem alle Arbeiter und Angestellten nacheifern sollen. Dies führt zu einem schönen neuen Leben, das durch maximale Liquidität gekennzeichnet ist und sich schnell an die profitabelsten Situationen assimiliert.

Foto: Bernhard Weber

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