Massumi mutmaßt nun, dass eine alternative Ökonomie, die bestimmte Momente aus den Modellen der Finance heraus reißt, auch die Logik der Derivate »postkapitalisieren« könnte, wenn man die Finance mit dem Mehrwert-des-Lebens verbindet, der jenseits des Produktivismus und dem Dogma der Arbeit liegt. Solch ein Projekt würde sich definitiv dem Paradigma des Spiels annähern.
Die digitale Automation des finanziellen Tradings intensiviert heute unaufhörlich die Bedeutung des Mehrwerts der Ströme durch die Beschleunigung der Datenströme und der finanziellen Transaktionen und dies erzeugt den Hyperdrive des Kapitals sowie eine maschinelle Surplusproduktion, die sich der bewussten Kontrolle der menschlichen Akteure schon alein augrund der Gewschwindigkeiten der transaktionen an den Finanzmärkten immer weiter entzieht. Diese Entwicklung erzeugt aber auch neue Aufmerksamkeitsformen und Perzeptionen insbesondere bei den Tradern, die sich nun immer stärker auf das »gute feeling« bzw. die Intuition verlassen und damit einen Mehrwert an Perzeption kreieren. Sie kapitalisieren ihn in einem selbstreferenziellen Exzess über die normale Perzeption hinaus und nähern sich damit in ihren Entscheidungsprozessen gerade den Maschinen an. Paradoxerweise kommt es über die Intuition gerade zu einem Maschine-Werden der humanen Akteure und dies zeigt, dass die menschlichen Akteure definitiv nicht die »Master« der Kapitalverhältnisse sind.
Man kann auf dem Weg hin zu einer postkapitalistischen Ökonomie nicht umdrehen und zur guten alten Realökonomie zurückkehren. Heute wird die Zukunft durch das finanzielle Kapital vereinnahmt, das heißt, das Werden, der Wandel und das Potenzial werden durch die Finance determiniert. Die Differentiale, die heute kapitalisiert werden, indizieren auch immer die Potenziale des Lebens. Die Differenziale sind in diesem Fall relational, wobei die Populatione sich in einem immer fluktuierenden Feld des Lebens bewegen. Diese Populationen sind völlig transindividuell.
Wenn ein Preis auf dem Börsenparkett bestimmt wird, dann wird aus dem Intervall der Feld-Fluktuation ein einziger singulärer Datenpunkt gestochen und der sich wandelnde Spread transformiert zu einer diskreten Quantität, die in den Orderbüchern für immer fixiert wird. Die n-dimensionale Heterogenität der Faktoren des Lebens, welche diese Vereinnahmung bedingen, wird auf die einzige Dimension der ökonomischen Registrierung des Profits reduziert, oder, um es anders zu sagen, die Transindividualität des Lebens wird auf einen einzigem Punkt der Akkumulation, der individuell angeeignet wird, reduziert. Es geht Massumi zum einen um die Analyse der kapitalistischen Ökonomie als ein (offenes) System, zum anderen um die Untersuchung der Ökonomisierung der Prozesse des Lebens, wobei beide Analysen nicht ineinander gefaltet werden dürfen. Die Ökonomisierung bleibt abhängig von dem im Lebensfeld permanent fluktuierenden n-dimensionalen Spread, der ständig qualitative Differenziale erzeugt, die vom Kapital quantifiziert werden wollen.
Es gibt eine essenzielle Differenz zwischen Intensität und Quantität, die beachtet werden muss, wenn es um die Ökonomisierung des Feld des Lebens geht. Massumi interessiert sich vor allem für den Mehrwert des Lebens. Es gibt hier eine kreative Spannung zu vermelden, die den qualitativen Differentialen inhärent ist. Natürlich können den qualitativen Differenzialen auch Zahlen zugeordnet werden, aber es geht hier nicht in erster Linie um die Quantität, sondern um die Art und die Weise, wie die verschiedenen Differenziale zusammenkommen, um in einer Zahl zu kulminieren, die eine Intensität hat, welche sich wiederum in der Supplementierung der Zahlen ausdrückt. Der Ausdruck der Intensität ist super-numerisch; die Intensität drückt sich nicht selbst, sondern vielmehr in einer emergenten Qualität aus, die weit über die Anzahl der involvierten Faktoren hinausgeht und als »Eins« in ihrer eigenen Qualität zählt, in der Art wie eine Singularität ihren eigenen Charakter affirmiert. Die Vielen werden Eins und wachsen durch Eins.
Die Intensität ist dem Ausdruck immanent. Wenn die Intensität durch eine quantitative Analyse eingefangen werden soll, dann muss das immanente Außen als extern qualifiziert werden. Und damit wird die Differenz zwischen einer prozessualen Ökologie und einer systemischen Umgebung eliminiert. In einer systemischen Umgebung können Elemente und Operationen als Einheiten behandelt, auseinander gepflückt und wieder zusammen gesetzt werden, um quantitative Analysen zu ermöglichen. Systeme arbeiten mit Synergien und relationalen Effekten, die vor allem Effizienz hervorbringen.
Um eine exakte Unterscheidung zwischen Intensität und Quantität zu erzielen, bedarf es für Massumi, was wirklich nicht überraschend ist, der Einführung des Affekts. 18 Grad Celsius an einem regnerischen Frühlingstag und 18 Grad an einem sonnigen Herbsttag involvieren völlig unterschiedene Wetterbedingungen (Licht, Partikel, Wind etc.) und Perzeptionsweisen, wobei die Komposition und die Differenziale der verschiedenen Faktoren das ausmacht, was man Wetter nennt. Massumi schreibt: “The way in which the factors come together to yield a spring temperature of eighteen degrees is entirely different from the way in which they come together to yield the same autumn temperature. We feel the difference. The two seasonal weather states affect us differently. They each integrate their conditioning factors in their own singular way. We feel their respective singularities. We feel cold in the autumn temperature and bask in the same spring temperature as the long winter begins to break. We are a part of the relational mix. Our affective state resonates with the conditioning factors, registering it on a purely qualitative scale. That scale envelops its own differentials. In its singularity can be discerned a number of mutually enveloped qualitative dimensions, also differing in nature one to another: seasonableness, comfort, the sense of the passage of time, bodily spring reawakening, a fore-hint of hunkering down for the coming winter. The differential of the multiple conditioning factors, as registered in a singular qualitative feeling integrating its own multiplicity of contributory differentials, is an intensity. Our affective state resonates with the intensity of the weather.”
Die Messung der Temperatur verwandelt die qualitative Intensität in reine Quantität, was den Affekt eliminiert oder zumindest behindert, indem die affektive Resonanz zwischen ihm und dem Wetter eliminiert wird. Die Messung indiziert die Wetterbedingungen, während die affektive Resonanz der Messung widerstrebt. Die Relation ist immer lebendiger als ihr systemische Registrierung. Der Affekt ist für Massumi eine immanente Differentation eines Feldes von Intensitäten. Er drückt die Differenzen aus, die durch die Differenzen, die das Feld komponieren, installiert werden. Der Wetter-Affekt ist eine Funktion der Immersion unseres Körpers in das Wetter. Der Affekt ist ein immersiver Emergenz-Effekt. Die Beziehung des Affekts zur Intensität bezieht Massumi auf Spinozas Potenzial »zu affizieren und affiziert« zu werden, wobei der Affekt die Differenz zwischen diesen beiden Aspekten und vielen weiteren Subdifferenzialen auf beiden Seiten bespielt. Und dabei gewinnt der Affekt eine Dimension, die über das Humane hinausreicht und damit eine nicht-humane Erfahrung erzeugt.
Massumi resümiert: Der Affekt erzeugt Resonanzen, während die Messung lediglich indiziert. Über ihre Differenzen hinaus sind die beiden Modi jedoch auch verlinkt. Die Differenz im Modus der Operation markiert die Differenz zwischen zwei Ordnungen, eine qualitative und eine quantitative, wobei es sowohl Trennung als auch Verbindung gibt. Massumi schreibt: “Separation, because they are linked by a process of conversion. Connection, because one indexes the other. The two orders stand in disjunctive articulation with each other, neither identical nor opposite: different in nature but processually linked. Both register, in their own ways. In addition, quantification registers the qualitative, in its own general way.”
Quantifizierung bedingt immer Generalisierung. Die Konversion des Qualitativen in das Quantitative bedeutet die Überführung des Singulären ins Generelle. Für Massumi sind die gerade die Finanzmärkte aber eine Ausnahme von der Regel, wobei die Registrierung des Qualitativen durch das Quantitative meist reduktiv reduziert auf eine einfache und simple Figur wird. Es gibt einen essenzielle Exzess der Differenzen, der Komplexität, der Prozesse und Ströme auf der Seite des Qualitativen, das niemals vom Quantitativen absorbiert werden kann.
Für Massumi stellen die Derivate in diesem Zusammenhang eine Besonderheit dar, insofern bei ihnen die Messungen nicht als eine separate Operation ausgeführt werden, welche die Informationen von Außen holen. Selbst die berühmte Black-Scholes Formel wird in ihrer Anwendung durch die Intuition ergänzt: Die Derivate sind in sich selbst eine »Computation« von Differenzialen, insofern sie Effekte des Vergleichs hervorbringen, das heißt, die Gegenwart durch Preisbewegungen mit der Zukunft verbinden, indem sie mehrere Assets in ein singuläres Instrument überführen. Diese Operationen intensivieren das Kapital, wobei die Preisbewegungen zwischen den Zeiten und den verschiedenen Formen des Kapitals beschleunigt werden. Dies lässt die Unterscheidung zwischen dem Mehrwert und dem Geld als allgemeinem Äquivalent, zwischen Assets und Schulden verschwimmen. Mit den Derivaten kreiert und bewertet das Kapital permanent seine eigne Performance. Oder, um es mit Ayache zu sagen, den Massumi an dieser Stelle zitiert, die einzige bewertende Theorie der Finanzmärkte ist der Markt selbst. Die Quantifizierung kollabiert schließlich in der Performanz des spekulativen Aktes, wobei die affektive Resonanz mit der Maschinerie der Quantifizierung konvergiert. Die Derivate sind ein spezieller Fall bei dem die Quantifizierung im kapitalistischen Feld einen Immanenzgrad besitzt, dies allerdings in einer asymptotischen Bewegung, die sich niemals selbst vollenden kann. Die Konsequenz, die sich aus der Maximierung des Mehrwerts an Strömen ergibt, läuft auf die Schließung des Gaps zwischen System und Prozess hinaus, wobei die Quantifizierung sich mit dem Singulären verbindet, was heute allerdings nur zu einer singulären Intensifikation des Kapitals führt. Massumi sieht hier allerdings die Möglichkeit aufscheinen, dass neue Methoden der Quantifizierung erfunden werden könnten, die sich näher am qualitativen Feld bewegen. Dazu müsste man intensive “Magnitudes” indexieren und die Komplexität der für das Feld konstitutiven Differenziale als solche in eine Kontinuität der Multiplizitäten und hin zu einer Produktion von relationalen Effekten überführen. Das Immanent-Werden des Quantitativem im qualitativen Feld will Massumi als eine postkapitalistische Inkarnation der »numbering numbers« verstanden wissen, welche Deleuze/Guattari den nomadischen Gesellschaften zuschreiben.
Derivate tendieren jetzt dazu immanent zu werden, können aber diese Bewegung niemals abschließen. Desto intensiver sie operieren, desto stärker scheinen sie sich in einer Zone der hohen Finance abzuschließen. Dabei sind die spekulativen Flows immer auf die Funktionen des Hedgens, der Arbitrage und der Securitization angewiesen, die wiederum auf die Realökonomie bezogen sind.