Chile: Der Verfassungskonvent könnte das Grab der Revolte werden

Ursprünglich veröffentlicht von La Jornada. Geschrieben von Raúl ZibechiÜbersetzt von Riot Turtle.

Die Parteien der ehemaligen Concertación [1], die Chile seit dem Ende der Diktatur regierte, haben ebenfalls schlecht abgeschnitten. Sie gewannen nur 25 Sitze unter der Parole der verfassungsgebenden Einheit, verglichen mit 37 Sitzen für die rechte Partei Vamos por Chile (Lasst uns für Chile gehen). Die Linke hat mit 28 Sitzen ein sehr gutes Ergebnis erzielt. Die indigenen Bevölkerungsgruppen erhielten 17 Sitze, die Unabhängigen gewannen nicht weniger als 48 Sitze und die Parität zwischen Männern und Frauen wurde erreicht.

Wir wissen, wer verloren hat, aber es ist nicht einfach herauszufinden, wer gewonnen hat. Erstens gab es eine hohe Wahlenthaltung, mit nur 42,5 Prozent der registrierten Wähler*innen, eine Zahl, die bei den Mapuche auf 21 Prozent fällt. Man kann argumentieren, dass die Pandemie die Wahl nicht begünstigt hat, aber die Wahrheit ist, dass die Wahlenthaltung schon in den letzten anderthalb Jahrzehnten zugenommen hat.

Das zweite Problem ist, dass der rechte Flügel der Pinochetist*innen zwar keine Vetomacht hat, aber in Kombination mit der ehemaligen Concertación, die im Wesentlichen aus Sozialist*innen und Christdemokrat*innen besteht, die das neoliberale, auf Profit ausgerichtete Modell unterstützt haben, haben sie eine Vetomacht. Zusammen haben sie mehr als ein Drittel der Stimmen, mit denen sie einen Wechsel verhindern können.

Drittens ging es bei der Revolte in Chile nicht um eine neue Verfassung, sondern darum, dem neoliberalen Modell ein Ende zu setzen. Sobald die Verhandlungen an der Spitze diese Möglichkeit eröffneten, mit dem Argument, dass mit der neuen Verfassung das Modell untergehen würde, begann die Mobilisierung zu bröckeln.

Obwohl es unter den 155 Mitglieder*innen des Verfassungskonvents eine starke Präsenz der Linken und der sozialen Bewegungen gibt, die einen beträchtlichen Teil der unabhängigen Wählerstimmen beisteuerten, liegt die Garantie für den Wandel nicht in den Repräsentant*innen, sondern in Organisierung und kollektiven Mobilisierungen.

Der vierte Punkt ist der Blick über den Tellerrand. In Lateinamerika gab es innerhalb weniger Jahre drei neue Verfassungen: in Kolumbien in 1991, in Ecuador in 2008 und in Bolivien in 2009. Einige von ihnen enthalten sehr interessante Passagen: die Natur als Subjekt der Rechte in der ecuadorianischen und die Neugründung des Staates in der bolivianischen.

In keinem der beiden Fälle wurden diese Bestrebungen erfüllt, obwohl in Bolivien und Ecuador die Rechten auf der Straße besiegt wurden und fünf Präsidenten durch bedeutende Aufstände gestürzt wurden.

Doch der auf Profit ausgerichtete Neoliberalismus beraubte die Menschen weiterhin ihrer gemeinsamen Güter, und die konkrete Situation der indigenen Völker und ‚untere‘ Schichten hat sich nur verschlechtert. Nicht wegen der Verfassungen, sondern wegen etwas Tieferem: der Demobilisierung von Gesellschaften und Bevölkerungen.

Zu glauben, dass der Neoliberalismus, der die Form ist, die der Kapitalismus in dieser Phase angenommen hat, durch neue Satzungen und Gesetze besiegt werden kann, die Rechte gegen die unterschiedlichsten Unterdrückungsverhältnisse einfordern, ist eine Illusion, die in Sackgassen führt. Es geht nicht um Ideologien, sondern um die Lesart der jüngsten Vergangenheit und der Situation, die wir überall auf der Welt erleben.

In Chile haben wir es nicht mit einer legitimen verfassungsgebenden Versammlung zu tun, sondern mit einem politischen Spiel, wie Gabriel Salazar betont. Dieses Spiel wurde von den Führern der Frente Amplio [2], der proklamierten neuen Linken, ins Leben gerufen, die einen Pakt mit der Rechten geschlossen haben, als Millionen auf den Straßen waren, und sie werden es wieder tun, an einem Ort, an dem sie völlig ungestraft mit Diskursen jonglieren können.

Die einzige Garantie, die wir, die Bevölkerung, haben, damit sie uns wenigstens respektieren, ist Organisation und Mobilisierung. In Chile gab es monatelang riesige Demonstrationen und es wurden mehr als 200 regionale Vollversammlungen gegründet. Die linke Parteien sagen, dass es nicht notwendig ist, auf die Straße zurückzukehren, und die Mehrheit der Vollversammlungen wurde durch das Setzen auf die Wahlurnen geschwächt, obwohl sie jetzt in ihre Regionen zurückkehren.

Wie werden die besten Artikel der neuen Verfassung, die es zweifellos geben wird, umgesetzt? Die Worte von Comandanta Amada bei der Eröffnung des zweiten Internationalen Treffens von Frauen im Kampf hallen nach: „Sie sagen, dass es jetzt mehr Gesetze gibt, die Frauen schützen. Aber sie ermorden uns weiterhin.“

Kein Gesetz wird die bewaffneten Männer (Carabineros und Militärs), den harten Kern des Patriarchats, daran hindern, weiterhin zu verprügeln, zu zerfleischen und zu morden. Der Mapuche Fernando Pairicán erkannte an, dass 80 Prozent der Mapuches, die nicht gewählt haben, dies zum Teil wegen der Stärke der autonomen Bewegung taten, die dazu aufrief, nicht zu wählen.

Die Hoffnung für ein neues Chile liegt immer noch im Widerstand der Mapuche und in den Netzwerken des Lebens, die in einigen wenigen regionalen Vollversammlungen überleben.

Fußnoten

[1]Die Concertación de Partidos por la Democracia (kurz auch nur Concertación; deutsch Koalition der Parteien für die Demokratie) war ein Bündnis von Mitte-links-Parteien in Chile, das von 1988 bis 2013 bestand. https://de.wikipedia.org/wiki/Concertaci%C3%B3n_de_Partidos_por_la_Democracia

[2] Die Breite Front (spanisch: Frente Amplio, FA) ist eine Anfang 2017 gegründete chilenische politische Koalition, die aus linken Parteien und Bewegungen besteht. https://en.wikipedia.org/wiki/Broad_Front_(Chile)

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