Chile, Tag 57

Demonstration am 57. Tag des Aufstandes in Chile. Eine Aktivistin, die an dem Tag dabei war, berichtet aus Santiago:

“Am 13.12., dem 57. Tag des Aufstands, waren wieder hunderttausende auf der Plaza de la Dignidad, dem Platz der Würde, wie die Plaza Italia / Baquedano inzwischen heißt (und unter diesem Namen auch schon auf Google zu finden ist!).  Die Schwaden, die im Video im Hintergrund zu sehen sind, sind Rauch und Tränengas. Auf der Seite des Platzes kämpft jeden Tag die “Primera Línea”, die Erste Reihe, unglaublich mutige Jugendliche, die damit dem Rest der Demonstrant*innen die Carabineros vom Hals halten. Diese Auseinandersetzung ist unglaublich hart. Hier ein Zusammenschnitt von Straßenkampfszenen. Ein kurzes Video (ebenfalls vom 13.12.): die Primera Línea tanzt zum Vals del obrero (Arbeiterwalzer) der Band SKA-P aus Madrid. Und ein Artikel auf deutsch zu den Verletzungen.

Interessanterweise gibt es hier keine “Gewaltdiskussion”. Diese Jugendlichen werden im Gegenteil als Helden gesehen. „Danke, mutige Jugend!“ hat ein älterer Mann auf sein Schild geschrieben. In jeder Rede der Kundgebung wurden die Kids gelobt und mit riesigem Applaus und Sprechchören gefeiert. Es gibt Unterstützungsbrigaden, die die Primera Línea mit Wasser und Essen versorgen, andere bergen und behandeln Verletzte (und werden dabei immer wieder selbst angegriffen). Das Kulturzentrum Alameda, das in der Konfliktzone “Zona 0” liegt, wird abends zur Sanistation umfunktioniert. Die Fotograf*innen, die die Primera Línea begleiten, werden ebenfalls gezielt angegriffen und ihre Ausrüstung zerstört.

Viele der Jugendlichen der Primera Línea kommen aus den staatlichen Heimen der Institution SENAME, haben eine Horrorkindheit mit Gewalt und Mißbrauch hinter sich und tatsächlich nichts zu verlieren. Hier beteiligen sich aber auch Student*innen (die am Ende ihres Studiums mit einem riesigen Schuldenberg dastehen, sofern sie nicht aus den ganz reichen Familien kommen), Arbeiter*innen (die zwar nicht streiken, aber nach Feierabend in der ersten Reihe dabei sind), Kids aus besser gestellten Familien (zu erkennen an Markenklamotten und besseren Schutzausrüstungen wie Gasmasken und Augenschutz) und sogar von einem Uni-Professor, der abends Steine schmeißen geht, wurde uns berichtet. “Lieber sterbe ich hier auf dem Platz als auf der Warteliste”, heißt es auf einem Plakat. 2018 starben in Chile 26000 Menschen, während sie auf einer Warteliste für Operationen und medizinische Behandlungen standen. Die unglaubliche Härte der Auseinandersetzung wirkt trotz allem nicht abschreckend, sondern ist im Gegenteil ein weiteres Motiv des Durchhaltens: So viele von uns haben mit dem Leben bezahlt, haben Augen verloren, sind verhaftet, gefoltert und vergewaltigt worden, und wir haben noch nichts erreicht – wir können gar nicht aufgeben.

Santiago ist komplett zugesprüht, manche Gegenden sehen aus wie eine OpenAir Galerie für Straßenkunst. Und es ist eine enorme Politisierung und Basisorganisierung im Gange. Auch hier haben sich, wie damals in Argentinien, sofort Versammlungen gebildet, mit sehr starker Abneigung gegen Hierarchien, Parteien und Führungsfiguren. Hier wird über die Forderung nach und den Weg zu einer neuen Verfassung diskutiert, aber auch über sämtliche anderen Bereiche wie Renten (bei der Versammlung, bei der wir waren, die größte Arbeitsgruppe) Arbeit, Bildung, Gesundheit. Was fordern wir, wie wollen wir leben, welche anderen Modelle gibt es? Versammlungen finden nicht nur in den Barrios im Zentrum, sondern auch in den Poblaciones, den ärmeren Vierteln am Stadtrand statt. Jüngere Aktivistinnen einer solchen Versammlung meinten, dass dieses Aufwachen Chiles ihr Leben komplett verändert hätte. Früher hätten alle gedacht und so getan, als seien sie Mittelschicht. Die finanziellen Probleme die sie hatten, die Mieten, die Medikamente und am Ende des Monats das Essen zu bezahlen, hätten alle für sich behalten. Nun würde auf der Versammlung offen darüber geredet, und alle fühlten sich nun als Arbeiterklasse. Es ginge bei dem Aufstand aber nicht nur um eine bessere Zukunft für ihre Kinder, sondern vor allem um Rache für das, was die Diktatur ihren Eltern und Großeltern angetan hat. Ihre Generation hätte eigentlich schon immer auf diesen Moment gewartet. Auf die Frage, ob dies eine Revolution sei, antworteten sie ohne zu zögern gemeinsam mit Ja!!! Trotz der Härte sind sie total glücklich über diese Entwicklungen, zwei haben ihre prekären Jobs geschmissen, um sich Vollzeit der Organisierung widmen zu können. Wie weit diese individuellen Arbeitsniederlegungen verbreitet sind, kann ich nicht beurteilen. Was dieser Revolution leider noch fehlt, sind breitere Streiks. Aber vielleicht gibt es mehr Arbeitsverweigerung, als in den Streikstatistiken auftaucht. Die wirtschaftlichen Schäden durch diese Revolte sind jedenfalls schon beträchtlich. Geschäfte und Betriebe sind wegen Plünderungen und Bränden geschlossen. In Santiago sind die Banken und edlen Geschäfte mit Metallplatten verkleidet, aber häufig trotzdem noch geöffnet. In der Hafenstadt Valparaiso sind Banken und Supermärkte geschlossen, die Geldautomaten funktionieren nicht mehr. Wer nicht auf nachbarschaftliche oder sonstige Tauschnetzwerke zurückgreifen kann, muss zum Einkaufen in den benachbarten Badeort Viña del Mar fahren.

Der „Platz der Würde“ in Santiago war am Anfang der Revolte jeden Abend voll von Demoonstrantt*innen. Inzwischen konzentrieren sich die großen Mobilisierungen auf dem Platz auf die Freitage, und es ist nicht immer so gigantisch wie am 13.12. Es finden aber jeden Tag irgendwelche Demonstrationen, Performances, Protestcamps undsoweiter statt. Es wird vermutet, dass über Weihnachten ein bisschen Sommerpause sein wird, dass es aber spätestens im März wieder los geht, auch wegen der Sanktionen, die viele Leute aufgrund ihrer Teilnahme an der Revolte erlitten oder zu erwarten haben, wie den Verlust von Arbeitsplätzen und Studienstipendien. Im März geht normalerweise der Betrieb an den Universitäten wieder los. Und am 8. März ist Frauentag.” (Alix Arnold)

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