Climax général contre climat social – Perspektiven nach dem Jahrestag der Gilets Jaunes

Nun, es gab nicht so viele Leute zum Jahrestag. Nicht wirklich viele. Wahrscheinlich weniger als wir erhofft haben. Die Polizei sprach von 28.000 in ganz Frankreich, aber wer glaubt noch ihren Aussagen? Hier, an diesem Samstag, war es nicht so sehr ihre Zahl, die zählt, sondern ihr Mut.

Wage es zu kämpfen, wage es zu gewinnen. Und man muss zugeben, dass die Gelben Westen, die seit einem Jahr unermüdlich aktiv sind, wieder einmal ihr Potenzial und ihre Einsatzfreude gezeigt haben.

Sie haben sogar Ideen für proletarische Hochburgen wie die SNCF (1) entwickelt, wo wildcat-Streiks und andere Sabotage-und Störpraktiken nun in das so genannte “Repertoire der kollektiven Aktionen” aufgenommen wurden, die über die üblichen gewerkschaftlichen Aktivitäten hinausgehen. Doch wir wissen, dass dies nicht ausreicht.

Versuche, die Stadtautobahn zu blockieren, Brandstiftungen, “wilde Demonstrationen” (2), Plünderungen, Raubzüge, Prügeleien, Zusammenstöße, Verstümmlungen, zerstreut werden, sich neu zusammen zu finden, Zerstörung, Ängste, Befürchtungen, Unruhe, Mut und Stärke.

Es gibt viele Geschichten und Erfahrungsberichte, Videos und Fotos. Wir wissen, was am Samstag passiert ist, es besteht keine Notwendigkeit für einen weiteren Bericht. Auch diejenigen, die nicht vor Ort waren, wissen es: Die Gelben Westen haben ihre Präsenz in der Welt bekräftigt. Wir haben unsere Präsenz in der Welt bekräftigt, in Verbundenheit mit den globalen Aufständen.

Ein Jahr. Ein Jahr, ohne einen einzigen Samstag zu verpassen, trotz des Versuchs uns zu vernichten.

Wir wissen es, aber es ist notwendig darauf zu bestehen: Es gab eine Welt vor den Gilets Jaunes und es wird eine (andere) danach geben. Nichts wird so sein wie bisher und wir freuen uns schon auf die nächsten Gespräche zu Weihnachten im Familienkreis. Nichts wird so sein wie früher, denn wir haben unsere kollektive Stärke zurückgewonnen, trotz aller Versuche uns zu isolieren.

Unsere Theorien sind jetzt sowohl erneuert als auch an die Verhältnisse angepasst. Es kam nicht aus dem Nichts, es hat einen langen Prozess gebraucht, aber die Dinge haben sich geändert: Wir sind nun geschult.

Deshalb besteht kein Grund, sich über die Einschränkung des Demonstrationsrechtes zu beklagen: Auch dessen sind wir uns bewusst, insbesondere seit dem 1. Mai, als jeder wahllos unter der Barbarei der Polizei gelitten hat.

Es ist vorbei. Die Beschwörung von “Verfassungsrechten” wird eintönig, wenn nicht erbärmlich. Uns interessiert diese Verfassung nicht, die wir nicht bewahren, sondern verbrennen wollen, um ihre Asche zu transformieren. Die Herausforderung besteht nun darin, sich von den Schlägen zu erholen, nicht zurückzukehren, um vernünftig und in Linie zu marschieren, sondern um unser Potenzial und unsere kollektive Macht zurückzugewinnen: Die Straße zu erobern, sie zu halten, sich ihnen entgegen zu stellen.

Wenn man die Polizisten der motorisierten Geschwader sieht, kann man nicht umhin, eine Parallele zur berittenen Polizei und ihren ‘Drachen’ des 19. Jahrhunderts zu ziehen. Selbst Christophe Barbier ist nicht weitsichtig genug: Macron ist bereits der neue Thiers (3) an der Macht, dessen Präfekten die Möglichkeit haben zu bestimmen, auf welcher Seite sie stehen.

Wir wissen auch das, aber es ist notwendig, es zu bekräftigen: Der Aufstand der gelben Westen ist ein Klassenaufstand gegen eine andere Klasse. An diesem Samstag wurde der traditionelle Slogan “Jeder hasst die Polizei” – der seit 2016 ununterbrochen am häufigsten verwendet und im vergangenen Jahr massenhaft aufgegriffen wurde – manchmal durch ein ” Jeder hasst die Bourgeoisie ” ersetzt, was eindeutig von Bedeutung ist. Es ist aufgrund der Prozesses der Radikalisierung der Exekutive, dass die Situation, in der wir uns befinden, konkretisiert wird.

Die Radikalisierung ist da, wenn es den Redaktionen der Medien möglich ist, die “pro-demokratischen Demonstranten” Hongkongs zu loben und zu unterstützen, die Polizeigewalt DORT zu beklagen und gleichzeitig “Hetzern” Gehör zu verschaffen, die sagen, dass der Mob HIER mit scharfer Munition erschossen werden sollte, insbesondere wenn er schwarz oder arabisch ist.

Unter diesen Bedingungen müssen wir erkennen, dass wir (noch) ziemlich ohnmächtig sind: Philippe Martinez, der Mann, der sich nicht einmal scheut, sich selbst ” den Chef der CGT ” zu nennen, sagte Macron, dass ein Streik am 5. Dezember (4) vermieden werden könne. Mit einem Wort, sie versuchen, ein Abkommen vorzuschlagen, um zu versuchen, eine Form der Legitimität als Verhandlungsführer für sich zu bewahren. Der ‘Gewerkschaftsbewegung im französischen Stil’, hin- und hergerissen zwischen Kampf und Klassenkompromiss, ist die Luft ausgegangen, ebenso wie den sogenannten linksradikalen Organisationen: Wie können wir ernsthaft daran denken, einen „hypothetischen“ Sieg zu erringen, indem wir uns auf das Verfassungsrecht stützen oder sogar eine Neuausrichtung der “Polizeiarbeit” fordern?

Wir leben in einer Zeit der Neuformierung, in der sich die fortschrittlichsten Akteure unseres Lagers sowohl gegen die verräterischen politischen und gewerkschaftlichen Führer als auch den bürgerlichen Staat in seinen verschiedenen Formen stellen, als auch für die Erschaffung anderer Horizonte unseres Kampfes einsetzen. Diese Zeit der Neuformierung spielt sich nicht nur innerhalb der französischen Grenzen ab, sondern auch auf internationaler Ebene. Diese Gelegenheit gilt es zu nutzen.

Bereits der 5. Dezember erscheint als das zentrale Datum, an dem die kämpferischsten Sektoren des Proletariats (insbesondere von RATP (5), SNCF und dem gesamten Verkehrssektor) im Mittelpunkt stehen werden. Einerseits geschwächt durch die wiederholten Niederlagen (loi travail, Bahnreform usw.), aber anderseits gestärkt durch die Demonstration der Widerstandsfähigkeit der Gelben Westen, werden diese Sektoren eine Vorreiterrolle spielen, um in einen harten, entschlossenen, frontal angreifenden Kampf zu ziehen.

Noch weiter gedacht, können wir aufgrund der Auswirkungen der „Rentenreform“ für die gesamte Bevölkerung mit der Durchführung von Massendemonstration rechnen. Politik ist jedoch nicht nur eine Frage der Hoffnung oder des Wettgeschäfts: Es gibt objektive Fakten, die ernsthaft berücksichtigt werden müssen, insbesondere der Zusammenhang zwischen polizeilicher und gerichtlicher Repression und einem Rückgang der Teilnehmerzahlen an den Demonstrationen. Wir können mit Freude sagen, dass die Erhebung der Gelben Westen noch nicht vorbei ist, aber diese Schwächung zu ignorieren oder zu unterschätzen, wäre sehr problematisch. Die Unmöglichkeit, auch aufgrund von Verboten, des Auftretens von Polizeigewalt und des damit verbundenen physischen und psychischen Traumas, zu demonstrieren, darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden.

Daher scheinen zwei große Aufgaben auf der Tagesordnung zu stehen, die zu berücksichtigen sind, um ein Machtgleichgewicht aufzubauen, das diesen Namen verdient. An diesem Tag so viele wie möglich zu mobilisieren, was eine treibende Kraft für die Zukunft sein könnte, aber auch um das Recht auf Demonstration zu bekräftigen und wiederzuerlangen, indem man es sich wieder nimmt und das heißt hier konkret durch eine sehr große Demonstration. Und hervorzuheben, dass die Polizei nicht eingreift, weil es Randalierer gibt, sondern weil sie die Anweisung hat, die Bewegungen des sozialen Protests zu brechen, unabhängig von den Aktionsformen der Demonstranten.

Dazu ist es notwendig, mit den „aufrichtigen Rändern“ der etablierten Organisationen in Dialog treten zu können, um die absolute Notwendigkeit der Selbstverteidigung bei Demonstrationen hervorzuheben – und insbesondere im „cortège de tête“ , der zweifellos wichtig sein wird, um die Demonstration selbst zu ermöglichen. Selbstverteidigung bedeutet hier Vorbereitung, Organisation, Diskussionen, Ausrüstung. Vielleicht ist es auch sinnvoll, offensive Praktiken hier in genau dieser Reihenfolge zu diskutieren.

Wir hören viel über das “soziale Klima”, in dem wir leben, aber wir vergessen eines: Die Gelben Westen stellten nicht nur eine soziale Frage, sie stellten eine politische Frage. Wir müssen daher über die einfache soziale Frage hinausgehen, um weiter zu schauen und politisch zu handeln. Es liegt an uns, dieses Thema ernsthaft und zentral anzugehen, indem wir Vorschläge für eine echte Alternative unterbreiten: Einen allgemeinen Aufstand gegen das „soziale Klima“.

(1) Staatliche Eisenbahngesellschaft, hier ist der Organisierungsgrad der Beschäftigten besonders hoch, die Belegschaft gilt als sehr streikfreudig, weshalb Macrons „Reformen“ u.a. auch auf diese „Bastion des Proletariats“ zielen

(2) Die „manifs sauvages“. Sich treffen und einfach losziehen. Ohne Anmeldung. Eine früher auch in Deutschland sehr übliche Praxis der Demonstration

(3) Louis Adolphe Thiers war von 1871 bis 1873 der erste Staatspräsident der Dritten Republik, wandte sich im Laufe der Zeit massiv gegen die Linke https://de.wikipedia.org/wiki/Adolphe_Thiers

(4) Für den 5. Dezember sind landesweite Arbeitsniederlegungen geplant, es gibt (wie so oft) Stimmen, die einen (unbefristeten) „Generalstreik“ fordern

(5) Verkehrsbetriebe des Großraums Paris

(6) Frontblock der Demo, wird seit 2016 von den militanteren Teilen der Demo gebildet, häufig mit Selbstschutzausrüstung unterwegs, greift auch gerne selber von sich aus die Bullen an oder schmeißt Scheiben von Banken, etc. ein

Das Original dieses Textes erschien am 21.09.2019 auf ‘acta zone’ https://acta.zone/climax-general-contre-climat-social/, die Übersetzung erfolgte sinngemäß durch Resi Lucetti und mich.

Sebastian Lotzer, 22.11.2019

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