#COVID19: Die neueste Nullnummer des Staates und seiner unzählbaren Adepten

In den vergangenen Tagen, Wochen und Monaten sind mehrere Texte erschienen, die sich mit der Thematik auseinandersetzen und vieles wurde bereits gesagt. Dennoch halten wir es für notwendig, gerade jetzt, unter den widrigsten Bedingungen, das staatliche Narrativ der autoritären Pandemie-Bekämpfung, dem zahlreiche linke (auch linksradikale) Gruppen brav Gefolgschaft leisten, anzugreifen. Weder wollen wir die Gefahr der Pandemie relativieren, noch wollen wir uns mit Querdenker*innen gemein machen. Es ist schon skandalös genug, dass sich jeder Versuch, der es wagt das staatliche Narrativ aus linker Perspektive in Frage zu stellen, erneut diesen absurden Vorwürfen stellen muss. Wir sind keine Virolog*innen, Epidemiolog*innen oder Gesundheitsexpert*innen und wissen letztlich auch nicht mehr als die armen Teufel, die hier und da noch klandestin in kleiner Runde biertrinkend vor den Kiosken stehen und sich wortlos einig darüber sind, dass wirklich fast alles den Bach runter geht. Wir arbeiten in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Refugee- und Obdachlosenunterkünften, in Schulen, Lagern und Fabriken (oder im besten Fall gar nicht) und teilen als Freund*innen eine gemeinsame Einschätzung der Situation, vor allem aber Wut auf alle, die beständig reden und dann das machen, was man sowieso schon wusste und für sich in Anspruch nahm.

Die Euphorie, mit der linke und linksradikale Gruppen jeglicher Coleur kopflos auf den flotten ZeroCovid-Zug aufspringen, lässt uns mehr als irritiert zurück. Zutiefst verstörend ist nicht die Tatsache, dass sich ein Großteil der deutschen Linken einer Null-Infektionen-Strategie/Politik unterwirft, sondern vielmehr die inhärente Realitätsverleugnung, die mit dieser einhergeht. Anscheinend ohne jede Vorstellung davon, welche totalitären Träume hier bedient werden und realpolitischen wie sozial verheerenden Auswirkungen eine derartige Politik beinhalten würde, vor allem für die Lebensrealität sozial Benachteiligter, der nicht „angepassten“, „integrierbaren“ oder „widerständigen“ Teile der Gesellschaft (nicht weiß, studiert, priviligiert), wird mittels sozialdemokratischer Forderungen ein Staat angerufen, der schon seit Jahren immer weiter nach rechts rückt und seit fast einem Jahr nur eines unter Beweis stellt: Seine absolute Unfähigkeit im Umgang mit der Pandemie sowie seinen reellen Status: den eines gescheiterten Staates, der in der Periode einer unerhofft wiedergefundenen Raison d’Être einzig das Bild der für ihn wirkenden zu verbessern weiß. Den Regierenden Unfähigkeit zu unterstellen wäre schmeichelhaft. Deshalb lehnen wir auch die immer wieder eingebrachte Totschlaglogik der „Dringlichkeit“ oder Notlage ab, in der „wir“ uns befinden und die uns dazu verdammen soll, jetzt lieber nicht am Status Quo zu rütteln und sich besser in die Arme jener zu werfen, denen alles Soziale und somit das menschliche Leben scheiß egal ist. Aber erfahrungsgemäß war der Staat nie der beste Ansprechpartner für emanzipatorische Bewegungen. Vor allem nicht in Krisensituationen und ihren Disziplinierungsfantasien:

„Dieser geschlossene, parzellierte, lückenlos überwachte Raum, innerhalb dessen die Individuen in feste Plätze eingespannt sind, die geringsten Bewegungen kontrolliert und sämtliche Ereignisse registriert werden, eine ununterbrochene Schreibarbeit das Zentrum mit der Peripherie verbindet, die Gewalt ohne Teilung in einer bruchlosen Hierarchie ausgeübt wird, jedes Individuum ständig erfasst, geprüft und unter die Lebenden, die Kranken und die Toten aufgeteilt wird — dies ist das kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage.“(1)

Einer Zero-Covid- oder Null-Infektionen-Politik, wie sie u.a. in autoritären Staaten wie China angewendet wird, darf gewiss unterstellt werden, dass für ihre konsequente Umsetzung eine Architektur der sozialen Kontrolle und Überwachung in einer Dimension geschaffen werden muss, die auch die letzten demokratischen Gepflogenheiten zwangsläufig beiseite räumen wird. Selbst dann, wenn es sich bei der großen „Null“(-nummer) nur um eine Zielsetzung handelt. Im Klartext: Wir reden hier über Grenzschließungen, die Ausweitung von Tracking und Tracing-Technologien, biometrische Authentifizierungssysteme, Quarantäne-Einrichtungen zur Isolierung Infizierter, grüne und rote Zonen, strikte Mobilitätskontrollen, „Corona-Knäste“, ausgedehnte Sanktionsmechanismen und vieles mehr. Die privatwirtschaftlichen Drehkreuze, die auf dem Fuße folgen werden, sind für diese Diskussion nicht relevant, genauso wie wir es nicht für erforderlich halten die repressive Natur des (Polizei-)Staates genauer zu erläutern. Das alles soll selbstverständlich unter der Miteinbeziehung der „Community“ durchgesetzt werden, so der fromme Wunsch der ZeroCovid-Initiatoren aus Großbritannien.(2) Einige Lösungsansätze dürften den meisten schon bekannt vorkommen: Es werden die gleichen sein, mit denen die „Wohlstandsinsel“ EU auf Flucht- und Migrationsbewegungen an ihren Außengrenzen antwortet. Aus- und Einsperrung, Selektion und Sanktionierung. Ganz nebenbei: Jede(r) der/die in diesem Zusammenhang über Grenzschließungen sinniert, sollte sich dann auch endlich eingestehen, dass die Kampagne „Leave no one behind“ spätestens ab sofort in die Winterpause geht. Die Frage, die überdies unweigerlich, aber Milieu übergreifend unbeachtet im Raum steht: Wer wird all diejenigen ein- und aussperren, verwalten, überwachen, begünstigen und bestrafen, die zu den widerständigen, gefährlichen, ausgestoßenen, unangepassten, also „unkontrollierbaren“ Teilen der Gesellschaft zählen und wer wird die Restgesellschaft in Gesunde, Infizierte und Tote aufteilen? Eine rhetorische Frage, natürlich. Wir kennen die Antwort.

Neu allerdings ist die Betonung auf die Herstellung eines gesellschaftlichen Konsens, der in der englischen Variante „EndCoronaVirus“ besonders hervorgehoben wird. Ohne die Einbeziehung der Zivilbevölkerung, die diesen dystopischen Traum der Regierenden abnicken soll, geht der Plan leider nicht ad hoc auf. Mit dem „Abnicken“ war es dann aber auch schon in Sachen „demokratischer Diskurs“. Einige sind sogar der Meinung, gerade das Gegenteil in dem Aufruf zu entdecken: Die zauberhafte Wiederkehr der bürgerlichen Sozialdemokratie mit starken Sozialsystemen, sozialer Gerechtigkeit und „direktdemokratischen Elementen“ als Kirsche obendrauf. Oder noch schlimmer: Die Morgenröte der sozialistischen Revolution. Das haben die Ideengeber der ZeroCovid-Strategie und ihre „Ehrenmänner“(3), wie der griechische Ministerpräsident und Saubermann Mitsotakis, richtig erkannt. Ein autoritäres wie totalitäres Projekt von solcher Größenordnung ist ohne einen „runden Tisch“, bestückt mit allen Beteiligten (wir sitzen ja alle im selben Boot), nicht zu verwirklichen. Und einige Linke freuen sich bereits auf „Nachbarschaftskomitees“, kein Witz. Doch genau aus diesem Fallstrick der „Community-Efforts“ ergibt sich eine potenzielle Anschlussfähigkeit für eine Linke, die sich aufgrund ihrer Handlungsunfähigkeit oder Fantasielosigkeit über Monate hinweg damit begnügte, auf dem Sofa zu hocken und ihre Apathie obendrein als Solidarität zu verkaufen. #staythefhome. Das alles auf die Gefahr hin, letztlich als Scharnierfunktion im Ausnahmezustand zwischen autoritärem Staat und der eigenen Gemeinschaft zu enden. Aber nun. Endlich. Ein Aufruf zum „solidarischen“ Total-Shutdown! #zerocovid, warum nicht?! Und warum nicht auch gleich #zeroemissionen oder #zeroklimawandel? Die Ökologie wird nämlich den nächsten Rahmen für den kommenden und permanenten Ausnahmezustand stellen. Das pfeifen mittlerweile sogar die Lauterbachs dieser Welt von den Dächern.(4) Bei dem Grad gesellschaftlicher Domestizierung sollte die große Mobilisierung im Namen der zu rettenden Umwelt aber ein Selbstläufer werden. Die Reichen zur Kasse bitten! Gern, nur fordert das neben dem Papst auch Sozialdemokrat Olaf Scholz. Vielleicht bei der nächsten Wahl. Vielleicht werden die Großkapitalisten in einem Akt der Nächstenliebe ihre astronomischen Vermögenszuwächse, die sie im Zuge einer unvergleichbaren Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums ‚von unten nach oben‘ seit Beginn pandemischen Krise angehäuft haben, sozialisieren? #werhatdergibt. Wir müssen Bezos & Co. nur den Klingelbeutel unter die Nase halten. Endlich bei Arbeitgebern und Unternehmen hart durchgreifen! Aus dem Recht auf menschenwürdigere, sichere und bessere Arbeitsbedingungen und Entlohnung, sprich Arbeitskampf, ist ein Recht auf…(Trommelwirbel)… Home-Office geworden. Doch nicht einmal das kann den Arbeitgebern abgetrotzt werden. Spoiler: Am Ende ist es dem kybernetischen Unternehmen einerlei, wo einer ihrer digitalen Nomaden funktioniert, am Strand, im Co-Working-Space bei McDonalds oder in seinem Wohnzimmer. „Solange das W-LAN funktioniert.“(5) Die Missionare der „Arbeit 4.0“, der sogenannten „vierten industriellen Revolution“ werden uns überraschen, keine Sorge. Auch nicht um die humanitäre Katastrophe, die sich zwischen Lipa und Lesbos tagtäglich wiederholt. Die ist gerade mal drei Wörter wert: „Geflüchtete dezentral unterbringen“ Wir sehen schon die weißhäutigen Hobby-Sozialingenieure in heimischer Quarantäne sitzen und schwadronieren, wie die Massen von zu verwaltenden Menschen hierzulande denn hin- und herzuschieben und ein- und auszusperren sind. „Sammelunterkünfte auflösen“. Die Obdachlosen sterben wie die Fliegen auf der Straße. Aus deutschen Sammelunterkünften fliegen sie raus, weil sie aus Rumänien, Bulgarien, Äthiopien oder Guinea kommen und ihnen der schlichtweg Anspruch auf ein „Hotel auf Staatskosten“ (Behördensprech) fehlt. Im Niedriglohnsektor herzlich willkommen, aber hör‘ auf von „Bleiberecht“ zu schwafeln! Egal, ob in Sachen Impfstoff oder Kara Tepe: Germany first! Wer wird unterbringen, auflösen, einrichten, abschieben und verwalten? Auch diese Antwort kennen wir.

Und natürlich soll die Idee zur Etablierung „gemeinschaftlicher Einrichtungen“, um Betreuungs- und Sorgearbeit innerhalb der „Community“ leisten zu können, nicht zu kurz kommen. Die ZeroCovid-Strategen dazu: „Depending on the size of the community, larger sub-groups of say 5-10 buddy pods can form a „BuddyGroup“ that will be available to one another as additionalresource to brainstorm and work together to solve problems bigger than one Buddy Pod can handle.“(6) Das klingt doch schön. „Buddy Pods“ sollen es richten. Und so schließt sich der Kreis. Fesche Leitfäden zu „Decentralized organizing“ für die Anpassungsfähigen und Aufgeklärten, Abstrafung und Erziehungslager für das zurückgelassene Subproletariat. Kurz und knapp: Wir dürfen das Elend, das die zukünftige Welt für uns bereit hält, selbst verwalten. Ein Graffiti aus Oaxaca/Mexico mahnte bereits 2006: „Sie wollen uns zum Regieren zwingen, auf diese Provokation werden wir uns nicht einlassen.“(7)

Zu guter Letzt sollen dem geforderten Ausbau des Gesundheitssystems noch einige Worte gewidmet werden. Der Pflegenotstand, die Unterfinanzierung sowie Überlastung der Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und Altersheime sind das Ergebnis einer seit Jahrzehnten andauernden neoliberalen Umstrukturierung, die mit der Agenda 2010 unter Schröder volle Fahrt aufnahm und in immer wiederkehrenden marktradikalen Forderungen zur Effizienzsteigerung gipfelt. Der Think Tank „Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina“, aktuell gefragter Berater der Bundesregierung, forderte zuletzt 2016 in einem lancierten Papier zur Schließung von 1300 Kliniken auf.(8) Deutschlandweit gibt es ungefähr 1600 Kliniken. Der Aufruf kursierte in abgewandelter Form sogar noch 2019, kurz vor Beginn der Pandemie. Ohne große argumentative Anstrengungen lässt sich offensichtlich konstatieren, dass die Regierung in den vergangenen Monaten absolut nichts unternahm, was einem Ausbau der Gesundheitssysteme gleich käme. Im Gegenteil, es kann aufgrund zahlreicher Krankenhausmitteilungen davon ausgegangen werden, dass im Laufe der Pandemie sogar weiter an einem Abbau der Kapazitäten gearbeitet wird. In vielen Krankenhäusern wurden Stationen geschlossen und teilweise bis zu 35% der Patienten entlassen, um Kapazitäten für die Intensivpflege der an Covid19-Infizierten freizuhalten. Kein Ausbau, sondern eine Verschiebung von (u.a. personellen) Ressourcen, zulasten anderer (vorrangig pflegeintensiver) Patienten. Hier werden Menschenleben verspielt und nicht in geheimen Zockerrunden in den Shisha-Bars. Für Menschen, die in diesen Bereichen beschäftigt sind, ohnehin ein alter Hut. Zu Beginn der Pandemie, als das medizinische Personal großzügig mit der Balkon-Solidarität, also von Balkonien aus mit Applaus in der Werbepause beglückt wurde, war in den Straßen der Ruf einer Krankenpflegerin zu hören, die sich gerade auf dem Heimweg befand. Ihre wütende Antwort: „Spart euch das dämliche Geklatsche!“. Die plötzliche Empörung über den katastrophalen Zustand des Gesundheitssystems (und hierzulande sind die Bedingungen verhältnismäßig rosig) ist verlogen und kommt definitiv zu spät. Der Großteil der Menschen, die hierzulande an Covid19 sterben, wartet in den heruntergewirtschafteten Altersheimen in sozialer Isolation auf den einsamen Tod. Wie viele hochbetagte und schwer erkrankte Menschen müssen sich tatsächlich der Frage stellen, ob es dieser Virus sein wird oder vielleicht das soziale Koma, das ihnen das Leben aushaucht? Doch wer interessierte sich jemals ernsthaft dafür, was das Leben und Sterben in diesen Heimen bedeutet?

Die Verantwortlichen sind im politischen Betrieb zu suchen und Anliegen einer kritischen Linken hätte es bereits im März 2020 sein müssen, die Kämpfe im Gesundheitssektor zu unterstützen, auszuweiten und radikale Forderungen zu stellen, die zweifellos große Zustimmung erfahren hätten. Stattdessen arbeitet mensch sich lieber an „Maskenmuffeln“, Jugendlichen oder den Querdenkern ab. Das geht dann so weit, dass sich linke Aktivisten zu MNS-Experten mausern und im Netz reihenweise Bilder von „Fake-Masken“ tragenden Personen veröffentlichen, natürlich unter Verlinkung @Polizei. Nicht falsch verstehen, über die nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Elemente innerhalb der Querdenker-Bewegung sind wir uns durchaus bewusst. Dieser „Bewegung“ muss sich in den Weg gestellt werden. Aber wäre es nicht auch folgerichtig, selbst eine staats- und kapitalismuskritische Erzählung vorzubringen, die einer völlig realitätsfremden und verwirrten Ansammlung wie „Querdenken“ sofort die Luft abschnüren würde? In der Tat: „Die eigene Unfähigkeit ist die neue Stärke der Rechten.“(9) Es ist natürlich bequemer sich hinter dem staatlichen Narrativ zu verstecken.Obwohl mittlerweile auch der Letzte begriffen haben sollte, dass die Katastrophe nicht Covid19 heißt, sondern kapitalistischer Normalbetriebund staatliches Krisenmanagement in einem Kapitalismus, der versucht sich mittels einer zunehmend autoritär werdenden Absicherung, vor allem polizeilich und militärisch, vor dem Schlimmsten zu bewahren. Den Aufständen. Die bereits da sind. Und denjenigen, die wie ein Flächenbrand auf diese Krise folgen werden. Nach der Krise ist bekanntermaßen vor der Krise. Auch wenn wir keine Aneinanderreihung von Krisen sehen, sondern nur ein einziges großes Debakel.

„Jetzt liegt es an uns, diese spontane Organisation zu vertiefen und zu stärken, damit wir gemeinsam etwas finden, das noch schrecklicher und mächtiger ist als das, was wir letzte Nacht gesehen haben.“(10)

Nun, für die Freunde und Freundinnen der Leitfäden, der konstruktivere Teil dieses Beitrags.

Es gab von Beginn der Pandemie an ausreichend Gelegenheiten (und die gibt es immer noch) sich als (radikale) Linke an gesellschaftlichen Konflikten, wie auch an Arbeitskämpfen zu beteiligen und in den verschiedensten Lebensbereichen zu intervenieren. Die Mahnwachen und Kundgebungen der u.a. in Krankenhäusern Angestellten zählen noch immer nicht mehr als eine Handvoll solidarischer Menschen. In Athen versorgt Rouvikonas, ein anarchistisches Kollektiv, Kindergärten, Obdachlose und bedürftige Familien mit Mitteln des täglichen Bedarfs und stattet u.a. korrupten Firmenchefs und Ärzten, die sich an der Pandemie bereichern, Hausbesuche ab. Erinnert sich eigentlich noch jemand an die Hamburger „Superhelden“, die 2006 gemeinschaftlich Feinkostläden überfielen und die Beute an sozial Schwache verschenkten? Die nimmersatten Barbaren in Gelb, die Gilets Jaunes kombinieren ihren antikapitalistischen Systemkampf mit den Kämpfen im Gesundheitssektor. In Köln besetzen und beleben Obdachlose ein Haus in Selbstverwaltung zu einem strategisch günstigen Zeitpunkt. Zum Thema „Sammelunterkünfte auflösen“. In einem x-beliebigen Kuhkaff solidarisieren sich migrantische Jugendliche und vertreiben die Bullen, weil sie genug von der staatlichen Repressionsmaschine haben. In Slowenien sind es linke Kräfte, die einer rechtsextremen Regierung die Stirn bieten und ihrer autoritären Pandemie- und Aufstandsbekämpfung ein Bein stellen. Es sind die Streikenden bei Amazon, die eine kämpferische Solidaritätsbekundung begrüßen würden, auch wenn dabei die verdammte Wellblech-Halle in Flammen aufgehen sollte. In Frankreich sind es landesweit tausende Schüler*innen, die ein angemessenes Hygienekonzept einfordern, den Schulbetrieb hierfür lahmlegen und sich Kämpfen mit den Bullen stellen müssen. Da die nigerianische Regierung ihrer Bevölkerung Schutzausrüstung und Lebensmittel vorenthielt, plünderten hunderte von Protestierenden einfach die örtlichen Lagerhäuser. In Portland wird im Dezember 2020 die Zwangsräumung einer Familie verhindert und anschließend einfach mal ein ganzer Straßenzug besetzt und gemeinschaftlich umgestaltet. Mit Maske und Abstand. Zu den Bullen. Es wäre uns ein Vergnügen, die nächsten Seiten mit Beispielen wie diesen zu füllen. Das alles wird die Pandemie nicht beenden. Ebensowenig wie die sich hauptberuflich ihre Öffentlichkeit schaffenden Gesundheitsminister und den in dieser nur anfänglich nebenberuflich ihre Expertise anpreisenden Wissenschaftler*innen. Und keine ZeroCovid-Strategie, die am liebsten eine ganze Welt unter Quarantäne stellen will, ohne die damit verbundene autoritäre Transformation ganzer Gesellschaften voraussehen zu wollen.

Wer den Staat für seine Untätigkeit oder Unfähigkeit an den Pranger stellen möchte, hätte zu jeder Zeit folgende Fragen in den Diskurs bringen können: Warum waren Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen über Monate hinweg mit Schutzausrüstung unterversorgt? (Die Angestellen in diesen Bereichen stellen immerhin elf Prozent aller Infizierten.) Wo waren die massenhaften und koordinierten Tests der Heimbewohner*innen und des medizinischen Personals zu Beginn der Pandemie? Wo war die groß angelegte Kampagne für den Stellenausbau im Gesundheitswesen? Warum müssen sich Krankenpfleger*innen krank zur Arbeit schleppen? Warum lagen die Schnelltests und Masken nicht von Beginn an kostenlos in jedem verdammten Briefkasten? Wo bleiben die Millionen, die nun in den Gesundheitssektor gepumpt werden? Nun ja, diese Fragen langweilen uns. Stellen wir besser andere Forderungen:

Für eine linke Bewegung, die sich aus dem Stockholm-Syndrom befreit und eigene, emanzipatorische und kämpferische Ansätze entwickelt. Für eine exponentielle Vervielfältigung der Aufstände.

Den Kommunismus leben, die Anarchie verbreiten.

Fußnoten:

Jacek Rozpalać Ogień

(1) Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 15. Auflage 2015, S.253.

(2) https://de.endcoronavirus.org/all-guidelines

(3) https://de.endcoronavirus.org/hall-of-fame

(4) https://verfassungsblog.de/corona-und-klima-krise-als-chance/ oder https://www.welt.de/politik/deutschland/article223275012/Kampf-gegen-Klimawandel-Lauterbach-wegen-Coronazeit-pessimistisch.html

(5) https://www.personio.de/hr-lexikon/arbeit-4-0/

(6) https://static1.squarespace.com/static/5b68a4e4a2772c2a206180a1/t/5e778f76683f0c72e524f1df/1584893816375/CommunitySupport.pdf

(7) https://wortstreit.noblogs.org/files/2015/11/an-unsere-freunde.pdf S.39.

(8) https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/medizin-wissenschaftler-halten-1300-kliniken-fuer-ueberfluessig-1.3221646

(9) https://schwarzerpfeil.de/2020/11/27/antiautoritaere-resignation-die-eigene-unfaehigkeit-ist-die-neue-staerke-der-rechten/

(10) https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2020/08/24/how-it-might-should-be-done/

taken from here

Foto: Sylvia John

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