Das Ende der Dialektik

Es lässt sich in der Philosophie ein kontinuierliches Beharren auf der Illusion feststellen, das Problem des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis in den Begriffen einer originären Disjunktion und einer möglichen Synthesis denken zu können (die differenziellen Positionen bleiben erhalten, werden aber ständig beide durchlaufen oder synthetisiert). Das monistisch-plurale Denken eines Laruelle hingegen – Denken nicht des Einen, sondern im-Einen – will das scheinbar gegensätzliche Paar Theorie und Praxis gerade nicht länger mit den Begriffen der Disjunktion und der Synthesis konfigurieren, sondern durch die axiomatische Forderung ihrer Identität in der letzten Instanz neu konstruieren. Theorie und Praxis sind in einem Milieu der Interferenz superponiert, einem Milieu, das durch die algebraische Eigenschaft der Idempotenz möglich wird, einer spezifischen Fusion der Terme. Das Problem der Philosophie liegt für Laruelle einfach darin, dass sie auf einer ziemlich hinterhältigen Nicht-Koinzidenz von Theorie und Praxis besteht. (Gangle 2014: 45/Laruelle 2013a: 115) Die Nicht-Philosophie versucht diese Aporie zu vermeiden, aber nicht etwa mittels einer vorschnellen Aktion der Synthetisierung der performativen und konstativen bzw. deskriptiven Aspekte des praktischen Diskurses, sondern durch die radikale Aussetzung der Synthese, um selbst ein spezifisch axiomatisches Verfahren der Begriffsdefinition einzuleiten, welches die eigenen praktischen Methoden und die ihr folgenden syntaktischen Operatoren definiert: Determination-in-der-letzten-Instanz (DLI), Sehen-in-Einem, Dualysis, Klonen und das nicht-philosophisch Generische. Die Rigorosität des nicht-philosophischen Denkens der Immanenz des Einen dient der Erschaffung eines Diskurses, der hin zum »Oraxiom« führen soll, bei dem die philosophische Unterscheidung zwischen den theoretischen und praktischen Aspekten des Denkens, zwischen den performativen und den konstativen Funktionen der Sprache nicht länger operativ ist.2 (Laruelle 2012: 51f.)

Laruelle unterscheidet radikal zwischen dem griechischem Theoretizismus der Philosophie und der nicht-philosophischen Kraft der Theorie, die eher einem ungelernten Wissen oder dem Sehen-in-Einem entspricht. (Laruelle 2013e: 57) An die Stelle der suchterzeugenden Agonistik der Philosophie, die von ihrer Agonie oft genug kaum zu unterscheiden ist, tritt eine spezielle theoretische Praxis, die für Laruelle die der unilateralen Dualität ist. Die nicht-philosophische Theorie und Praxis werden sui generis in-Einem gedacht, oder als identisch in der letzten Instanz (das heißt unter dem Aspekt, dass sie auf das Reale bezogen sind). Es ist, wie wir noch sehen werden, Laruelles spezieller Gebrauch der axiomatischen Methode, der mit der philosophischen Logik des Tauschs, der Reversibilität und der Zirkularität zwischen Begriff und Realität brechen soll.3 Es wären bei Laruelle daher zunächst solch scheinbar obskuren Axiome wie in-Einem, in-der-letzten-Instanz, in-der-letzten-Identität, -ohne-, das Gelebte-ohne-Leben zu klären. Diese Axiome bzw. syntaktischen Operatoren nennt Laruelle auch axiomatisierte Abstraktionen, oder anders gesagt, sie stellen essenzielle Elemente der generellen Formalisierung von ersten Namen dar.

Kommen wir aber zunächst noch einmal auf das zurück, was Laruelle »das Prinzip der suffizienten Philosophie« nennt, das generelle Zusammentreffen und die Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis, die endlos die Suffizienz der Philosophie garantiert, sodass sie sich immer wieder aufs Neue gesättigt artikulieren kann, indem sie sagt, was sie tut, wenn sie sagt, was sie sagt. (Vgl. zur folgenden Darstellung: Gangle 2014: 48f.)

In der mathematischen Kategorienlehre (Metatheorie der Struktur und ihrer Relationen und Konstellationen) und den Figuren des Pfeils und der Abbildung lassen sich erste Anhaltspunkte für die Darstellung der philosophischen Relation »Praxis und Theorie« finden, in denen die Begriffswelten, die semantischen Register der Philosophie und ihre Praktiken inbegriffen sind. Die Kategorienlehre gilt als die generelle mathematische Theorie für die Explikation der Strukturen/Systeme von Relationen – Kategorien -; eine Theorie, in der Objekte einzig aufgrund ihrer Relationen, die sie mit anderen Objekten derselben abstrakten Art eingehen, bestimmt werden. Diese Relationen lassen sich als Graphen (Set von Punkten, die ein Objekt repräsentieren) und den Pfeilen zwischen ihnen darstellen (Morphismen zwischen einem Punkt und dem anderen). Dafür müssen allerdings bestimmte Bedingungen erfüllt sein: Alle Pfeile (»Head to tail« Methode) müssen sich nach einer einheitlichen und determinierten Art und Weise kombinieren lassen. Wenn es einen Morphismus (der Morphismus bestimmt das Objekt) von A nach B gibt, und einen weiteren von B nach C, dann gibt es notwendigerweise einen Morphismus/Pfeil von A nach C, der die beiden Abbildungen verbindet (Transitivität). Dieser kombinierende Pfeil von A nach C, der B passiert, verklebt oder vernäht die beiden Pfeile, indem er die diskreten Funktionen in die Kontinuität des Einen transformiert. (Vgl. Gangle 2015)

Robert Brandom, auf den sich Rocco Gangle hier bezieht (Gangle 2014: 49), hat mit Hilfe der Kategorienlehre eine diagrammatische Methode geschaffen, um die relevanten Relationen zwischen der philosophischen Praxis und der Theorienwelt sowie den in letzterer enthaltenen Relationen und Vorstellungen darzustellen. (Brandom 2008: 7ff.) In einem Diagramm stellt Rocco Gangle an Brandom anschließend Sprache und Begriffe durch eine ovale Form dar – diese steht für das Sagen. Kapazitäten oder Praktiken werden in rechteckigen Formen mit abgerundeten Ecken dargestellt: sie drücken die Macht des Tuns aus. Man kann nun den Pfeil von der reckteckigen Instanz, die mit Beobachter-Kapazität ausgestattet ist (beispielsweise drei gegebene Arten von Rot), zum ovalen Bereich einführen, der die Begriffe Magenta, Scarlet und Maroon enthält. (Gangle 2014: 49) Dieser Pfeil wird PB-suffizient (PraxisBegriff) bezeichnet, wenn er denn anzeigt, dass die Relation zwischen den beiden Instanzen derart ist, dass ein gegebenes Set von Praktiken (Kapazität zur Farbunterscheidung) ausreicht, um ein korrektes Set von Begriffen herzustellen. Ein Pfeil, der in die umgekehrte Richtung zeigt, wird als BP-suffizient (BegriffPraxis) bezeichnet, insofern das gegebene Begriffsvokabular reichhaltig und konsistent genug ist, um ein gegebenes Set von Praktiken ausdrücken und unterscheiden zu können. Es geht hier also in erster Linie um die Relationen und die Systeme von Kompositionen, die sie enthalten (der Morphismus regiert die Objekte). Dabei sind die Details und Inhalte der beiden Instanzen völlig unspezifiziert, i. e. Instanzen sind lediglich als Indexe oder Designatoren zu verstehen. Die Relationen reflektieren definite pragmatische und semantische modale Bedingungen und sind damit suffizient für den weiteren Gebrauch von Praktiken und Begriffen.

Was Brandom ein »Bedeutungs-Gebrauchs-Diagramm« nennt, gilt schließlich für jedes partikulare System von Instanzen und Feldern, in denen PB- und BP-Suffizienzen und die notwendigen Relationen zwischen ihnen in einer zwingend kategorialen Art miteinander verbunden werden können. Beispielsweise kann eine BP-suffiziente Relation, die von Begriffen B/1 ausgeht und zu einem Set von Praktiken P führen soll, mit einer PB-suffizienten Relation kombiniert werden, die wiederum von einem Set von Praktiken zu weiteren Begriffen B/2 führt, um schließlich eine metabegriffliche Relation zwischen B/1 und B/2 herzustellen – eine neue Relation, die auschließlich aus den gegebenen BP- und PB-suffizienten Relationen gebildet wird, eine Relation, die B/1 als suffizient genug ausweist, um zu sagen, was getan werden muss, damit die Relation der Begriffe B/2 erreicht wird. (Ebd: 50)

Man findet also ein Set von Begriffen und ein Set von Praktiken vor, die beide zusammen drei explizite Relationen enthalten: 1) Die B-suffiziente Relation, eine Relation, in der die Begriffe hinreichend expressive Resourcen besitzen, um ein gegebenes Set von Praktiken zu spezifieren. 2) Die P-suffiziente Relation, die hinreichend genug ist, um ein Set von Begriffen zu entwickeln. 3) Ein dritter Pfeil, der die BB-suffiziente Relation repräsentiert, eine Relation der Begriffe zu sich selbst, die sagt, was sie tut, wenn sie sagt, was sie sagt. (sie spezifiziert sich im eigenen Medium selbst). In der Kategorienlehre nennt man die dritte Relation die Komposition der beiden vorrangigen Abbildungen. Die BB-suffiziente Relation ist letztendlich identisch mit der Komposition der BP-suffizienten Relation und der PB-suffizienten Relation. (Ebd.: 51)

Was hier vor allem interessiert, das ist die reziproke Relation der beiden ersten suffizienten Relationen. Die PB-suffiziente Relation indiziert (qua Hermeneutiken, Deduktionen, Induktionen etc.), dass sie als ein Set von Praktiken hinreichend genug ist, damit sich ein konsistentes philosophisches Begriffsvokabular entwickeln lässt, das philosophische Statements ermöglicht. Die BP-suffiziente Relation indiziert, dass die Philosophie mittels ihrer Begriffsakrobatik in der Lage ist, notwendige Spezifizierungen für ein Set von Praktiken zu liefern, das selbst wiederum suffzient für die Philosophie ist. Und es gibt über die Komposition der Relationen eine metabegriffliche BB-Relation, die von Begriffen zu Begriffen führt, was immer die Inhalte der internen Strukturen der Begriffe auch sein mögen – und diese drei Relationen zusammengenommen dokumentieren für Laruelle das Prinzip der suffizienten Philosophie, das wiederum von der Philosophie auf die Philosophie autoreferenziell angewandt wird. Oder, um es noch einmal anders zu sagen: Die Philosophie sagt hier adäquat das, was sie tut, wenn sie sagt, was sie sagt. (Ebd.: 45) Sie liefert sich selbst ihr pragmatisches Metavokabular. Für Laruelle ist die praktisch-theoretische Suffizienz der hegelianisierenden Philosophie evident, da sie eine operative Geschlossenheit hinsichtlich der aktiv-produktiven und der reflexiv-thematischen Momente des philosophischen Denkens erzeugt.

Man müsste nun die verschiedenen begrifflichen Ebenen bei Hegel diskutieren, auf denen diese zirkuläre Figur jeweils auftritt. Und man kommt dann nicht umhin, in der Bewegung vom An-Sich-Sein zum Für-Sich-Sein und schließlich zum An-und-Für-Sich-Sein genau die Begriffe und Praktiken zu vermuten, die Brandom das hier dargestellte »expressiv-pragmatische Bootstrapping« (zitiert nach: ebd.: 51) nennt. In Hegels dialektischem Konzept geht das Tun (die Praxis; An-sich) systematisch dem Sagen (die Theorie; Für sich) voraus, und dies auf allen durchlaufenen Ebenen bis hin zur Grenze und bis zum Abschluss im absoluten Geist, mit dem die Andersheit des außer-sich-seienden Gegenstandes in einem Wissen aufgehoben wird, das sich bewusst ist, dass es »in seinem Anderssein als solchem bei sich ist.« (Hegel 1970: 575). Hegel eliminiert zwar das Ontische nicht, aber alles Seiende ist vom Geist durchdrungen, der im absoluten Wissen zu sich selbst kommt. Die Wirklichkeit bleibt so, wie sie ist, und sie wird durch eine im wesentlichen christliche Versöhnung in die Philosophie zurückgenommen. Egal, wie man nun Brandoms Diagramm auf Hegel beziehen will, es repräsentiert das zirkulär komponierende und komponierte System der Kategorien und Begriffe (Objekte und Relationen) als die grundlegende Form der Philosophie, die Laruelle schließlich mit dem Digitalen identifiziert – Eins teilt sich in Zwei – oder mit dem Bruch 1/2, der systematischen Einheit eines Dualismus, dessen Musterbeispiel die transzendental-empirische Dublette darstellt. 4

Diese Kritik an Hegel stellt in der kontinentalen Philosophie inzwischen einen Gemeinplatz dar. Schon ab Mitte des 20. Jahrhunderts hatte sich eine posthegelianische und postkantianische Philosophie um Autoren wie Badiou, Derrida und Levinas gebildet, die mit ihrer Kritik an der Dialektik auf Begriffe wie Ereignis, das endlich Reale, den Anderen etc. setzt, das heißt, die Kritik mittels der Strategeme des Supplements oder der Adjunktion weiterführt. (Vgl. Gangle 2013: 51f.) Diese Theorien operieren allesamt mit einer Struktur der Philosophie, die Laruelle mit dem Bruch 3/2 designiert. Die Differenzphilosophie insistiert zwar weiterhin auf der Dualität, die jedoch durch einen vermeintlich dritten Term (Real, Ereignis, Anderer) unterbrochen und wieder gekittet wird. Als unterschieden vom 1/2 System der empirisch-transzendentalen Dublette, formuliert das 3/2 System die komplexere Dublette des Transzendentalen und des Realen.

Die Geschlossenheit und Symmetrie des dialektischen Modells, das einen zweigliedrigen Zirkel enthält, steht in gewissem Kontrast zum Rekurs auf einen externen dritten Term, der sich scheinbar jenseits der philosophischen Suffizienz befindet. Laruelle will mit den Methoden der Nicht-Philosophie dennoch einen konstitutive Verwandtschaft zwischen der Dialektik und der Differenzphilosophie aufzeigen. Man sollte beide Modelle überlagern, sodass sich zeigen lässt, wie beide Philosophie sich gegenseitig befruchten und entwickeln, indem sie partout nicht aufhören, ihre gegenseitige Alternation zu beenden. Diese vermittelnde Funktion wird in der aktuellen kontinentalen Philosophie mit Hilfe der Denkfigur des offenen Chiasmus durchgeführt. Für Jean Luc Nancy und Catherine Malabou missinterpretiert man das absolute Wissen bei Hegel gänzlich, wenn man die Schließung nicht gleichzeitig als Offenheit für die Differenz denkt. Bei Alan Badiou oder Jacques Derrída wiederum, wie verschieden ihre philosophischen Konzeptionen auch sein mögen, finden wir eine philosophische Suffizienz zweiter Ordnung vor, eine unentscheidbare Oszillation zwischen der Auto-Suffizienz und der Hetero-Supplementation.

Das Problem der Meta-Differenz, der Differenz der Differenzen, soll hier nur in aller Kürze dargestellt werden. (Vgl. für Folgendes Gangle 2013: 35f.) Wenn zwei Terme A und B gegeben sind, die Konzepte, Objekte etc. repräsentieren, dann wird die Differenz selbst (zwischen A und B) durch A/B repräsentiert. Die Struktur der Metadifferenz zeigt nun folgendes an: Die Differenz in sich selbst zwischen den beiden Termen (der komplexe Term A/B) wird von einem der beiden Terme (A) unterschieden (den sie schon inkludiert) und sie wird mit dem anderen Term (B) identifiziert. Für den Term B in der Relation substituiert man den gesamten Ausdruck A/B, sodass die Differenz (A/B) vom Term A unterschieden ist. Das Resultat lässt sich dann folgendermaßen aufschreiben: A/(A/B). Hier bleibt der Term B relativ unanalysiert, oder um es anders zu sagen, der Prozess bleibt unentscheidbar und führt in die schlechte Unendlichkeit von A-B= A/(A/(A/B)). Wir stehen vor der Problematik der Selbstinklusion, das heißt, eines einseitigen Verdoppelns der Differenz, die selbst eine der Terme ist. (Ebd.)

Die Differenz nimmt sich also selbst als ihr Objekt und transzendiert zugleich ihre eigene Objektivierung. Dies lässt sich nicht nur als Meta-Differenz, sondern auch als Meta-Relation anschreiben: A-B. Was passiert also, wenn einer der Terme der Relation die Relation selbst ist? Man nimmt die Relation A-B für den Term B, substituiert mit ihr B und erhält den Ausdruck: A-(A-B). Was aber geschieht, wenn nun aber auch der fixierte Term A iteriert? Dann erhalten wir nicht nur A=A/B, sondern auch B=A/B (A B). (Ebd.) Wir befinden uns hier offensichtlich insofern in einem Konflikt, als jeder der beiden Terme die Differenz und der Konflikt selbst ist. Und nichts anderes stellt die Denkfigur des Chiasmus dar. Letztendlich heißt dies, dass die Philosophie der Differenz eine reale Nicht-Relation nicht ertragen kann. Einerseits gibt es in der Differenzphilosophie den Hang zur Maximierung der Differenzen (Nietzsche), insofern die Differenz eine Höherwertigkeit verspricht, die bis ins Unendliche getrieben werden kann, andererseits kann die Differenz auch relativ obskur bleiben, um in einen Urgrund zu führen, der bei die Tautologie ist (das Nichts nichtet). Mit Nietzsche lässt sich behaupten, dass die Eigenschaften eines Dings nur Effekte für andere Dinge sind. Wenn man nun den Term »anderes Ding« eliminiert, dann hat ein Ding gar keine Eigenschaften mehr, und die Folgerung daraus lautet, dass es definitiv kein Ding ohne andere Dinge gibt, i. e. es dominieren absolut die Relationen. Oder anders gesagt, die Dinghaftigkeit löst sich in den Strom der differenziellen Ereignisse auf. Bei muss stattdessen die objektive Partikularität der Relata als abhängig vom Realen gedacht werden, von einer nicht-objektiven Transzendenz, die jedes Relata in zwei formal unterschiedene Seiten trennt, wobei die eine Seite der Entbergung und Verbergung des Seins des Seienden, und die andere Seite dem Objekt, das indifferent gegenüber der anderen Seite ist, zugeordnet ist. stellt bezüglich des zweiten Aspekts die Frage nach der Irreversibilität als solcher. An dieser Stelle ist für das kantianische »Ding an sich« eine essenzielle und tautologische Subtraktion in sich selbst (die Essenz des Seins). Derrida führt Laruelle zufolge hingegen eine komplexe Mischung oder den Chiasmus des nietzscheanischen und des ianischen Modells durch: Er formuliert die Meta-Differenz der beiden Modelle. Differenz, so die zusammenfassende Kritik von Laruelle, sei eine philosophische Syntax sui generis und eine Realität oder eine Erfahrung des Realen (vgl. Laruelle 2010a: 2) und damit ein Prinzip, das eher real als formal und eher transzendental als logisch einzuschätzen sei. Differenz artikuliert im repräsentationalen Modus eine Mischung als solche, indem sie das »weder… noch« fordert, und zugleich eine Art inklusiver Disjunktion, mit der das »weder…noch« so minimal negativ ist, dass es die Unteilbarkeit als Eines produziert (Nichts als Sein).5

Für Laruelle handelt es sowohl bei der Dialektik als auch der Differenzphilosophie, die beide durch Diagramme dargestellt werden können, um korrelative Tendenzen, die in der Philosophie immer präsent sind und je nach Bedarf und Situation unterschiedlich gewichtet werden. Es ist die unentscheidbare Konjunktion/Disjunktion der beiden Dubletten selbst – transzendental-empirisch oder transzendental-real –, die die Philosophie auf ihrer allgemeinsten Ebene charakterisiert. Damit ist die Philosophie iweder vollkommen suffizient noch gänzlich insuffizient, sondern sie belebt andauernd ihr eigenes Semi-System der Suffizienz/Insuffizienz, das sich selbst voraussetzt und wiederholt, indem die Unentscheidbarkeit zugleich kritisiert und aufrechterhalten wird. Diese Instabilität folgt für Laruelle aus der kriegerischen Natur der Philosophie.

1 In der Geschichte der Philosophie wurde das Reale a) als Unabhängigkeit und b) als Authentizität diskutiert. Es ist unabhängig, egal ob jemand es perzipiert oder nicht, darüber nachdenkt oder es in eine Sprache, die auf einen Referenten bezogen ist, übersetzt. Dies bezieht sich auf die apriorische Transzendenz des Realen bezüglich jeder Idealität, eine relative Transzendenz, die Laruelle als die bis heute attraktive Unterscheidung zwischen philosophischer Syntax und Realität designiert. Authentizität erlaubt hingegen gewisse Abstufungen der Realität, weil das Reale nun ein mehr oder weniger gemäß seines Wesens Existierendes sein kann, i. e. das Wesen selbst noch graduell ist. Authentizität und Unabhängigkeit werden in der Philosophie stets als Qualifikation dessen verstanden, was existiert.

2 Das Oraxiom (Zusammenfügung von Axiom und Orakel) zeigt die Superposition des mathematischen Axioms und der nicht-philosophischen Entscheidung an. Die »Axiome« der Nicht-Philosophie oder der generischen Wissenschaft, und im speziellen der DLI, konjugieren zwei Typen der Entscheidung – die mathematische, um eine formale Feldstruktur herzustellen, und die nicht-philosophische, i. e. die unentscheidbare Entscheidung. Das Oraxiom ist radikal immanent. Weitere Nuancen des Oraxioms wie kryptisch, enigmatisch, das Abyssale oder das Grundlose, das Delirierende etc. gehören zur Philo-Fiction und sollten nach denselben Bedingungen transformiert werden. Zukunft ist das, was par excellence qua Oraxiom gefordert und performt wird.

3 Axiome und Theoreme bilden die wichtigsten Elemente von Laruelles Methode, vgl. Laruelle 2012: 45ff.

4 Was gegeben ist, das ist geteilt, das ist Hegels wahres Prinzip. Hegel benutzt in gewisser Weise sowohl das Digitale (das Eine, geteilt in Zwei) als auch das Analoge (Zwei, die in der Eins synthetisiert werden) als Elemente seiner Dialektik: das Moment der Analyse, bei der die Eins in Zwei geteilt wird, und das Moment der Synthese, bei der die Zwei in der Eins kombiniert werden. Mit der Synthesis will Hegel schließlich die Entfremdung überwinden. Es gibt zwar Widersprüche, aber sie müssen doch in das große Ganze, den absoluten Geist reintegriert werden.

5 Laruelle denke gegen diese verschiedenen Formen der Differenz das Eine, ende aber möglicherweise selbst wieder damit, so lautet eine Kritik, eine fundamentale Logik einzuführen, und damit wiederhole er nur die Probleme, die er gerade kritisiere. Der NichtBegriff der »chora« mag eine Schnittstelle zwischen Derrida und Laruelle sein. Während er für den ersteren der letzte Name dessen ist, was nicht ist, nämlich différance, ist er für den letzteren der erste Name für das, was axiomatisch geäußert wird.

Literatur:

Brandom, Robert (2008). Between Saying and Doing: Towards an Analytic Pragmatism. Oxford/New York.

Gangle, Rocco (2013): François Laruelle`s Philosophies of Difference: A Critical Introduction and Guide. Edinburgh.

– (2014): Pragmatics of Non-Philosophy. Explicating Laruelles Suspension of the Principle of sufficient Philosophy with Brandoms Meaning-Use Diagrams. In: ANGELAKI journal of the theoretical humanities volume 19 number 2 june 2014. New York. 45-57.

– (2015): Diagrammatic Immanence. Edinburgh.

Laruelle, François (1979): La Transvaluation de la methode transcendentale. Bulletin de la societe francaise de philosophie 73.

(1999): A Summary of Non–Philosophy. In: Pli. The Warwick Journal of Philosophy. Vol. 8. Philosophies of Nature.

(2003): What can Non–Philosophy do? In:

http://de.scribd.com/doc/20244479/Laruelle-What-Can-Non-Philosophy-Do

(2010a): Philosophies of Difference. A critical Introduction to Non–philosophy. New York.

– (2010b): Philosophie non-standard: générique, quantique, philo-fiction. Paris.

– (2010c): The Truth according to Hermes: Theorems on the Secret and Communication. In: Parrhesia No.9. http://www.parrhesiajournal.org/index.html

(2011): The Generic as Predicate and Constant: Non–Philosophy and Materialism. In: Bryant, Levi R./ Srnicek, Nick/ Harman, Harman (Ed.): Speculative Turn: Continental Materialism and Realism, 237-260. Victoria/Australia: re.press. Original work published 2008.

– (2012): Struggle and Utopia at the End Times of Philosophy. Minneapolis.

(2013a): Anti–Badiou: On the Introduction of Maoism into Philosophy, Bloomsburg.

(2013b): A New Presentation of Non–Philosophy. In:

http://www.onphi.net/texte-a-new-presentation-of-non-philosophy-32.html

(2013c): Das Reale gegen den Materialismus: In: Avanessian, Armen (Hg.): Realismus Jetzt. Berlin.

(2013 d): The Principles of Non-Philosophy. New York.

(2013e): Dictionary of Non-Philosophy. In: http://monoskop.org/images/2/2b/Laruelle_Francois_Dictionary_of_Non-Philosophy.pdf

(2013 f): Philosophy and Non-Philosophy. Minneapolis.

– (2015): Introduction to Non-Marxism.Minneapolis.

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