Das Ideal des Kaputten. Über neapolitanische Technik

Technische Vorrichtungen sind in Neapel grundsätzlich kaputt: nur ausnahmsweise und dank eines befremdlichen Zufalls kommt auch Intaktes vor. Mit der Zeit gewinnt man den Eindruck, daß alles schon in kaputtem Zustand hergestellt wird. Wir sprechen hier nicht von den Türklinken etwa, welche in Neapel noch zu den mythischen Wesen zählen und nur zu symbolischer Repräsentation an den Türen angebracht sind; das hängt damit zusammen, daß dort die Türen überhaupt bloß dazu da sind, offen zu stehen und, wenn sie von einem Luftzug mal zugeworfen werden, mit entsetztem Kreischen und am ganzen Leibe zitternd wieder aufzugehen. (Neapel mit geschlossenen Türen, das wäre wie Berlin ohne Hausdächer.) Sondern von richtigen maschinellen Einrichtungen und dergl. Apparaten ist die Rede.

Aber nicht daß diese nun darum, weil sie kaputt sind, etwa nicht funktionierten, sondern beim Neapolitaner fängt das Funktionieren gerade erst da an, wo etwas kaputt ist. Er geht mit einem Motorboot aufs offene Meer, sogar bei heftigem Wind, in das wir kaum den Fuß zu setzen wagten. Und es geht zwar niemals, wie es gehen sollte, aber so oder so doch immer gut. Mit unerschütterlicher Selbstverständlichkeit bringt er es, drei Meter von den Klippen, an denen ihn die wilde Brandung zu zerschmettern droht, z. B, fertig, den beschädigten Benzinbehälter, in den das Wasser eingedrungen ist, abzulassen und neu zu füllen, ohne den Motor auszusetzen. Wenn nötig, kocht er gleichzeitig auf der Maschine noch Kaffee. Oder es gelingt ihm, in übertrefflicher Meisterschaft, sein defektes Auto durch das ungeahnte Anbringen eines kleinen Holzstücks, das sich von ungefähr auf der Straße findet, wieder in Gang zu bringen, – allerdings nur, bis es bald und mit Sicherheit wieder kaputt geht. Denn endgültige Reparaturen sind ihm ein Greuel, da verzichtet er schon lieber auf das ganze Auto. Dabei fällt ihm auch weiter nichts auf. Er würde einen erstaunt angucken, wenn man ihm sagen wollte, daß dies eigentlich nicht die Art sei, sich eines Motors oder überhaupt der technischen Zweckinstrumente zu bedienen. Er würde sogar energisch widersprechen: für ihn liegt vielmehr das Wesen der Technik im Funktionieren des Kaputten. Und in der Behandlung defekter Maschinen ist er allerdings souverän und über alle Technik weit hinaus. In seiner bastelnden, stets geistesgegenwärtigen Geschicklichkeit, mit der er vor einer Gefahr oft gerade aus dem Defekt lächerlich einfach den rettenden Vorteil schlägt, hat er in der Tat manches mit dem Amerikaner gemein. Aber es ist bei ihm der höhere Erfindungsreichtum der Kinder, und wie die Kinder hat er in allem Glück, und wie den Kindern kommt ihm der Zufall immer zustatten.

Das Intakte dagegen, das sozusagen von selber geht, ist ihm im Grunde unheimlich, denn gerade weil es von selber geht, kann man letztlich nie wissen, wie und wohin es gehen wird. Er gerät ja zwar, wenn die Sache bei der Erprobung tatsächlich und sogar ungefähr, wie man es dachte, funktioniert, in eine, meist patriotisch gerichtete Verzückung, und ist leicht geneigt, sich und sein Land schon an der Spitze der Zivilisation aller Völker zu sehen. Aber ganz sicher ist er solcher Unwesen nie, und selbst bei der Eisenbahn von Castellamare nach Neapel, welche doch im Laufe ihres halben Jahrhunderts allmählich profan geworden sein dürfte, kann man hin und wieder bis zur letzten Minute nicht wissen, wo sie wirklich hinfahren wird. Man kann da letztlich nichts machen, das Intakte funktioniert eben, das ist von ihm auch nicht einmal eine besondere Leistung, – force majeure, und Gottes Wege sind unerforschlich. Der Verzauberung ist auf alle Fälle damit abgeholfen, daß die Sache kaputt geht. Wo sich das irgend bewerkstelligen läßt, geschieht es deshalb schnell und sogar häufiger, als selbst der vorsichtige Mann für nötig hält. Das mag wohl mit dem Klima zusammenhängen, jedenfalls schadet es nichts, denn nur so ist daran zu denken, daß die Sache mal wieder gehen wird.

Gefährlich könnten dagegen hier Elemente werden, welche, wie die Elektrizität, nicht eigentlich kaputt zu machen sind und bei denen auch nicht einwandfrei festzustellen ist, ob sie wirklich von dieser Welt stammen. Dafür aber hält Neapel seinen Ort bereit. Solche unenträtselt spiritualen Wesen fließen unbedenklich mit der Glorie der religiösen Mächte zusammen, und die festliche Osrambirne verschwistert sich im neapolitanischen Heiligenbild mit der Strahlenkrone der Madonna zur Faszination der ehrfürchtigen Seele. Hingegen wird man schwerlich Kläglicheres finden als die eigentliche Nutzanwendung der Elektrizität in Neapel. Schlechterdings kosmisches Mitleid greift einem ans Herz angesichts der jämmerlichen Glühbirne, welche in todesmatter Trübsal melancholisch an der Decke baumelt, in ihrem hoffnungslosen Ausharren von aller Welt verspottet oder vergessen. Auch ist das unerbittliche Gesetz noch immer unergründet, nach welchem der Straßenbahn alle paar Tage der Strom ausgeht; “la corrente non c’è” lautet die schlichte Formel für diese Fügung des Himmels. Möglich, daß vielleicht das Telefon recht gut funktionieren würde, wenn da die Nummern nicht ihre eigenen Wege gingen und das amtliche Register oder doch die Auskunftsstellen des Geheimnisses dieser Zahlen teilhaftig wären. Doch wie dem im einzelnen auch sei, das alles gehört in Neapel nicht mehr ins Gebiet bloßer Technik.

Die Technik beginnt vielmehr eigentlich erst da, wo der Mensch sein Veto gegen den feindlichen und verschlossenen Automatismus der Maschinenwesen einlegt und selber in ihre Welt einspringt. Dabei erweist er sich allerdings dem Gesetz der Technik um Spannen überlegen. Denn er eignet sich die Führung der Maschinen nicht sosehr dadurch an, daß er ihre vorschriftsmäßige Handhabung erlernt, als indem er den eigenen Leib darin entdeckt. Zerstört er dazu zwar zunächst die menschenfeindliche falsche Magie intakten maschinellen Funktionierens, so installiert er sich jedoch alsdann im entlarvten Ungeheuer und seiner einfältigen Seele und freut sich des wahrhaft einverleibten Besitzes zur unumschränkten Herrschaft utopischer Daseins­Allmacht. Auf die technischen Anmaßungen seines leibeigenen Instruments läßt er sich nicht mehr ein, diesen Schein und Trug seiner bloßen Erscheinung hat er mit unbestechlichem Blick durchschaut; ein Stückchen Holz oder ein Lappen tut’s auch. Aber freilich muß sich die Gewalt des Einverleibten im sieghaften Anprall stündlich bewähren. In beängstigender Verve jagt er mit seinem Auto drauflos, und wenn dabei nicht irgend etwas in Trümmer geht, die Straßenmauer oder ein Eselkarren oder auch die eigene Maschine, so hat die ganze Autofahrerei keinen Sinn gehabt. Ein richtiges Eigentum muß eben auch geschunden werden, sonst hat man nichts davon, es muß bis auf den letzten Stumpf gebraucht und ausgekostet, gleichsam vertilgt und aufgefressen werden. Doch ist im ganzen das Verhältnis des Neapolitaners zu seiner Maschine gutmütig, nur etwas brutal; gerade wie zu seinem Esel.

An die vorgeschriebenen Zweckverwendungen in keiner Weise mehr gebunden, erfährt die Technik hier die sonderbarsten Ablenkungen und geht mit ebenso überraschenden wie evidenten Wirksamkeiten in einem ihr völlig fremden Lebensgrund ein.

Wiewohl es gewiß nicht die Absicht der Osrambirne ist, Madonnen ihre Glorie zu leihen, noch auch ein Radmotor das Licht der Welt dazu erblickte, um mit seiner wirbelnden Drehung in einem Topf die Sahne zu schlagen, leistet die moderne Technik auf solche ungeahnte Weisen den Übungen dieses mit elektrischer Straßenbahn und Telefon seltsam überlebenden 17. Jahrhunderts die ausgezeichnete Hilfestellung und dient so überall der Freiheit dieses Lebens über sie aufs Unfreiwilligste noch zur Folie. Die Mechanismen können hier das zivilisatorische Kontinuum nicht bilden, zu dem sie ausersehen; Neapel dreht ihnen das Gesicht auf den Rücken.

Der modernen Technik geht’s hier im ganzen letztlich wie jenem weltverlorenen Schienenpaar, welches einsam und verrostet den Monte Santo die Straßen hinunterläuft. Das Feldgeschrei der kühnen Pläne, zu denen es, man weiß nicht wann, hierher verschlagen wurde, ist längst verklungen und vergessen. Mit beispielloser Kraft des Funktionierens aber spritzt es den jubelnden Straßenkindern das Wasser, welches aus irgendeiner verirrten Leitung durch seine Rohre fließt, zu seligem Ergötzen in den Mund, und die ganze Nachbarschaft erfreut sich dieser hochwillkommenen Quelle. So etwa vereinigen sich in dieser Stadt die kompliziertesten Zweckinstrumente der Technik zu einfachster, doch nie erträumter Verrichtung. Zu der unfreiwilligen Stiftung solchen Nutzens sind sie vollendet umgemodelt, zu ihren eigentlichen Zwecken versagen sie konsequent.

(Aus der Frankfurter Zeitung vom Sonntag, den 21. März 1926 – Erstes Morgenblatt)

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Foto: Bernhard Weber

 

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