Das Kapital des 21. Jahrhunderts – Erste Notiz

Finanzielle Instrumente und Zahlungsversprechen waren als eine Art Embryo von Beginn des Kapitalismus an präsent, wenn man bedenkt, dass die kapitalistische Warenproduktion prinzipiell vorfinanziert werden muss und damit für das Unternehmen Schulden, die mit seinen zukünftigen Waren versichert werden, je schon entstehen. Die Möglichkeit des Kapitalisten, seine zukünftige Ware als Sicherheit zu verpfänden, inkludiert, dass sein Produkt, präziser, das Recht einen Surplus zu extrahieren, potenziell schon Kapital ist, bevor es überhaupt produziert, eine Ware ist und realisiert wird. Wir haben es je schon mit einer finanzialisierten Kapitalproduktion zu tun und auch deshalb nennt Marx sein Buch Kapital.

Insofern das zinstragende, das fiktive und das spekulative Kapital in Gestalt von Krediten, Anleihen, Aktien, Derivaten etc. sich heute wesentlich schneller vermehrt und nominell einen vielfach größeren Umfang angenommen hat als das industrielle und kommerzielle Kapital, kann sich das Wachstum der Assets bzw. Vermögenswerte wohl kaum noch einzig aus der Kapitalakkumulation der »Realwirtschaft« speisen, vielmehr ist von einer endogenen, das heißt einer dem finanziellen Kapital immanenten Kapitalbildungspotenz auszugehen.1 Das moderne Finanzsystem ist also ein dem Kapital immanenter Prozess, der aber nicht nur der Vermehrung des Kapitals dient, sondern auch die kapitalistischen Machtbeziehungen sichert. Die permanent stattfindende Evaluation und Kalkulation der Verwertungsprozesse des Kapitals, die über das Finanzsystem verläuft, besitzt wichtige Konsequenzen für die Organisation der kapitalistischen Machtbeziehungen insgesamt und verstärkt die Implementation der jeweils in einer Konjunktur hegemonialen Kapital-Tendenzen in das antagonistische sozio-ökonomische Feld. Dieser marxistischen Position steht eine bis auf Ricardo zurückreichende Interpretation entgegen, die sich über Veblen, Hilferding und teilweise auch Keynes bis hin zu den heute heterodox genannten Positionen des Postkeynesianismus und des Akzelerationismus, des Postmarxismus (Negri/Hardt, Zizek, Lapavitsas etc.) und solchen Positionen wie die von Bichler/Nitzan fortsetzt: Die Macht des Kapitals wird hier primär aus den Eigentumsbeziehungen abgeleitet, der Profit des Kapitals erscheint als eine absolute Rente (siehe die Rede vom Finanzfeudalismus), das Finanzsystem generiert die Sabotage der industriellen Beziehungen, die hauptsächlich von Technikern und Arbeitern gestaltet werden, und es basiert auf einem System der Beobachtung zweiter Ordnung (Luhmann, Esposito). Der Aufstieg der Finance wird zusammenfassend als unrealistisch, hypertroph und dysfunktional begriffen, womöglich noch als das Zerrbild eines idealen Produktionskapitalismus. Dies ist eine dem Marxismus diametral entgegengesetzte Position .

Die Finanzmärkte besitzen heute eine duale Funktion – zum einen werden an ihnen die ökonomischen Akteure mittels ökonomischer Machttechnologien bewertet und zum anderen sind sie Teil der Kapitalisierung von zukünftigen Zahlungsversprechen, wobei diese inzwischen auf globaler Ebene in Lichtgeschwindigkeit gehandelt werden. Während der »Realsektor« immer noch aufgrund der Produktion von Waren und der Realisierung von Profitraten viel stärker vergangenheitsorientiert bewertet wird, ist die Kapitalisierung, das heißt die Kalkulation und Diskontierung zukünftig erwarteter Zahlungsströme und -versprechen die wichtigste Methode des Finanzsystems. Derivate und alle weiteren exotische Finanzinstrumente, welche man einerseits als Machttechnologien, andererseits als neue Kapitalformen, mit denen Profite erzielt werden können, begreifen muss, sind heute eine notwendige Bedingung für die ständig stattfindende Implementation der Finanzialisierung in das gesamte ökonomische Feld. Sie führen eine formative Perspektive auf die aktuellen konkreten Risiken ein, machen diese untereinander kommensurabel und reduzieren die Heterogenität der konkreten Risiken auf ein singuläres Wertpapier, auf den Ausdruck eines einziges soziales Attributs, nämlich den des abstraktes Risikos, das sie verkörpern und das in Geld realisiert wird.

Dabei ist die Analyse des finanziellen Systems2 nicht als die eines verselbständigten finanziellen Sektors oder eines spezifischen Typus von Institution zu verstehen, vielmehr hat sie davon auszugehen, dass heute ausnahmslos alle großen kapitalistischen Unternehmen wichtige finanzielle Operationen durchführen müssen. An dieser Stelle unterscheidet der französische Ökonom François Chesnais in seinem neuen Buch Finance Capital Today zwischen der Finance als einem hochvernetzten und interdependenten Konglomerat aus Großbanken, Versicherungen, Peonsions- und Investmentfonds, Schattenbanken und Zentralbanken, transnationalen industriellen und kommerziellen Konzernen und mächtigen Großhändlern (organisatorische Ebene) und der Finance qua Finance, den Prozessen der Expansion des fiktiven Kapitals und der Derivate, die von großen Banken, Investmentfonds und Hedgefonds gehalten und an den Finanzmärkten gehandelt werden (prozessuale und funktionale Ebene). (Chesnais 2016: ) Hinsichtlich solcher Faktoren wie Anzahl, Größe, Bilanzsumme, Geschäftsvolumen, Vernetzungsgrad, Stellung im kapitalistischen Reproduktionsprozess und Machtposition kam es im Finanzsystem zu einem wichtigen Wandel in den letzten Jahrzehnten. Die Autoren Glattfelder, Vitali und Battiston haben aufgezeigt, dass aktuell 737 Firmen circa 80 Prozent des gesamten globalen Marktes kontrollieren, wobei eine hoch vernetzte Kerngruppe von 147 Firmen allein fast 40 Prozent kontrolliert. Dieses Netzwerk besteht fast nur aus britischen und amerikanischen Banken und Finanzfirmen. (Sahr: Kindle-Edition, 8621)

Die Metapher »zentrales Nervensystem des Kapitals«, die Tony Norfield in seinem Buch The City verwendet, charakterisiert das Finanzsystem als Finance qua Finance sehr treffend. Wenn das Kapitalprinzip der Motor des atmenden Monsters namens Gesamtkapital ist, dann ist das finanzielle System dessen Zentralnervensystem.3 (Norfield 2016: Kindle Edition; 168) Randy Martin (Lee, Martin 2016: Kindle-Edition; 3312) hat darauf hingewiesen, dass das Finanzsystem den drei Bänden von Marxens Kapital insofern immanent ist, als es in der Bewegung von der Produktion hin zur Zirkulation und der Notwendigkeit dabei das Risiko zu antizipieren eine wichtige Funktion in der Reproduktion des Kapitals einnimmt. Das Finanzsystem exekutiert zudem die Konkurrenz, die Koordination und die Regulation der Einzelkapitale, denen das Apriori des Gesamtkapitals vorausgesetzt ist, das sich wiederum über die reale Konkurrenz der Einzelkapitale, die für Marx kein Ballett, sondern ein Krieg ist, aktualisiert. Es moduliert andauernd die Konkurrenz aller Unternehmen und entfacht sie neu – es ist also ein integraler Teil der Kapital-Ökonomie, kein Krebsgeschwür, das etwa ein Arzt entfernt, um dem Kapitalkörper wieder zur Gesundheit zu verhelfen.4

Für Norfield sind die Operationen des Finanzsystems keineswegs auf die Strategien der Banken, der Investmentfonds und anderer Finanzinstitutionen begrenzt, vielmehr betreffen sie das kapitalistische System insgesamt, insofern auch die industriellen und kommerziellen Unternehmen ständig eine Vielzahl von finanziellen Transaktionen durchführen müssen. So benutzen die international agierenden Unternehmen die privaten Banken, um an Währungen zu gelangen, die sie benötigen, um Importe zu kaufen, oder um die Gewinne, die aus ihren Exportgeschäften stammen, in die einheimische Währung zu tauschen. Sie leihen sich von den Banken kurzfristige Kredite, um ihre Cashflows zu sichern, oder sie nehmen längerfristige Kredite auf, um ihre Investments zu finanzieren. Sie geben Anleihen oder Aktien an den Finanzmärkten aus, um sich Geld von Investoren zu verschaffen, und benutzen Derivate, um sich gegen ungünstige Bewegungen der Zinsraten, die ihre Profitabilität einschränken, abzusichern. Beispielseise kann der Einkauf von Rohstoffen, It-Systemen, Gebäuden, Maschinen und Arbeitskräften, der getätigt wird, um Waren zu erzeugen, die mit Gewinn verkauft werden können, durch anstehende Zinszahlungen reduziert werden. Und die Nettoprofite der Industrieunternehmen werden durch alle möglichen finanziellen Transaktionen affiziert, angefangen vom Hedgen der Währungen bis eben hin zu Zinsratenrisiken, insbesondere, wenn die Unternehmen selbst in finanzielle Sicherheiten investieren. Die Finanzierung der kapitalistischen Produktion und Zirkulation ist ein entscheidender Aspekt der Reproduktion des Kapitals auf erweiterter Stufenleiter. Somit sind Interdependenzen zwischen »Realkapital« und finanziellem Kapital sind, wenn wir in diesem Buch insbesondere die Mechanismen, Strukturen und Prozesse der Kapitalbildungspotenz des finanziellen Kapitals untersuchen, das heute im Rahmen des transzendentalen Aprioris des Gesamtkapitals in der letzten Instanz eine eminent wichtige Rolle in den entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften spielt.

1 Für Lohoff/Trenkle ist spätestens ab den 1980er Jahren das finanzielle Kapital der Motor für die Ausdehnung der globalen Warenproduktion, die schon seit den 1960er Jahren auf einem hohen Produktivitätsniveau und auf Grundlage fortschreitender Prozessautomation stattfand. Die Autoren sprechen von »induzierter Wertproduktion« (Lohoff/Trenkle 2012: 147 f.) oder von »inversem Kapital«, weil die Wertproduktion nicht mehr allein auf der Extraktion des Mehrwerts durch den Gebrauch der Arbeitskraft beruhe, sondern vielmehr immer umfangreicher von der wachsenden Akkumulation des fiktiven Kapitals angetrieben werde. Ohne das fiktive Kapital hätte das fungierende Kapital (das in der »Realwirtschaft» investierte Kapital) längst in einen Zyklus der großen Entwertung eintreten müssen.

Lohoff/Trenkle haben auch den Versuch unternommen, ihre Thesen empirisch abzusichern. Zunächst weisen sie auf die allseits bekannten Zahlen hin. Nach den Berechnungen von McKinsey ist das globale Volumen der Finanzinstrumente von 12 Billionen Dollar im Jahr 1980 auf 206 Billionen Dollar im Jahr 2007 angestiegen. (Sahr 2017: Kindle-Edition, 4896) Dabei sind die Finanzvolumina im Rahmen der ökonomischen Transaktionen insgesamt erheblich gewachsen, wobei dieses finanzielle Deepening in den entwickelten Ökonomien sich auch in entsprechenden Zahlen ausdrückt: Die Bankeinlagen besitzen heute einen Wert von durchschnittlich 200% des Bruttoinlandprodukts. (Ebd. 4902) Der Global Wealth Report bezifferte im Jahr 2010 die Finanzvermögen (ohne Derivate) auf 231 Billionen Dollar und damit auf das Vierfache des damals aktuellen globalen BIP. Das Gesamtvolumen der Derivate wuchs zwischen den Jahren 1998 und 2008 von 72 auf 673 Billionen Dollar – und erreichte damit das Zwölffache des weltweiten BIP. (Vgl. Lohoff 2014: 6) Entsprechend sind die Schulden von Nichtfinanzakteure (Staaten, Unternehmen und Haushalte) in den OECD Ländern von 167% im Jahr 1980 auf 314% der Wirtschaftsleistung im Jahr 2009 gestiegen. Der Anstieg der Schuldenfinanzierung von 147% verteilt sich auf den Staat mit 49%, die Unternehmen mit 42% und auf die Haushalte mit 56%. (Sahr 2017: Kindle-Edition; 4916) Weltweit lag der Schuldenüberhang im Jahr 2015 gegenüber dem globalen BIP bei 286%. (Pettfor 2017: Kindle-Edition, 85) Gleichzeitig haben sich die Gewinne des Finanzsektors in den entwickelten Ökonomien relativ zu den Unternehmensgewinnen seit dem Jahr 1980 verdoppelt.

Die Zahlen klingen durchaus beeindruckend: So betrug der totale Nominalwert der Derivate am Ende des Jahres 2012 schon 694,4 Billionen Dollar, während der Wert des globalen BIP sich auf 71,1 Billionen Dollar belief. Dabei entfiel auf die »off-exchange derivate markets« eine Summe von 642,1 Billionen Dollar. (Bank of International Statements 2013) Hier sind jedoch einige Einschränkungen in der Beurteilung der statistischen Größen vorzunehmen, denn die ausgewiesenen Geldsummen repräsentieren lediglich den nominalen Handel von Derivaten (der möglicherweise zu zahlende Betrag; man kann ihn auch als virtuell bezeichnen, weil die Derivate hier noch nicht realisiert sind). Im Jahr 2012 wurde der «gross market value« der Derivate (Marktpreis der Derivatverträge) auf 24,7 Billionen Dollar geschätzt; er liegt damit ungefähr auf der Höhe des addierten BIP der beiden großen Volkswirtschaften USA und China. Zudem heben sich die Derivatverträge qua Hedging gegenseitig auf, sodass bspw. das Nettokreditvolumen der OCT-Derivate auf 3,6 Billionen Dollar am Ende des Jahres 2012 geschätzt wurde, eine Summe, die in etwa dem BIP Deutschlands vergleichbar ist. (Ebd.)

2 Louis Althusser bezeichnet das System ganz allgemein als ein endliches Set von Elementen, oder als Elemente, die unter eine endliche Anzahl von Kategorien, zu denen auch die Kategorie des Unendlichen ist, subsumiert und aus nur einem Grund zusammengefügt werden, nämlich der Erlangung eines identischen Ganzen. Die Einheit des Systems ist immer das Resultat einer Vereinheitlichung. (Althusser 2017: 176)

3 Hier muss man allerdings der Gefahr ausweichen, das ökonomische System mit einem Organismus gleichzusetzen, eher wäre vom Kapital als einem antagonistischen System zu sprechen. Die Integration, die einem Organismus mit seiner Homöostase gelingt, kann dieses System nicht leisten.

4 Von Marx wurde das Finanzsystem als die Steuerungsinstanz der kapitalistischen Akkumulation im Kapital dennoch nur rudimentär entwickelt (MEW 25: 451ff. und 620), obgleich er sich bereits in den Grundrissen über folgenden Sachverhalt im Klaren war: »Im Geldmarkt ist das Kapital in seiner Totalität gesetzt; darin ist es preisbestimmend, arbeitgebend, die Produktion regulierend, in einem Wort Produktionsquell (MEW 42: 201). Ausführlicher dazu Heinrich 1999: 299ff).

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