Das Kapital für das 21. Jahrhundert

 

Das Kapital für das 21. Jahrhundert

Das Buch erscheint im Januar 2018 im Laika Verlag

Hier ein Auszug aus der Einleitung:

Die Weltökonomie befindet sich derzeit in einer Phase der säkularen Stagnation mit anhaltend niedrigen Wachstumsraten des realen Bruttoinlandsprodukts.1 Die nach dem Zweiten Weltkrieg von den Repräsentanten des Kapitals und der imperialistischen Staaten den Bevölkerungen immer wieder vorgebeteten Litaneien vom grenzenlosen ökonomischen Wachstum haben sich buchstäblich im Sande verlaufen. Seit den 1980er Jahren wurde die globale Weltwirtschaft zunehmend durch das finanzialisierte Kapital, das heute auf einem hohen Level der finanziellen Konsumtion, Investition und Spekulation agiert, vorangetrieben und determiniert. Dabei sind die Schulden zeitweise weit über die Kapazität der Schuldner, diese überhaupt noch zurückzahlen zu können, angestiegen. Die Behauptung, dass ein Anstieg der Inflation das Schuldenlevel durch seine Wertsenkung senken werde, hat sich bisher als ungültig erwiesen. Die finanziellen Probleme um die Verschuldungen treffen auf weitere krisenhafte Sachverhalte, etwa die Abschwächung der Akkumulationsraten und das Absinken der Kapitalinvestitionen, die unzureichende Erneuerung des Kapitalstocks, deflationäre Preisentwicklungen und chronische Niedrigzinsen, das verlangsamte Bevölkerungswachstum und die alternde Bevölkerung, geringere Wachstumsraten der Produktivität der Kapitalakkumulation2 und die Verlangsamung von Innovation. Schließlich an schwindende natürliche Ressourcen wie Wasser, Nahrungsmittel und Energie, an den vom Kapital initiierten Klimawandel, Verringerung der Biodiversität, stratosphärische Abnahme des Ozons, Übersäuerung der Meere, extreme Wetterbedingungen, prekäre Trinkwasserversorgung, chemische Verschmutzung und die Veränderung der Bodenbedingungen, um nur einige Aspekte zu nennen. Ein geringeres Wachstum im internationalen Handel, bei den Emerging-Märkten und den Kapitalflüssen ist zu verzeichnen. Die Vorstellung, dass die Erhöhung der Staatsausgaben, niedrige Zinsraten und die Bereitstellung von Liquidität und Cash an den Geld- und Kapitalmärkten höheres ökonomisches Wachstum erzeugen werde, wurde bisher durch die Realität widerlegt.

In den Ländern, die sich nach der Finanzkrise von 2007 einigermaßen erholt haben, haben wir es längst wieder mit einer wachsenden Finanzindustrie zu tun, während auch dort der Lebensstandard und der Reallohn für große Teile der Bevölkerung stagnieren oder weiter sinken. Öffentliche Güter wie Gesundheit, Bildung und Altersvorsorge werden weiterhin privatisiert und sinken in ihrem Qualitätsstandard, vom Lebensstandard der zukünftigen Generationen ganz zu schweigen. Die Jugendarbeitslosigkeit nimmt fast überall in der Welt zu. Gleichzeitig sind die Schulden auch aufgrund niedriger Zinsraten und der erhöhten Staatsausgaben gestiegen, während die Banken in ihrer Größe und Marktmacht (zusammen mit dem Schattenbankensystem) weiterhin eine wichtige ökonomische Bedeutung besitzen. Die Politik des leichten Geldes bzw. des »Quantitative Easing« hat die Preise der Aktien und der finanziellen Assets erhöht und die wachsenden »emerging markets« destabilisiert.

Das fiktive und spekulative Kapital (finanzielle Instrumente und Zahlungsversprechen) waren als eine Art Embryo von Beginn des Kapitalismus an präsent, zumal kapitalistische Produktion der Unternehmen prinzipiell vorfinanziert werden muss und damit Schulden, die mit den zukünftig produzierten Waren ja quasi versichert werden, je schon entstehen. Demnach ist das Kapital nicht als ein (absoluter) positiver Wert zu verstehen, wie dies bspw. der berühmte Ökonom Joseph Schumpeter noch angenommen hat, sondern als ein sozio-ökonomisches Verhältnis, bei dem gerade das intentional Negative (die Verschuldung) als positive Bedingung für die kapitalistische Produktion aufzufassen ist, wie dies etwa der ehemalige DDR-Ökonom Peter Ruben ausführt – Kapital bzw. Kapitalisierung ist Schuldenproduktion sui generis. (Ruben 1998: 53) In vielen Fällen werden, sieht man einmal von der Selbstfinanzierung der großen Unternehmen ab, die kapitalistischen Produktionsprozesse uno actu mit einem Kreditkontrakt in Bewegung gesetzt. Und die Möglichkeit der kapitalistischen Unternehmen, ihre zukünftigen Waren als Sicherheit zu verpfänden, inkludiert, dass ihre Produkte (das Recht mit ihnen einen Surplus zu extrahieren) potenziell schon Kapital sind, bevor irgendetwas überhaupt produziert und dann als Ware realisiert wird. Wir haben es also je schon mit einer finanzialisierten Kapitalproduktion zu tun, und auch deshalb nennt Marx sein Buch Das Kapital und nicht etwa »Die Ware« oder »Das Geld«.

Insofern das zinstragende, das fiktive und das spekulative Kapital in Gestalt von Krediten, Anleihen, Aktien und Derivaten sich heute wesentlich schneller vermehrt und zumindest nominell einen vielfach größeren Umfang angenommen hat als das ausgepreiste industrielle und kommerzielle Kapital, kann sich das Wachstum der Assets bzw. Vermögenswerte wohl kaum noch einzig aus der Kapitalakkumulation der »Realwirtschaft« speisen, vielmehr ist hier von einer endogenen, das heißt einer dem Kapital immanenten finanzialisierten Kapitalbildungspotenz auszugehen, die auf die Realwirtschaft einwirkt und produktive, aber auch negative volkwirtschaftliche Effekte zeitigt.3 Das finanzielle Kapital operationalisiert heute in enormen Summen Kredite, fiktives und spekulatives Kapital und weitere multiple Kapitaläquivalente, die sich durch ihre hohe Liquidität, Mobilität und Kommensurabilität auszeichnen und deshalb in ganz spezifischen Bewegungsformen prozessieren, die vielleicht denen der Mode- und Marketingindustrie nicht unähnlich sind. Die Zunahme insbesondere des fiktiven und spekulativen Kapitals im Verhältnis zum abstrakten Reichtum einer Ökonomie zeigt sich in einem immer höheren Anteil der finanziellen Profite innerhalb des Pools der gesamten Profite der Unternehmen an. Selbst die aus den Derivaten resultierenden Gewinne sind nicht in einem vulgären Sinn als fiktiv anzusehen, denn die Derivate werden ja in Geld realisiert und besitzen damit alle Merkmale der Kapitalmacht, insbesondere auch im Zugriff auf den abstrakten Reichtum, der in einer Ökonomie produziert wird. Diese Profite (Dividenden, Zinsen und die profitable Realisierung der Assets in Geld) haben zwar keinen unmittelbaren Bezug zur industriellen Produktion und zur Zirkulation von klassischen Waren, vielmehr werden sie durch die finanzialisierten Prozesse autoreferenziell generiert, aber dennoch besitzen sie ganz reale Wirkungen auf die »Realwirtschaft«.

Das moderne Finanzsystem ist eine dem Kapital immanente soziale Relation, die nicht nur die Vermehrung von Kapital inkludiert, indem Geldkapital von den schrumpfenden in die expandierenden Sektoren der Wirtschaft umgeleitet wird, sondern indem das Finanzsystem selbstreferenziell Profite generiert und damit zugleich die kapitalistischen Machtbeziehungen in umfassender, wenn auch krisenhafter Weise, absichert. Die permanent stattfindenden Bewertungen, Evaluationen und Kalkulationen der Verwertungsprozesse des Kapitals, die gegenwärtig insbesondere über das Finanzsystem verlaufen, besitzen wichtige Konsequenzen für die Volkswirtschaften und für die Organisation der kapitalistischen Machtbeziehungen insgesamt und verstärken die Implementation der jeweils in einer Konjunktur hegemonialen Kapital-Tendenzen in das gesamte antagonistische sozio-ökonomische Feld.

Dieser marxistischen Position stehen einige bis auf Ricardo zurückreichende Theorieansätze gegenüber, die sich auf Veblen, Hilferding und teilweise auch auf Keynes berufen, bis hin zu den heute heterodox genannten Positionen des Postkeynesianismus und des Akzelerationismus, des Postmarxismus (Negri/Hardt, Zizek, Lapavitsas etc.) und zu solchen Positionen wie denen von Bichler/Nitzan. Die Macht des Kapitals wird hier primär aus den Eigentumsverhältnissen abgeleitet und der Profit des Kapitals erscheint zum Teil als eine absolute Rente (siehe die Rede vom Finanzfeudalismus); das Finanzsystem organisiere die Sabotage der industriellen Beziehungen, die hauptsächlich von Technikern und Arbeitern gestaltet werden, und es basiere, der Systemtheorie folgend, auf einem System der Beobachtung zweiter Ordnung (Vgl. Luhmann 1984, Esposito 2010). Der Aufstieg des modernen Finanzsystems wird zusammenfassend als parasitär, hypertroph und dysfunktional begriffen, womöglich noch als das Zerrbild eines idealen Produktionskapitalismus. Dies ist eine dem Marxismus diametral entgegengesetzte Position .

Die Finanzmärkte besitzen heute eine duale Funktion: Zum Einen werden an ihnen die ökonomischen Akteure (Unternehmen, Staaten und Haushalte) mittels statistischer und stochastischer Machttechnologien bewertet, und zum Anderen fungieren sie als eine funktionale Instanz der Kapitalisierung von zukünftigen Zahlungsversprechen, wobei diese inzwischen auf globaler Ebene in Echtzeit gehandelt werden. Während die Bilanzierung im »Realsektor« lange Zeit vergangenheitsorientiert vonstatten ging, mutierte ab den 1970er Jahren die an der Zukunft ausgerichtete Kapitalisierung, das heißt die Kalkulation bzw. die Diskontierung zukünftig erwarteter Zahlungsströme und -versprechen, zur wichtigsten Methode des kapitalistischen Finanzsystems, mit der die Erlangung von monetären Profiten entweder ganz real stattfindet oder zumindest finanziert wird. Die Derivate und alle weiteren exotische Finanzinstrumente, welche einerseits als Machttechnologien, andererseits als neue spekulative Kapitalformen, mit denen Profite erzielt werden, zu begreifen sind, sind heute eine notwendige Bedingung für die ständig stattfindende Implementation der Finanzialisierung in das gesamte ökonomische Feld. Sie führen eine formative Perspektive auf die konkreten aktuellen Risiken ein, machen diese untereinander kommensurabel und reduzieren damit die Heterogenität der konkreten Risiken auf ein singuläres Wertpapier, i. e. auf ein einziges soziales Attribut, nämlich das des abstrakten Risikos, das die Derivate eben verkörpern, die aber immer in Geld realisiert werden müssen.

Dabei ist die Analyse des finanziellen Systems4 nicht als diejenige eines verselbständigten finanziellen Sektors oder eines spezifischen Typus von Institutionialisierung durchzuführen, vielmehr hat sie davon auszugehen, dass heute ausnahmslos alle großen kapitalistischen Unternehmen wichtige finanzielle Operationen durchführen. An dieser Stelle unterscheidet der französische Ökonom François Chesnais in seinem neuen Buch Finance Capital Today zwischen der Finance als einem hochvernetzten und interdependenten Konglomerat, das aus Versicherungen, Pensions- und Investmentfonds, Groß-, Schatten- und Zentralbanken, transnationalen industriellen und kommerziellen Konzernen und mächtigen Großhändlern besteht (organisatorische Ebene), und der Finance qua Finance, den Prozessen der Expansion des fiktiven Kapitals und der Derivate, die von großen Banken, Investmentfonds und Hedgefonds gehalten, gestaltet und an den Finanzmärkten gehandelt werden (prozessuale und funktionale Ebene). (Chesnais 2016: 36) Hinsichtlich solcher die Unternehmen charakterisierenden Faktoren wie Anzahl, Größe, Bilanzsumme, Geschäftsvolumen, Vernetzungsgrad, Stellung im kapitalistischen Reproduktionsprozess und Machtposition kam es in den letzten Jahrzehnten im globalen Finanzsystem und an den Weltmärkten zu einem wichtigen Wandel. Die Autoren Glattfelder, Vitali und Battiston zeigen in ihren Analysen, dass aktuell 737 Firmen auf circa 80 Prozent des gesamten globalen Marktes Einfluss nehmen, wobei eine hoch vernetzte Kerngruppe von 147 Firmen die allein auf fast 40 Prozent tut. Dieses Netzwerk besteht fast nur aus britischen und amerikanischen Banken und Finanzfirmen. (Vgl. Sahr: Kindle-Edition: 8621). Auf ihrem Peakpoint generierte die Finanzindustrie in den USA 40% aller einheimischen Unternehmensprofite und repräsentierte 30% der Marktpreise des Aktienvolumens in den USA. (Satyajit Das 2015: Kindle Edition: 571). Das Finanzsystem profitiert dabei von den Asymmetrien der enormen Anzahl der Informationen, die sich aus den Handlungen der Käufer und Verkäufer von komplexen Finanzprodukten ergeben, mit denen wiederum die Diskrepanzen in den Ratings ausgenutzt werden, um generell die Kapitalkosten zu senken. Zudem führt die Praxis der Aktienrückkäufe und der Kapitalrückführungen zu steigenden Aktienkursen. Im Januar 2008 nutzten die großen US-Unternehmen 40% ihres Cashflows, um ihre eigenen Aktien zurückzukaufen. (Ebd.: 604).

Die Metapher »zentrales Nervensystem des Kapitals«, die Tony Norfield in seinem Buch The City zur Charakterisierung des gegenwärtigen Finanzsystems verwendet, deutet zutreffend diese Entwicklung der kapitalistischen Ökonomien an. Wenn das Kapitalprinzip der Motor des atmenden Monsters namens Gesamtkapital ist, dann ist das finanzielle System dessen Gehirn und Zentralnervensystem.5 (Norfield 2016: Kindle Edition: 168) Randy Martin (Lee, Martin 2016: Kindle-Edition: 3312) hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass das Finanzsystem in den drei Bänden von Marxens Kapital insofern immanent sei, als es in den Bewegungen der Produktion und der Zirkulation und der damit verbundenen Notwendigkeit, das Risiko zu antizipieren, eine wichtige Funktion für die Reproduktion des Kapitals einnehme. Das Finanzsystem exekutiert zu einem nicht unerheblichen Teil die Konkurrenz, die Koordination und die Regulation der Unternehmen (in allen Sektoren), denen wiederum das Gesamtkapital vorausgesetzt ist, das sich über die reale Konkurrenz der Unternehmen, die für Marx allemal kein Ballett, sondern ein Krieg ist, aktualisiert. Das finanzielle Kapital moduliert andauernd die Konkurrenz aller Unternehmen und entfacht sie neu – es ist also ein integraler Teil der Kapital-Ökonomie und kein Krebsgeschwür, das ein Arzt entfernt, um dem Kapitalkörper wieder zur Gesundheit zu verhelfen.6

Für Norfield sind die Operationen des Finanzsystems keineswegs auf die vielfältigen Strategien der Banken, der Investmentfonds und anderer Finanzinstitutionen begrenzt, vielmehr betreffen sie das kapitalistische System und seine Unternehmen insgesamt, insofern eben auch die industriellen und kommerziellen Unternehmen ständig eine Vielzahl von finanziellen Transaktionen durchführen müssen. So benutzen die international agierenden Unternehmen die privaten Banken, um an die Währungen zu gelangen, die sie benötigen, um Importwaren zu kaufen, oder um die Gewinne, die aus ihren Exportgeschäften stammen, in die einheimische Währung zu tauschen. Unternehmen leihen sich von den privaten Banken kurzfristige Kredite, um ihre Cashflows zu sichern, oder sie nehmen längerfristige Kredite auf, um ihre Investments zu finanzieren. Sie geben Anleihen oder Aktien an den Finanzmärkten aus, um sich Geld von Investoren zu verschaffen, und sie benutzen Derivate, um sich gegen ungünstige Bewegungen der Zinsraten, die ihre Profitabilität einschränken, abzusichern. Beispielsweise kann der Einkauf von Rohstoffen, IT-Systemen, Gebäuden, Maschinen und Arbeitskräften, der getätigt wird, um neue Waren zu erzeugen, die mit Gewinn verkauft werden sollen, durch anstehende Zinszahlungen reduziert werden. Und die Nettoprofite der Industrieunternehmen werden durch alle möglichen finanziellen Transaktionen affiziert, angefangen vom Hedgen der Währungen bis hin zu Zinsratenrisiken, insbesondere, wenn die Unternehmen selbst in finanzielle Sicherheiten investieren. Die Finanzierung der kapitalistischen Produktion und Zirkulation ist ein entscheidender Aspekt der Reproduktion des Kapitals auf erweiterter Stufenleiter.

1 Eine säkulare Stagnation impliziert, dass das Kapitalangebot größer als die Nachfrage nach Kapital ist, was zu einer Verringerung der Zinssätze führt. Zudem betrifft der Nachfragemangel auch das Warenangebot, was zu einem sinkenden Preisniveau führt.

2 Sofern die einzelwirtschaftliche Verwendung des Mehrwerts zur Kapitalaufstockung zugleich das Gesamtkapital vergrößert oder mit einer Steigerung der Produktivität einhergeht, kommt es zu einem Wachstumsprozess der Produktion in einer Ökonomie, und das Bruttoinlandsprodukt steigt.

3 Für Lohoff/Trenkle ist spätestens ab den 1980er Jahren das finanzielle Kapital der Motor für die Ausdehnung der globalen Warenproduktion, die schon seit den 1960er Jahren auf einem hohen Produktivitätsniveau und auf Grundlage fortschreitender Prozessautomation stattfand. Die Autoren sprechen hier von »induzierter Wertproduktion« (Lohoff/Trenkle 2012: 147f.) oder von einem »inversen Kapital«, weil nicht nur der Faktor, dass die Wertproduktion auf der Extraktion des Mehrwerts durch den Gebrauch der Arbeitskraft durch das Kapital beruht, sondern auch der Sachverhalt, dass die Produktion immer umfangreicher von der wachsenden Akkumulation des fiktiven Kapitals angetrieben wird, für die Fragen der Kapitalakkumulation wesentlich ist. Ohne die Produktion des fiktiven Kapitals hätte das fungierende Kapital (das in der »Realwirtschaft» investierte Kapital) längst in einen Zyklus der großen Entwertung eintreten müssen.

Die Finanzvolumina sind im Rahmen der globalen ökonomischen Transaktionen erheblich gewachsen, wobei dieses finanzielle Deepening in den entwickelten Ökonomien der westlichen Länder sich in den entsprechenden Zahlen ausdrückt: Die Bankeinlagen besitzen dort heute im Durchschnitt einen Wert von 200% des Bruttoinlandsprodukts. (Sahr 2017: Kindle-Edition: 4902) Der Global Wealth Report bezifferte im Jahr 2010 die Finanzvermögen (ohne Derivate) auf 231 Billionen Dollar und damit auf das Vierfache des damals aktuellen globalen BIP. Das Gesamtvolumen der Derivate wuchs zwischen den Jahren 1998 und 2008 von 72 auf 673 Billionen Dollar an und erreichte damit das Zwölffache des weltweiten BIP. (Vgl. Lohoff 2014: 6) Entsprechend sind die Schulden der Nichtfinanzakteure (Staaten, Unternehmen und Haushalte) in den OECD-Ländern von 167% im Jahr 1980 auf 314% der Wirtschaftsleistung im Jahr 2009 gestiegen. Der Anstieg von 147 % verteilt sich auf den Staat mit 49%, auf die Unternehmen mit 42% und auf die Haushalte mit 56%. (Sahr 2017: Kindle-Edition: 4916) Weltweit lag der Schuldenüberhang im Jahr 2015 gegenüber dem globalen BIP bei 286%. (Pettifor 2017: Kindle-Edition: 85) Gleichzeitig haben sich die Gewinne des Finanzsektors in Relation zu den Unternehmensgewinnen in den entwickelten Ökonomien seit dem Jahr 1980 verdoppelt.

Diese Zahlen klingen durchaus beeindruckend: So betrug der totale Nominalwert der Derivate schon am Ende des Jahres 2012 694,4 Billionen Dollar, während der Wert des globalen BIP sich auf 71,1 Billionen Dollar belief. Dabei entfiel auf die »off-exchange derivate markets« eine Summe von 642,1 Billionen Dollar. (Bank of International Statements 2013) Hier sind jedoch einige Einschränkungen in der Beurteilung der statistischen Größen vorzunehmen, denn die ausgewiesenen Geldsummen repräsentieren lediglich den nominalen Wert der Derivate (die möglicherweise zu zahlenden Beträge; man kann sie auch als virtuell bezeichnen, weil die Derivate hier noch nicht realisiert sind). Im Jahr 2012 wurde der «gross market value« der Derivate (der Marktpreis der Derivatverträge) auf 24,7 Billionen Dollar geschätzt; er liegt damit ungefähr auf der Höhe der addierten BIP der beiden größten Volkswirtschaften USA und China. Zudem heben sich die Derivatverträge qua Hedging gegenseitig auf, sodass das Nettokreditvolumen der OCT-Derivate auf 3,6 Billionen Dollar am Ende des Jahres 2012 geschätzt wurde, eine Summe, die in etwa dem BIP Deutschlands vergleichbar ist. (Ebd.)

4Louis Althusser bezeichnet das System ganz allgemein als ein endliches Set von Elementen oder als Elemente, die unter eine endliche Anzahl von Kategorien, zu denen auch die Kategorie des Unendlichen zu zählen ist, subsumiert und aus nur einem Grund zusammengefügt werden, nämlich der Erlangung eines identischen Ganzen. Die Einheit des Systems ist immer das Resultat einer Vereinheitlichung. (Althusser 2017: 176)

5 Hier muss man allerdings der Gefahr ausweichen, das ökonomische System mit einem Organismus gleichzusetzen, eher ist vom Kapital als einem antagonistischen System zu sprechen. Die Integration, die einem Organismus mit seiner Homöostase gelingt, kann dieses System nicht leisten.

6 Von Marx wurde das Finanzsystem als die Steuerungsinstanz der kapitalistischen Akkumulation im Kapital Bd.3 nur rudimentär entwickelt (vgl. MEW 25: 451ff. und 620), obgleich er sich bereits in den Grundrissen über folgenden Sachverhalt ganz im Klaren war: »Im Geldmarkt ist das Kapital in seiner Totalität gesetzt; darin ist es preisbestimmend, arbeitgebend, die Produktion regulierend, in einem Wort Produktionsquell (MEW 42: 201). Ausführlicher dazu (Heinrich 1999: 299ff).

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