Das Zeitalter des spekulativen Kapitals und der globalen Zirkulationskämpfe (1)

Michel Feher behauptet in seinem neuen Buch Rated Agency, dass der finanzialisierte Kapitalismus, der in den 1970 seinen Ausgangspunkt nahm, einer kopernikanischen Revolution gleichkomme, insofern das neue Regime der Kapitalakkumulation sich nicht länger auf industrielle Unternehmen konzentriere, die auf vertikaler Integration und internem Wachstum aufbauen, sondern das  in diesem Regime sowohl die Unternehmen als auch die Ökonomien, deren Teil jene sind, sich auf die Finanzmärkte beziehen müssten, die von großen globalen Banken und institutionellen Investoren beherrscht würden (und vom Schattenbankensystem muss man hinzufügen).

Die Finanzialisierung der entwickelten Ökonomien lässt sich anhand der relativen Größe des Finanzsektors im Vergleich zum BIP, des Volumens der Profite, welche die Finanzinstitutionen im Vergleich zu anderen Unternehmen realisieren, und anhand der Portfolioeinkommen der nicht-finanziellen Unternehmen messen. Was über solche Indikatoren hinaus, welche den Transfer von Geldmitteln von der Realökonomie hin zu den spekulativen finanziellen Kreisläufen nachweisen, die Kreditgeber heute auszeichnet, ist ihre Macht, sich diejenigen Projekte auszusuchen, die es verdient haben, finanziert zu werden, womit wiederum diejenigen, die auf Kredite angewiesen sind, andauernd ihre Attraktivität für Investoren nachweisen und damit ihre ökonomischen Aktivitäten nicht nur an die Erzielung von Profit, sondern auch an der Herstellung von Kreditwürdigkeit ausrichten müssen.

Vor allem die Aktienunternehmen müssen nicht nur bemüht sein, die Differenz zwischen Einnahmen und Produktionskosten langfristig zu maximieren, sondern auch kurzfristig zugunsten der Shareholder an einer Steigerung der Aktienpreise, die durch die Finanzmärkte bewertet werden, zu arbeiten. Somit resultiert der reale Erfolg dieser Unternehmen nicht ausschließlich aus der Realisierung von Profiten, die durch den Verkauf von Produkten und Dienstleistungen erzielt werden, sondern beruht auf dem Kapitalgewinn, der auch aus Aktienrückkäufen erlangt werden kann.

Die Hegemonie des Kredits betrifft aber nicht nur den privaten Sektor, sondern bezieht sich auch auf die nationalen Regierungen, die nun die Attraktivität ihres nationalen Standorts für das finanzielle Kapital erhöhen müssen. Um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen in einer globalen Umgebung, in der das finanzielle Kapital frei zirkulieren kann, zu steigern, müssen die Staaten ihr Territorium für die internationalen Investoren so attraktiv wie möglich gestalten, indem sie die Eigentumsrechte absichern. Gleichzeitig sind die Regierungen und Parteien gezwungen, ihre Wiederwahl zu organisieren, was laut Feher seit den 1980er Jahren dazu beiträgt, dass die Staaten sich nun immer stärker über die Emission von Staatsanleihen anstatt über Steuern finanzieren, das heißt die staatliche Verschuldung befeuern, um die Steuerlasten für die Bevölkerung nicht zu hoch zu fahren und den Sozialstaat nicht ganz abzubauen. So verstärken die Staaten und ihre Regierungen andauernd ihre Abhängigkeit von den Finanzmärkten, die dann dafür gelobt werden, dass sie die ökonomische Disziplin der von ihnen kreditierten Agenten zur Zufriedenheit aller befördern. Um dem Misstrauen der Anleihenmärkte, das sich in steigenden Zinsraten für Staatsanleihen ausdrückt, zuvorzukommen, müssen die Regierungen die Flexibilität der Arbeitsmärkte erhöhen, die Sozialprogramme kürzen, die Kapitalsteuern reduzieren und jede seriöse Regulierung der Finanzmärkte zurückfahren. In den 1990er Jahren nahm die Staatsverschuldung, die den Ausfall von Steuereinnahmen kompensieren sollte, aber solche Ausmaße an, dass die privaten Kreditgeber sich um die Solvenz der Staaten sorgten, sodass die Sozialleistungen weiter gekürzt werden mussten und Teile der Bevölkerung, die von öffentlichen Leistungen abhängig waren, dazu ermuntert wurden, Kredite aufzunehmen, um die fehlenden Sozialleistungen zu kompensieren.

In typisch neoliberaler Manier wurde argumentiert, dass die Bürger damit dazu angehalten würden, die Disziplin hinsichtlich des Managements ihres eigenen Lebens als das eines Business autonom und selbstverantwortlich zu verstärken. Und die Frage der Kreditwürdigkeit betrifft natürlich auch Individuen, die sich nicht mehr auf langfristige Jobs und staatlich garantierte Sozialleistungen verlassen können, da die Unternehmen und Staaten, die selbst von der Evaluation der Finanzinvestoren abhängig sind, keine langfristigen Arbeitsverträge und ausreichenden Sozialleistungen mehr anbieten können, sodass die jobsuchenden Individuen sich selbst bewertbar machen müssen, etwa durch gutbezahlte fachbezogene Kompetenzen, Flexibilität und ausreichendes Networking. Ihre Möglichkeit, einen Job zu finden, wird nun stärker auf den Kredit, der dem Humankapital zugeordnet wird, beeinflusst, als durch kollektive Verträge zu Gehältern und Arbeitsbedingungen.

Die materielle Prekarisierung forciert die Notwendigkeit für größere Teile der Bevölkerung Kredite aufzunehmen, um Zugang zu Häuser zu bekommen, das Studium fortzusetzen und bestimmten Konsumwünschen nachzukommen oder einfach zu überleben. Und für Kreditaufnahmen muss man Sicherheiten nachweisen. Wenn dies nicht der Fall ist, dann müssen, um die Solvenz nachzuweisen, zumindest Perspektiven (steigender Marktwert des Hauses) oder Reputation, die darin besteht, dass bspw. durch den Lohn der Kredit zurückbezahlt werden kann, nachgewiesen werden. Die neoliberalen Reformen trugen dazu bei, die Individuen, die vom utilitaristischen Kalkül den eigenen Nutzen bzw. das Einkommen zu maximieren, besessen sind, in das finanzialisierte Subjekt zu überführen, das seine eigene Wertigkeit auf die kontinuierlich zu bewertenden Assets verschiebt, um das kleine Kapital x zu maximieren.

Damit hat sich auch die Kritik am Kapitalismus, die sich gegen die Profitgetriebenheit der Unternehmen richtet, auf die finanziellen Institutionen, die mit der Allokation von Krediten beschäftigt sind, verschoben. Obgleich die Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital keineswegs verschwunden ist, so sind es doch die Forderungen der finanziellen Investoren, die in der Öffentlichkeit allenthalben auf Widerspruch stoßen, indem man diese für die steigende Unsicherheit an den Arbeitsmärkten und die prekären Arbeitsbedingungen verantwortlich macht.

Feher stellt in seinem Text noch einmal die allseits bekannte Mehrwerttheorie von Marx vor, um dann zu zeigen, dass die heutigen finanziellen Investoren nicht einfach nur die Rolle des klassischen Kapitalisten übernehmen. Spezifisch für diese Art der Investoren ist nicht das Aufsaugen von enormen Dividenden, Zinszahlungen und anderen finanziellen Einkommen, was hier entscheidend ist, das besteht darin, dass diese Investoren die Macht besitzen, die Teilnehmer auszuwählen, die finanzielle Ressourcen benötigen. Es ist nicht die Aneignung von Einkommen, sondern die Allokation des Kapitals, die konstitutiv für die Rolle des finanziellen Investoren ist, das heißt, stärker als die Aneignung schlägt die Akkreditierung zu Buche.

Die Verstärkung der Kritik an der selektiven Macht der finanziellen Investoren gegenüber der an den ausbeutenden Kapitalisten heißt für Feher nicht, dass die Ausbeutung der Arbeitskraft zurückgegangen wäre, im Gegenteil, in Unternehmen, die insbesondere für die Shareholder aufgestellt werden, müssen die Manager weiterhin strengstens darum bemüht sein, die Arbeitskosten die reduzieren. Aber es sind nicht die neuen Formen des Unternehmensmanagements, die zum Großteil für den Transfer der Einkommen von der Arbeit hin zum Kapital verantwortlich zu machen sind, im Gegenteil, für die Stagnation der Reallöhne und den Abbau des Sozialstaats ist die »Rating power« der finanziellen Investoren verantwortlich zu machen. Der Wegfall legaler und administrativer Bestimmungen, welche die Zirkulation des Kapitals über nationale Grenzen hinweg (als auch die der finanziellen Aktivitäten) befreiten und die Kreation neuer Formen der Assets, Derivate, ermöglichten, führte dazu, dass ausschließlich die Händler der finanziellen Liquidität die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen sowie die ökonomische Attraktivität nationaler Territorien beurteilen und bewerten. Die Akkreditierung als Form der Bewertung des Kapitals ist nun zu bestimmen,.

Von der Perspektive des der Klassenidentifikation her gesehen, gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen dem klassischen Unternehmer und dem finanziellen Investor. Die funktionale Differenz hat hier den Aspekt ihrer Operation einzubeziehen. Für den Unternehmer ist es der Arbeitsmarkt, an dem eine Ware, die man Arbeitskraft nennt, von ihren Eigentümern angeboten wird. Die Investoren hingegen befinden sich an den Finanzmärkten, in der Geschäfte aller Art in Assets transformiert werden. Die Unternehmen versuchen Mehrwert zu extrahieren und zu realisieren, währen die Investoren über die Allokation des Kredits bestimmen sowie die Kreditwürdigkeit ihrer Kunden festlegen.

Die Unternehmer betreiben das Geschäft der Aneignung des Mehrwerts, den die Arbeiter produziert haben, die Investoren entscheiden darüber, was überhaupt produziert wird. Die Investoren zeichnen sich also nicht dadurch aus, dass sie gleich den industriellen Kapitalisten, um Profite zu erzielen, die Preise ihrer Produkte erhöhen oder die Produktionskosten minimieren, um es einfach auszudrücken, sondern auf was sich die Investoren stürzen, das sind Projekte, die ihre eigene Kapazität zur Kreditierung vermehren. Solche Projekte beziehen sich auf die Haushalte von Staaten, Businesspläne von Unternehmen, Studentendarlehen, Konsumentenwünsche, die Fiktionen von Start-Ups und die Kreditscores der Lohnabhängigen. Für die Finanzinstitutionen sind Staaten, Unternehmen und Haushalte legale Entitäten, die als Objekte dienen, denen man Kreditwürdigkeit zuspricht oder eben nicht. Die Investoren evaluieren permanent diese Objekte auf ihre Kreditwürdigkeit, wobei die Reversibilität zwischen Investoren und denjenigen, die sie empfangen, die Feher »Investee« nennt, nicht gewährleistet ist, zumindest nicht wie die zwischen Unternehmern und Angestellten, die eine duale Funktion als Käufer und Verkäufer einnehmen. Wenn auch das finanzielle Kapital in seinen globalen, liquiden und anonymen Formen als der »reine Investor« bezeichnet werden darf, so müssen als konkrete Institutionen und Individuen doch die »Investees« miteinbezogen werden, die aber keine symmetrische Beziehung zu den Investoren unterhalten, die ihre Fonds einsetzen und in Projekte investieren, die sie selbst bewerten. Zugleich nehmen die Investoren aber auch Kredite auf.

Auf den Arbeitsmärkten verhandeln die Käufer und Verkäufer der Arbeitskraft die Preise aus. An den Kapitalmärkten hingehen findet die Preisbestimmung nicht über Verhandlungen, die etwas austauschen, statt, sondern durch die Spekulation von Investoren, deren Objekt derjenige »Wert« ist, den sie handelbaren Assets zuweisen, abhängig von der Attraktivität der Assets, über die andere Marktteilnehmer mitbestimmen. Deshalb ging Minsky davon aus, dass Finanzmärkte strukturell instabil sind, weil die Operationen auf ihnen niemals zur Bestimmung eines Gleichgewichtspreises führen. Vielmehr führen Preissteigerungen von Assets, die auf Gerüchte und Erwartungen zurückgehen können, zu weiteren Preissteigerungen, während umgekehrt in Phasen des Misstrauens Preissenkungen zu weiteren Preissenkungen der Assets führen. An den Finanzmärkten werden nicht Verhandlungen zwischen Händlern koordiniert, es ist vielmehr an ihnen ständig Liquidität herzustellen, um die Spekulationen der Investoren zu ermöglichen. Die Optimierung der Kosten, welche die Transaktion an den klassischen Märkten inspiriert, wird durch die Kalkulation zukünftiger Erwartungen der verschiedenen Marktteilnehmer ersetzt.

Was hier stattgefunden hat, ist der Shift der Interessen der Investoren und ihrer Aktivitäten von der Extraktion des Profits hin zu zur Attribution von Kredit. Die Freiheit, die der Kapitalismus sowohl den Investoren als auch den Investees (denjenigen, die Kredite aufnehmen, um Projekte in Gang zu setzen, die durchaus auch gewinnbringend sein können) gewährt, ist nicht die der Verhandlungen, mit denen sowohl die Kapitalisten als auch die Arbeiter im industriellen Kapitalismus konfrontiert waren, sondern es ist die Freiheit zu spekulieren oder auf die Spekulanten anderer zu spekulieren, um die eigenen Assets zu gestalten. Mehr als die Verteilung dessen, was produziert wurde, versuchen Investoren und Investees die Selektion dessen zu beeinflussen, was produziert wird. Weniger die Einkommensverteilung zwischen Arbeit und Kapital als die Konditionen der Kapitalallokation sind hier das entscheidende Moment der Operationalisierung.

Foto: Bernhard Weber

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