Der Begriff der Infrastruktur bei Laruelle

Die Vielzahl der Probleme, die der Marxismus dem Nicht-Marxismus aufgibt, betreffen weniger die Programme, die Texte oder die Intentionen, sondern sie konzentrieren sich auf den Gebrauch eines theoretischen Stils. (Ebd.: 63ff.) Laruelle definiert den nicht-marxistischen Stil als eine theoretische Sprache, die gemäß der radikalen Identität determiniert ist – Identität, die es erlaubt, wichtige Elemente der Philosophie und der Wissenschaften zu konjugieren (revolutionäre Transzendenz und individuelle Immanenz), und dies kraft-des-Denkens gemäß dem einzig tragenden Grund, nämlich gemäß dem Realen, der radikalen Identifikation mit ihm. Dies betrifft den axiomatischen Aspekt des Nicht-Marxismus. In der letzten Identität (theoretischer Aspekt) bezieht sich der Nicht-Marxismus weniger auf Marx` Texte oder auf die des Marxismus-Leninismus oder des westlichen Marxismus, sondern eher auf die in den Texten enthaltenen Probleme, die zur Tradition des Marxismus gehören, aber in jedem Moment bleibt dabei das Reale vorausgesetzt, das Reale als die Immanenz der Infrastruktur selbst, die auch indifferent gegenüber dem Materialismus bleibt, mit dessen Hilfe der Marxismus versucht hat, sich dem Realen immer wieder anzunähern.1 Der Nicht-Marxismus kehrt nicht derart zu den Marx`schen Werken zurück, als ob es sich bei diesen um besonders empfängliche Texte handeln würde, die irgendwie philosophisch neu zu interpretieren wären. Wenn er zu Marx zurückkehrt, so dann eben eher zu den in den Texten aufgeworfenen Problemen als zu den Texten selbst, wobei man hinsichtlich der angestrebten Lösungen darauf zu achten hat, die Texte als reines Material oder Symptome zu behandeln, indem man zuerst jede Form der philosophischen Autorität suspendiert. Es muss fehlschlagen, verborgene Möglichkeiten oder Sequenzen aus den gegebenen theoretischen Feldern des Marxismus zu extrahieren. Die marxistischen Texte benötigen mehr als nur eine simple Revision oder eine (vielfach wiederholte) Neu-Lektüre, sie benötigen in Zukunft ein nicht-, das als radikale Kritik (Trennung vom kritisierten Gegenstand, dem Kapital, und Generalisierung im Sinne der Erweiterung hin zu einem nicht-euklidischen Marxismus) selbst ein Effekt des Realen und der generischen Wissenschaft bleibt. 2 Dabei dient Marx` Theorie dem Nicht-Marxismus als die wichtigste Unterstützung, seine Texte bleiben dennoch eine der tausend Quellen des Nicht-Marxismus. (Selbst die Geschichte dient dem Nicht-Marxismus nur als bloßes Material.)

Im traditionellen Marxismus wird die Infrastruktur bzw. die Basis zumeist auf den Begriff der Produktivkräfte oder den der Relation zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen reduziert; es wird in diesem Kontext zudem eine Teilung zwischen Wissenschaft (Basis) und Philosophie (Überbau) vorgenommen, und darüber hinaus bleibt der Marxismus mit seiner Konzeption des Klassenkampfs in die bilaterale Struktur des Widerspruchs (eminent philosophisch) und der Klassen (eminent bourgeois) eingeschlossen. (Ebd.: 46) Noch die verschiedenen Diversifizierungen des Widerspruchs (Antagonismus) verbleiben in diesem Feld. Die theoretische Praxis beschäftigt sich jedoch generell nur am Rande mit Widersprüchen, meist ist sie mit Axiomen, Hypothesen und Theoremen, mit theoretischen Mitteln – Sammeln, Suchen, Ordnen und Auswählen – und Schlussfolgerungen beschäftigt. Man erklärt oft etwas allzu leicht für widersprüchlich, was eigentlich nur einen Widerstreit (Lyotard) enthält. Dieser impliziert keine Logik, sondern bezeichnet widerstrebende Tendenzen, die auf unvereinbare Konstellationen hinweisen. Die größte Konfusion des Marxismus besteht für Laruelle allerdings in der Identifizierung des Realen oder der realen Basis mit der Ökonomie, der Bestimmung des Realen als einer regionalen Instanz. Diese Identifizierung führte den klassischen Marxismus zu den seltsamsten Unterscheidungen von Basis und Überbau, die am Ende nichts weiter her gaben als die Idee der Wechselwirkung zwischen Ökonomie und Politik/Kultur/Philosophie auszuführen. Noch in dem von Althusser und Balibar eingeführten Begriff »Überdeterminierung« wirkt dies nach. (Vgl. Balibar 2013: 144) Zudem durchzieht die Kon-fusion zwischen dem realem Grund (Eines) und dem singulärem Grund (Ökonomie) fast sämtliche Marxismen (auch Marx blieb davon nicht ausgeschlossen), sei die Vermischung nun ontologisch oder transzendental konzipiert – eben so, wie man es sich gerade wünscht. Für Laruelle muss jedoch noch jede Bestimmung der regionalen Kausalität (der Ökonomie) eine universelle Theorie (des Realen) passieren, um sich nicht dem Vorwurf des Empirismus auszusetzen.

Der Begriff der Infrastruktur wird von Laruelle unter drei Gesichtspunkten als nicht-ontologisch definiert: 1) Eins-Identität (sie gibt der Welt ihre Identität). 2) Uni-versalität (sie gibt die Welt und die Ideenwelt, i. e. Kapital und Philosophie vereinigt). 3) Uni-lateralität (sie gibt der Ideenwelt eine Identität). (Laruelle 2015: 76) Dieses Konzept der Infrastruktur bezieht sich auf jedes »Objekt«, egal ob dieses der Theorie oder einer anderen Instanz entnommen wird. Der Aspekt (des Objekts) betrifft hier die Rolle, die der Inhalt spielt, wenn er durch die Infrastruktur in der letzten Instanz uni-lateralisiert wird. Die Infrastruktur ist die Matrix einer transzendentalen Wissenschaft, die axiomatische und theoretische Aspekte besitzt, die, wie bei Laruelle nicht anders zu erwarten, nicht von Außen an das Reale herangetragen, sondern im Innen des Realen selbst konzipiert werden. Wenn Laruelle dann die Infrastruktur wiederum als Ökonomie regionalisiert, so vor allem deshalb, um das universelle und widerspenstige Reale im Korpus des Kapitals selbst zu entdecken. Vorläufig könnte man nun das Konzept der Determination (qua Infrastruktur) in vier Punkten zusammenfassen: 1) Die Universalisierung des marxistischen Konzepts der Basis, die im Nicht-Marxismus für das Reale steht (es gilt, die Vermischung zwischen realer Infrastruktur und ökonomischer Basis zu vermeiden). 2) Das Postulat einer Infrastruktur, die gegenüber jedem Überbau abgeschlossen bleibt, sodass selbst der Inhalt der ökonomischen Basis nur noch als ein Symptom übrig bleibt, um zur realen Basis zu gelangen, die von allen philosophischen Antinomien befreit ist. 3) Die Konzeption der »Determination in der letzten Instanz« (DLI), i. e. Axiomatisierung der Kausalität als eine nicht-ontologische Kausalität. 4) Die Unifizierung von Wissenschaft und Philosophie als theoretische Gegenstände, die beide auf die unilaterale Kausalität zu beziehen sind, die sui generis vom Realen ausgeht. (Vgl. Wark 2015)

Wo Althusser noch versucht hatte, einen Keil zwischen die hegelianisierenden und wissenschaftlichen Lektüren von Marx zu treiben, da treibt Laruelle einen Keil durch diesen Keil, indem er sich jeder philosophischen Hyper-Interpretation von Marx in toto verweigert. Seine große Entdeckung führte Marx auf das Feld der »Kritik der politischen Ökonomie«, von dessen Struktur Marx, so meint zumindest Althusser, noch keine konsistente Theorie entwickeln konnte; aber es bedarf für Laruelle eben noch einer zweiten Entdeckung, die Marx und den Marxismus jenseits der althusserianischen Begriffe »Struktur« und »Unbewusstes« auf das Reale als radikale Immanenz in der letzten Instanz bezieht. Indem Laruelle einerseits die DLI durch das Reale bestimmt, andererseits die immanente Unifizierung von Wissenschaft und Philosophie betreibt, fordert er einen neuen universellen Stil in der Theorie. Von daher stellt für Laruelle die klassische Unterscheidung zwischen Historischem Materialismus (Wissenschaft der Geschichte) und Dialektischem Materialismus (Philosophie der Wissenschaft) eine reine Katastrophe dar. So lässt sich erneut zusammenfassen: Der Marxismus stellt für Laruelle dar: 1) Die gewiss noch restringierte Form einer unifizierten Theorie, die noch viel zu eindeutig unter der Dominanz der Philosophie steht. 2) Eine nicht-transzendentale Wissenschaft, die ebenfalls unter der Dominanz der Philosophie steht, ohne sich von diesem suchterzeugenden pharmakon entwöhnen zu können. 3) Ein Substitut (HM/DM) für philosophische Essenz.

1 Die Problematik umfasst hier eine objektive theoretische Konstellation, die jeder theoretischen Aussage zugrunde liegt. Im Gegensatz zu Deleuze interessiert sich Laruelle allerdings wesentlich stärker noch für die Lösungen als für die Probleme. Für beide Theoretiker ist im Anschluss an Althusser jedoch klar, dass Theorien Praxen inhärieren, die vorgefundenes theoretisches Material mit spezifischen theoretisch-technischen Produktionsmitteln entweder reproduzieren oder etwas Neues hinzufügen, das die Defizite des Alten erkennbar macht und das Alte ersetzt.

2Alan Badiou unterscheidet drei Typen der Negation: Die »klassische Negation« ist eine starke Negation und folgt dem Gesetz der ausgeschlossenen Mitte und dem Gesetz des ausgeschlossen Widerspruchs. Die »intuitionistische Negation« ist eine schwache Negation und folgt dem ersten Gesetz, aber nicht dem zweiten Gesetz, das heißt, sie ermöglicht intermediäre Werte zwischen A und Nicht-A. Eine noch schwächere Negation stellt die »parakonsistente Negation« dar, die dem zweiten Gesetz, aber nicht dem ersten Gesetz gehorcht, das heißt, A und Nicht-A können zur selben Zeit und am selben Ort möglich sein. (Vgl. Badiou 2015)

Die Nicht-Philosophie macht insofern Gebrauch von einer intuitionistischen Negation, als sie die Multiplizität der Werte zwischen P (Philosophie) und Nicht-P (Nicht-Philosophie) anerkennt. Dies impliziert, dass das »Nicht« der Nicht-Philosophie keine absolute Negation darstellt, insofern sie das Material »enthält«, das sie negiert, das sie aber keineswegs verbessern oder auffrischen will, deshalb bleibt sie eine radikale Negation. Laruelles Drift zur Nicht-Standard-Philosophie zeigt hingegen, dass das Gesetz des ausgeschlossenen Widerspruchs insofern abgelehnt wird, als die Nicht-Standard-Philosophie sowohl Philosophie als auch Nicht-Philosophie inkludiert.

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