Der funktionelle Psychopath – zivilisierte Barbarei im Spätkapitalismus. Erste Thesen

1) Mit jeder zukünftigen Generation wird die Zahl der Überzähligen, also derjenigen, die für das Kapital nutzlos sind, höher werden. Die zukünftigen Automationsschübe werden die Zahl der Beschäftigten in den Zentren des Kapitalismus weiter senken und gleichzeitig mutiert die Lohnarbeit tendenziell zur reinen Beschäftigung, wenn nicht zur Beschäftigungstherapie, von der insbesondere diejenigen ausgeschlossen sind, welche die Maschinen kontrollieren.

2) Dass trotz des Zurückdrängens der Lohnarbeit möglichst viele in der Tretmühle der Inwertsetzung verbleiben, dafür sorgt unter anderem die Sharing Economy, die schon heute aus einem Gästezimmer oder einem unbenutzten Raum eine entgangene Einkommensquelle macht. Alles soll fortan als Einkommensquelle dienen, jeder Aspekt des Lebens messbar und gewinnbringend sein, und dies bezieht sich gerade auf das, was noch nicht produziert oder erzeugt ist.

3) Dabei ist der Beschäftigte weniger der Eigentümer einer Arbeitskraft, das heißt der Vermögen einer Reihe von Fähigkeiten, Qualifikationen und Potenzialen, sondern er ist selbst ein Konglomerat aus verschiedenen kleinen Kapitalsorten. Er ist das kleine Kapital x, das er zu steigern hat. Er ist damit potenziell Produzent, Produkt und Verkäufer des Produkts in einem Prozess, den man Leben nennt. Die Sportler, Künstler und Promis sind derzeit die Vorzeigebilder solch eines zu kapitalisierenden Lebens.

4) Das monetarisierte Leben ist schließlich eine Relation oder ein Spread, der ständig bewertet werden muss. Es ist der Basiswert, auf den spekuliert wird. Und dieser Spekulation gilt es zu unbedingt folgen, will man seinen Ruf nicht verlieren. Mehr noch, man hat der Spekulation und ihren Vorgaben nicht nur zu folgen, man hat sie outzuperformen. Die Deutsche Bank hatte vor einigen Jahren Lebensversicherungsfonds  im Angebot,  mit dem auf die Lebenserwartung verschiedener Personen spekuliert werden konnte. Es war sogar möglich, Wetten auf den Tod anderer Menschen abzuschließen und damit Rendite einzufahren. Das dürfte bald als überholt gelten. Gewettet werden muss dann auf die im Leben Erfolgreichen, die ihr at-risk-Sein gnadenlos und ohne Rücksicht auf Verluste als kleines Kapital  x verwerten. Es schlägt die Stunde des funktionellen Psychopathen.

5) Spekulationen und Messungen vollziehen sich heute über das Schreiben und Auspreisen von Derivaten. Das Derivat ist selbst eine Relation und besitzt einen materiellen Träger, in diesem Fall den Menschen. Infolgedessen wird jedes Bedürfnis, jede Befriedigung, der Wunsch, die Lebensformen und -akte Anlass zu punktuellen Bewertungen, Taktiken und Intentionen geben – Komponenten, die der Optimierung und der Effizienz der Verwertung des eigenen kleinen Ich-Kapitals x unterstellt sind.

6) Die Kapitalisierung inhäriert den berechneten (diskontierten) gegenwärtigen Wert der in der Zukunft zu erwartenden, risikobereinigten Gewinne einer ökonomischen Einheit. Die Preise von Derivaten basieren  auf den Marktkalkulationen zukünftiger monetärer und volatiler Gewinnströme, die aufgrund von Marktzinsraten und den Erwartungen der Marktakteure diskontiert werden. Oder, um es anders zu sagen, sie resultieren aus der Diskontierung der zukünftig erwarteten Gewinne mit dem aktuellen Marktzins und einem von der Qualität des Wertpapiers sowie der konjunkturellen Situation abhängigen Risikoaufschlag oder -abschlag (gewichteter Zins).

7) Die Logik der Kapitalisierung fällt heute bezüglich des Menschen mit einer unsichtbar regelnden Instanz, die das Leben organisiert und optimiert, zusammen. Jede Äußerung, jede Transaktion, jeder Sex, jeder Austausch, jeder Chat hat monetäre Folgen, die in das sich ständig verändernde Risikoprofil eingespeist werden können, welches wiederum von komplexe Algorithmen errechnet wird. Die zunehmende Begeisterung für Rankings, Rating und das Scoring, die exakt Quantifizierungen des Derivativen sind, betrifft heute schon alle Lebensbereiche.

8) Dabei verschwenden die Gebrauchswerte keineswegs, sondern sie werden in Echtzeit monetarisiert. Der Tauschwert eines Lebens unterscheidet sich tendenziell nicht von seiner materiellen Existenz, bleibt aber eine Relation und transformiert zum Derivat, das die Zukunft des materiellen Dings Leben kapitalisiert. Tag und Nacht sucht ein Heer von Analysten der Versicherungen, Banken und anderen Unternehmen weltweit nach verborgenen Quellen der Verwertung von Aspekten des Lebens, die zukünftig monetarisiert werden können, aber bisher in dem Derivatwert der Person noch nicht reflektiert sind. Der Lebenswert ist der Logos eines Derivats, wenn man dieses auf die Umgebung der Person und auf diese selbst bezieht. Dabei wird der Unterschied zwischen kleinem Kapital und Person zunehmend ausgelöscht, insofern das Leben insgesamt auf die Monetarisierung ausgerichtet wird, auf die Transformation einer sozialen Angelegenheit in eine Maschine zur Verwertung des kleinen Kapitals x. Der Lebensprofit wird direkt an die derivative Profitlogik des Kapitals angebunden.

9) Der Lebensprofit könnte beschönigend auch die Nutzenmaximierung eines Lebensproduzenten genannt werden, der in seiner Unersättlichkeit nicht nur alles haben, sondern es auch sofort haben will. Er lebt ganz in der Kaugummizeit des Jetzt und zukünftige Einkommen können ihn nur halbwegs für entgangenes Genießen im Jetzt entschädigen. Die zu verbessernde Differenz ist hier die Diskontierung, mit der zukünftig erwartete Einkommen durch Abzinsung auf ihren heutigen Wert herunter gerechnet werden. Der zukünftige zu realisi9erende Wert des Lebens ist daher auch immer ein Gegenwartswert.

10) In Zukunft wird einem Säugling ein auf die Zukunft bezogener Ertragswert zugeschrieben werden, ein Einkommensstrom, der im Lauf eines Lebens herzustellen ist; man wird diesen erwarteten Einkommensstrom diskontieren und den Ausgangspreis des Säuglings erhalten. Es ist deshalb kein Zufall, wenn der französische Unternehmensverband vorschlägt, jedem Franzosen von Geburt an eine Umsatzsteuernummer zuzuteilen. Dabei ist der Wert des Menschen nicht nur das Konglomerat aus seiner Gesundheit, Effizienz, Wissen, Beziehungen, Kreativität, Wünsche, Arbeitsfähigkeit, sondern er hat diese individuellen Merkmale in Zukunft zu verwerten. Gleichzeitig wird das Geld durch verfeinerte und granulare Informationen, die man jeder Person zuschreibt, ergänzt. Diese Informationen sind Derivate, die aber noch wie vor in Geld realisiert werden müssen. Klossowkis lebendes Geld hat sich nun im Derivat realisiert.

11) Ein großer Teil der Menschheit wird von dieser Art der Verwertung ausgeschlossen bleiben. Deren Säuglinge sind von vornherein Müll. Man wird den Produzenten solcher Säuglinge vorschlagen, sie in Zukunft besser nicht mehr zu produzieren. Das nennt man dann Geburtenkontrolle.

12) Das hier nur kurz skizzierte Risikosubjekt ist eine spezifisch aktuelle Subjektivitätsform. Anhand der Marx`schen Reproduktionsformel wäre darzustellen, dass der allgemeine Reproduktionsprozess drei verschiedene Formen von Subjektivität impliziert, die je in sich unterschiedlich weitgehend differenziert sind und von den Individuen wiederum in unterschiedlichen Verbindungen solcher Differenzierungen personifiziert werden müssen; Antagonistische, differenzielle und diffuse Subjektivität.

13) Dieses Risikosubjekt introjiziert einen neuen Sozialcharakter, der den narzisstischen Typus ablöst, übersteigt, erweitert und transformiert, nämlich den funktionellen Psychopathen, der allerdings nicht mit dem klinischen Bild des Psychopathen verwechselt werden sollte, obgleich gerade die Repräsentanten der herrschenden Klasse (Manager, Anwälte, Broker, Politiker, Arzte etc.) ihm doch gefährlich nahe kommen. So ist der Beobachtung von Götz Eisenberg zuzustimmen, dass heute die meisten Psychopathen frei herumlaufen, besondere Erfolge im Beruf nachweisen und steile Karrieren machen. Sie inkorporieren Eigenschaften wie Fokussiertheit, übersteigerte Egozentrik und den unaufhörlichen Hang zur Optimierung, Skrupellosigkeit, den Einsatz von Empathie zur eigenen Nutzenoptimierung, Unaufrichtigkeit, herrisches Auftreten etc.. Clever ist, wer andere im Sog seines oberflächlichen Charmes dazu bringen kann, das zu tun, was er will, wer schnelle Entscheidungen trifft und seine eigene Bindungslosigkeit nutzt, um sich ganz mit dem Erfolg seinen Unternehmens zu verschweißen, wobei es gelingen muss, diese Art der Enthemmung als besonders cool auf den Aufmerksamkeitsmärkten zu versteigern. Es ist nicht mehr weit und man wird seinen Bewerbungsunterlagen einen Psychopathie-Check hinzufügen müssen, um ganz nach den Regeln eines Casting-Verfahrens zu bestehen, bei dem derjenige das Rennen gewinnt, der in der Lage ist, seine Selbstpornographisierung zu verdecken und zugleich outzuperformen.

Dem funktionellen Psychopathen geht es wie jenem Banker, der einfach nur noch von Panik getrieben drauflos heult und schlägt, seine Carrera-Sonnenbrille aufsetzt, dass die schwachen Sonnenstrahlen durch die getönten Scheiben hindurch seine Augen endgültig nicht mehr tangieren, sich über das derzeit sepiabraune Haar  streicht und ultrahektisch mit isometrischen Gesichtsübungen beginnt, und dabei die kleinen Muskelstränge, die seine Augäpfel mit dem Gehirn verbinden, begehrt, bis es schlussendlich so tierisch schmerzt, dass das authentische Leben auf seiner elfenbeinfarbenen Stirn verglüht – er beginnt die prickelnde Hohlheit einer Expertenkultur symbolisch mit ein paar wirren Hieben durch die Luft zu zerhacken oder zu zerstückeln. (Die psychopathische Jagd nach individuellem Glück/beruflichem Erfolg ist als allgemeines Recht anerkannt.)

14) Bulimie und Anorexa nervosa verhalten sich zueinander wie Hysterie und Langeweile; es wird sich mit Unterhaltung vollgefressen und diese wird wieder ausgekotzt, um erneut zur Selbstoptimierung bereit zu sein, wie diese wiederum dazu dient, sich erneut mit Unterhaltung vollzufressen. Bis ins Feinste treten die Verfahren der Ratings und Rankings, der Credit Points und die Programme der Evaluierung und Optimierung ihr sanftes Regime an, wuchern bis in die Büros und die Unternehmenssituation hinein. Die Macht wird fluidal, sie wird „gasförmig“, wie Deleuze sagt, sie organisiert sich in finanzialisierten Netzwerken, in denen jeder Knotenpunkt potenziell die Information des Gesamtsystems enthält, sie wird mikrologisch oder gar nanotechnisch, sie gerät „inter-aktiv“, indem sie ein unausgesetztes Spiel von Aktion und Reaktion in Gang setzt, in dem die Akteure die Lücken und Poren der Kontrolle durch Techniken der Selbstkontrolle stopfen.

15) Der funktionelle Psychopath lebt nicht im luftleeren Rum, sondern in algorithmischen Institutionen und dort hauptsächlich in der Funktion, sich selbst und andere dafür fit zu machen, die algorithmische Metrik erfolgreich bedienen zu bekönnen. Statt wie früher strategisch vorzugehen, besteht die Aufgabe der Manager darin, die Fehleranfälligkeit und Langsamkeit menschlicher Entscheidungen zu verringern, indem sie Prozesse in Bewegung setzen oder sie exekutieren, um die algorithmischen Institutionen am Laufen zu halten. Die Manager sind dabei am Ende völlig deskilled und als skrupellose Vollstreckungsorgane und verkörperte Polizei in der Organisation tätig. Sie geben keinerlei Richtungen vor und haben auch keine Erklärung für die Richtung, die eine Organisation einschlägt. Sie sind offensiv und defensiv zugleich, mobbend und verletzend, fokussiert und unsicher und letztlich darauf beschränkt, die Losungen des Shareholder-Value-Systems wiederzugeben und den Vorgaben zu folgen.

16) Je sinnloser die Existenz des psychopathischen Menschen, desto freier wird er. Wer gut im Fertigmachen von Schlappschwänzen ist, der hat Zukunft. Wie jener Banker, der zur Toilette geht und zufrieden nach erfolgreichem Leerverkauf in das ultraflache, nierenförmige Waschbecken aus Edelstahl onaniert, das kunsttechnologisch sowieso der Outperformer der Luxus-Penthouse-Kabine im 33. Stockwerk der Bank ist.

17) Im zusammenspekulierten Luxus irrt der Broker tagsüber im Handelsraum und nächstens im Bordell umher und wehrt sich dagegen, dass er rein eine Funktion der Sache ist. Das letztere gelingt ihm aber am besten, wenn er am Wochenende als Freizeitobdachloser auf der Straße haust, und erst dann spürt er, dass er tendenziell schon ein Penner ist, und ob er unter der Brücke, im Handelsraum oder im Bordell schläft, bleibt sich absolut gleich.

18) Die Tower aus Glas und Stahl, in denen die Finanzmärkte als Knotenpunkte verschmelzen, sind Hochsicherheitstrakte der Risikokalkulation. Permanent Access, schneller Zugriff. Beschleunigungs- und Verlangsamungszumutungen kalkulieren die Broker & Sales Manager normalerweise in monetären Größen, klar ein Risiko ist bei jedem nur denkbaren Trade dabei, jedoch kein gänzlich unkalkulierbares bzw. keines jenseits der zu bewirtschaftenden Kontingenz, dafür stehen bezüglich der Subjektivierung sowohl die obsessive Manipulation subjektiver Beschleunigungstechniken à la zen-orientiertes Konzentrationstraining als auch die hingebungsvolle Ökonomisierung der eigenen subjektiven Zeit, und nicht zuletzt experimentieren einige der Broker mit klinischen Nachfolgepräparaten von Xanax wie Ciprexilex oder Zanosar, ohne dass allerdings exakte Diagnosen mentaler Störungen bei den meisten Akteuren vorliegen; die in Eigentherapie rekursiv produzierte Selbsterkenntnis, dass Broker zu Recht einem possessiven Individualismus (oder einem funktionellen Psychopathologismus) frönen, der sie von anderen Brokerkollegen unterscheidet, denn jeder ist in der Tat einzigartig, einzigartig im Sinne der zynischen Selbstverwertung, die den eigenen Zensor auf Autopilot stellt, wenn es um die sadistische Vernichtung der Vorstellung geht, man könnte etwas mit den narzisstisch induzierten Klischees bzw. Stereotypen von ihm Selbst zu tun haben, bis man drauf und dran ist, der Absorption des Selbst durch die soziopsychologischen Imperative der Kontrolle durch die telemetrischen Finanzmärkte gänzlich zuzustimmen, mit all den Prozeduren der Individualisierung und der Modulation, die die Finanzmächte errichten, was einem wiederum mittels Projektion das In-das-Zentrum-Stellen seines Selbst in der Jobwelt möglich macht.

19) Wir bekommen es auf allen Ebenen mit Phänomenen der dynamischen Entgrenzung zu tun, die einerseits zu deutlichen  kollketiven Überschreitungen der Intimitätsschwellen, andererseits zum ständigen Vergleich der Verhaltsensweisen auf der virtuellen Ebene führen. Derlei kollektive Psychopolitiken gebären Dividuen, die fortwährend Selbstverbesserungsanstrengungen unternehmen, welche zum Schluss an Lächerlichkeit, Peinlichkeit und Taktlosigkeit kaum noch zu überbieten sind. Paradigmatisch stehen dafür Unternehmen, die professionelle Coachs engagieren und den Angestellten bunte Pappnasen aufsetzen, um sie mittels eines gruppendynamischen Settings, in dem man lernt, wie man den Anderen auf die softe Tour fertig macht, auf die Umsetzung und Steigerung ihrer eigenen Ausbeutung zu trimmen.

Fortsetzung folgt.

Foto: Stefan Paulus

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