Der Kapitalbegriff

Prinzipiell wird das zur Ingangsetzung und Aufrechterhaltung des kapitalistischen Produktionsprozesses verausgabte Geld, das bspw. durch die Aufnahme eines Kredits kreiert wird, von den Unternehmen als negativer Wert angeschrieben, und zwar in den Bilanzen unter dem Titel Debet. Demzufolge beinhaltet das Kapital stets die Verschuldung eines kapitalistischen Unternehmens gegen sich selbst (Eigenkapital) oder gegen andere (Fremdkapital), womit es a) den durchschnittlichen Zins auf geliehenes Geld erwirtschaften muss, und b) zusätzlich einen Gewinn, wobei für Marx Zins und Unternehmensgewinn Teile des Profits bilden. Ohne die Realisierung von Profit hat das Unternehmen kein Kapital gebildet, stattdessen nur Eigen- oder Fremdkapital verloren, eben mindestens in Höhe des Kredits, den es einem Fremdkapitalgeber schuldet. Kapital ist damit auf der Ebene des Einzelkapitals von vornherein als ein intensional negativer Wert bestimmt, und das heißt nichts anderes, als dass der Kapitalbildung das Verlustrisiko immanent ist, und dies über einen Mechanismus, wie sich noch zeigen wird, der die Verschuldung in die eigene Zukunft und die anderer kapitalisiert. Selbst wenn ein Unternehmen eigenes Geldkapital einsetzt und/oder das Vermögen der Aktionäre, so muss auch diese Art des Geldkapitals entsprechend verzinst werden, wobei die Unternehmen permanent Alternativanlagen mit ihren aktuellen Zinssätzen abzugleichen haben, wovon dann letztendlich die Investitionstätigkeit des Unternehmens abhängt. Der immanente Zwang zur Zinszahlung erscheint aber erst dann in aller Sichtbarkeit, wenn das zu investierende Geldkapital tatsächlich über einen Kredit oder eine Anleihe generiert wurde. Peter Ruben hat mit seiner Kapitaldefinition diese Prozesse folgendermaßen zusammengefasst: »Das Kapital aber ist ein unsinnliches Objekt, das durch Entäußerung gebildet, produziert wird – und konfirmiert erst dann, wenn wirklich Profit eingenommen ist, das also erst nach einer notwendigen Dauer (der Produktions- und Zirkulationsdauer) die Gewißheit seiner Existenz liefert. Dieses intensional Negative als positive Bedingung der kapitalistischen Produktion, Kapitalbildung als Schuldenproduktion zu denken, das ist die Anforderung, die dem ökonomischen Erkennen gestellt ist, wenn es zu einem klaren Kapitalbegriff kommen will.« (Ruben 1998: 50-51) Dass man nun einen Ruben nahen Kapitalbegriff ausgerechnet bei Deleuze/Guattari findet, erscheint doch etwas außergewöhnlich, freilich wird im Anti-Ödipus (vgl. Deleuze/Guattari 1974: 305) im Rahmen einer starken Akzentuierung des finanziellen gegenüber dem industriellen Kapital bezüglich der Einschreibung des Geldes in die Banken von Kapital gesprochen, das an einem Punkt des vollen Körpers (der Banken) negatives Geld eingräbt, um am anderen Punkt positives Geld als Vergabe von Krediten zu erzeugen. Um zu einem kohärenten Kapitalbegriff zu gelangen, erscheint es deswegen dringend notwendig, dem Aspekt der Verschuldung streng korrelativ das Moment einer futurisierten und futurisierenden Kapitalisierung hinzuzufügen, was wir in den späteren Kapiteln noch stärker ausführen wollen. Die Prozesse der Kapitalisierung, die Marx noch auf die Bildung von fiktivem Kapital (Aktien, Kredit, Staatsanleihen etc.) beschränkt sieht, wobei hier den Einnahme- oder Vermögensströmen abhängig von den jeweiligen Diskont- und Zinssätzen, die ihre Regulation wiederum am Spiel von Angebot und Nachfrage an Geldmärkten finden, Kapitalwerte zugeteilt werden – diese gilt es viel allgemeiner zu bestimmen, insofern Kapital sui generis Geldkapital ist, dessen bestimmendes Maß der Verwertung eine Relation darstellt, nämlich die von Profit- und Zinsrate.

Das Kapital impliziert zwar verschiedene Wertsysteme (und differenzielle Akkumulation) im Rahmen seiner quasi-transzendentalen Gesamtkomplexion, es stellt aber keinerlei Dualität in dem Sinne her, dass es sich strukturell in Realkapital und Finanzkapital aufspaltet, wobei heute in der Tat niemand mehr so genau weiß, unter welchen Gesichtspunkten man sog. »produktives« Kapital, sprich industrielles Kapital, noch exakt vom finanziellen Kapital unterscheiden könnte, wenn man etwa die ökonomischen Aktivitäten der transnationalen Konzerne untersucht, die stets in beiden Sektoren tätig sind. Offensichtlich lassen sich auch Verschuldung und monetäre Kapitalisierung nur gemeinsam denken. Das Kapital besitzt sowohl unter dem Aspekt einer auf die Vergangenheit bezogenen Verschuldung als auch unter dem Aspekt des Zugriffs auf die Zukunft eine homogene quantitative Dimension, die rein diejenige der monetären Kapitalisierung in und mit ihren Differenzwiederholungen ist und sich heute zumindest bei den börsennotierten Großunternehmen als Marktkapitalisierung artikuliert. Kapitalisierung bedeutet die generative Anweisung des Kapitalismus, mit Hilfe von Algorithmen kontinuierlich Ordnungen aufzubauen und wieder zu zerstören, und dies geschieht über symbolisch-finanzielle Entitäten, deren Ritual darin besteht, ihre risikobereinigten, in Geldeinheiten berechneten und in der Zukunft erwarteten Gewinne auf einen gegenwärtigen Wert hin zu diskontieren. Wie Bichler/Nitzan dargelegt haben, geht dieses Ritual bis auf die proto-kapitalistischen europäischen Bourgeoisien im 14. Jahrhundert zurück und wird bis heute von den Ökonomen meistens als Finanzialisierung referenzialisiert. In diesem Zusammenhang erscheint es immer schwieriger, sog. reale Basiswerte der Unternehmen auf ihre quantitativen Größen untersuchen bzw. messen zu wollen, denn hier müsste die Statistik, um etwa Quantitäten der Einzelkapitale exakt bestimmen zu können, die Quantitäten qualitativ vollkommen heterogener kapitalistischer Güter addieren – Fabriken, Maschinen, Infrastruktur, patentiertes Wissen und Copyright, ideeller Firmenwert und andere Dinge.1 Und diese Komplexe können letztendlich rein mit statistischen Methoden, denen wiederum die Theorie zugrunde liegt, dass man das Geld wie einen Schleier über heterogene Produkte legt, um diese zu homogenisieren, nicht exakt bewertet, berechnet und aggregiert werden, worauf Bichler/Nitzan auch hinweisen.2 Für die bürgerlichen Wirtschaftswissenschaften war es Irving Fisher, der im Jahr 1896 die erstaunliche Aussage wagte, dass schließlich jeder für die Produktion relevante Faktor Kapital darstelle, d. h., jede Ware, die zu einem gegebenen Zeitpunkt als Bestand für die Produktion beobachtet werden könne, Kapital sei. Zog Fisher allerdings die meisten seiner Beispiele zur Beschreibung dieses eigenartigen Kapitalbegriffes noch aus dem Bereich der Produktion heran, so dehnten seine Nachfolger das Konzept auf eine ganze Reihe von sozialen Entitäten aus, man denke nur an das soziale Kapital von Hanifan, Beckers Human Capital oder auch an Bourdieus symbolisches Kapital, wobei man noch ganze Serien von weiteren Kapitalarten hinzufügen könnte, sei es etwa Risikokapital, intellektuelles Kapital, innovatives Kapital, religiöses Kapital, Wissenskapital, öffentliches Kapital, um nur einiges zu erwähnen. Und in diesem Zusammenhang erscheint schließlich für die neoliberalen Ökonomen im Anschluss an Milton Friedman so ziemlich jedermann als Investor, von den Geldeliten der »high-net-worth-individuals«(HNWIs) und »ultra-high-net-worth-individuals« (UHNWIs), den Bankaufsichtsräten, Brokern und Staatsbediensteten über die Arbeiter, Wissenschaftler und Künstler bis hin zu den Kriminellen und den Arbeitslosen.

Im Hinblick auf David Graeber sowie die sich um ihn scharenden heterodoxen Ökonomen, die anstelle des Kapitals das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis als die entscheidende gesellschaftskonstitutive Determinante setzen, wäre an dieser Stelle vielleicht zu sagen, dass schlichtes Geldverleihen allemal noch keine Kapitalverwertung hervorbringt, und so hat denn auch das Kapital mit seiner Dominanz von synthetischer Finance das universelle Geldkapital zur Voraussetzung, das wiederum Resultat der singulären und unwahrscheinlichen Geschichte des Kapitalismus selbst ist. Ohne diese Bestimmungen kann Graeber letztendlich nur soziale Verhältnisse ohne Kapital denken, wenn auch universalhistorische Gläubiger-Schuldner Verhältnisse. Das Geld, auf das Graeber schließlich rekurriert, ist u. a. (neben seiner Funktion als das Geld eines staatlichen Vereinahmungsapparates) jenes Geld, das Robert Kurz in seinem letzten Buch »Geld ohne Wert« angesprochen hat, wenn er das Geld im Kontext vorkapitalistischer Gesellschaften diskutiert, in denen im Rahmen unmittelbarer personaler Verpflichtungsverhältnisse das Geld die Funktion einer »symbolischen Opfergegenständlichkeit« besitzt. (Vgl. Kurz 2012: 110) Dabei führt der ständige Verweis einiger Kredittheoretiker und -kritiker auf die im Geldverleihen implizierten moralisch verwerflichen Werte vor allem hinsichtlich der Untersuchung des Kapitalbegriffs überhaupt nicht weiter, zumal der immer wieder hergestellte Bezug auf Nietzsche an dieser Stelle nicht greift, hatte doch Nietzsche die Hypostasierung der Schuld zur Sünde im Rahmen des Christentums gerade in Abkehr von ökonomisch geprägten Gläubiger-Schuldner-Verhältnissen gedacht. Letztendlich ist aber die Frage nach der historischen Präexistenz von Kredit oder Tausch für die Analyse und Kritik des gegenwärtigen Stadiums des Kapitalismus ohne jeden Belang, existieren doch im hochentwickelten postfordistischen Kapitalismus, wie wir das noch sehen werden, Kredit und Tausch als Teile einer universellen Kapitalisierung in schierer Simultaneität, und dies durch die temporalen Kapitalmetamorphosen von sog. Waren-, Produktions- und Geldkapital hindurch. Geht man davon aus, dass die bürgerliche Ökonomie – außer vielleicht ihren Topökonomen Schumpeter/Keynes – überhaupt keinen tragfähigen Kapitalbegriff besitzt, dann eskamotiert die obige Kapitaldefinition von Peter Ruben nicht nur die bürgerliche, sondern auch die marxistische Doxa, deren Unkenntnis über den Begriff des Kapitals er folgendermaßen zusammenfassen versucht: »Was Marx meint, ist eine Begründung seiner (und Engels’) Sicht aus der ›Kritik der Nationalökonomie‹, die den Kaufmann als egoistischen Geldscheffler suggeriert. Diese Sicht scheint durch die Verkehrung der (nichts sagenden) ›Formel‹ W – G – W in die (ebenso nichts sagende) ›Formel‹ G – W – G´ plausibel gemacht. Und der entsprechende Schein ist von Generationen von Marx-Lesern als tiefsinnige Erscheinung genommen worden. C’est la vie.« (Ruben 1998: 52) Wir wollen das übersetzen: Natürlich birgt die tautologische Formel G-G eine immense Gefahr des Nichtssagenden in sich, die auch durch die Formel G-G’ nicht ganz aufgelöst, aber immerhin durch die Differenzierung von Qualität (Geld) und Quantität (Vermehrung) verschoben wird. Die von Marx entwickelte Geldsprache sieht sich zunächst genötigt, das Geld im Bezug auf sich selbst sowohl als Mittel als auch als Zweck zu setzen, worauf Marx selbst mit dem Einwurf reagiert, dass eine »Vermittlung« auf dem Bindestrich zwischen G und G’ stattfinden muss, als diese sich für ihn schnell die Differenz von Tauschwert und Gebrauchswert der Arbeitskraft erweist, womit am Ende der Vermittlung dann tatsächlich, wie in der Formel G-G’ angeschrieben, mehr Geld als am Anfang steht. Damit ist die Tautologie/Aporie, die Ruben konstatiert, zwar nicht aufgehoben, aber immerhin verschoben, wie auch Anfang und Ende jedes Zyklus der Kapitalvermehrung immer je schon als verschoben zu denken sind. Auf dem Bindestrich selbst kommt also eine Differenz zum Zuge, die sich als G-G` anschreiben lässt, insofern eine Übertragung stattfindet, in der sich der erste Term in den anderen überträgt, um selbst reicher aus dem Ausdruck zurückzukehren. Mit dem Einsatz der Metapher des Kreislaufs (des Kapitals), die ohnehin durch das Bild der Spirale ersetzt werden müsste, kommt jedoch eine bestimmte Darstellungsweise zum Zuge, mit der das Kapital als Einheit von Produktion und Zirkulation konzipiert wird und zugleich der Umweg, den die Metapher des Kreislaufs selbst durchlaufen und zugleich gelöscht hat, nämlich den Umweg der Spaltung der Identität von Geld = Geld, ein zweites Mal eliminiert wird. Zumindest lässt sich jedoch konstatieren, dass der Begriff des Kapitals die Übersetzung der realen Schnitte der Investition, der Produktion und Zirkulation anzeigt, denn letztendlich ist das Kapital ja nur als Geldkapital relevant, und dies aber eben nur, wenn die monetären Investitionen plus einem Mehr sich aktualisieren, um wiederum neue Investitionen einzuleiten. (Vgl. Strauß 2010: 125) Diesem Prozess ist eine Virtualisierungskomponente inhärent, die die begriffliche Identität des Kapitals fragwürdig macht, denn stets muss man für die jeweilige Aktualität des Kapitals auf Zukunft zugreifen und diese beleihen, sodass Zuschreibungen an das Kapital auch unerfüllt bleiben können. Jenseits der imaginären Einheit des Kapitals als Produktion und Zirkulation wäre die Realität des Kapitals also als ein infiniter Prozess zu beschreiben, womit seine finiten Entitäten und Formen sich zu keinem Zeitpunkt durch Identität bestimmen lassen. Mit dem Begriff einer Quasi-Transzendentalität des Kapitals ist wiederum die sog. Virtualität des Werts bzw. die infinite Virtualisierungskapazität je schon an die Leine gelegt, wobei man mit der Darstellung der entsprechenden begrifflichen Problematik anzuzeigen hat, wie genau das monetäre Kapital die Konnexionen und Einschnitte der Investitionen, der Produktionen und Zirkulationen »überbrückt« – wie Ruben oder Strauß richtig sagen, ist das Kapital als Maschinerie, Energie, Produkt oder Produktionsprozess eben kein Kapital. (Ebd.: 124) Die Quasi-Transzendentalität des Kapitals sorgt dafür, dass die Virtualisierungskapazität des Werts ständig ausgebremst wird, ansonsten wäre der Wert konsequenterweise als eine (unmögliche) Virtualität durchgesetzt, die ihr »Wesen« schließlich darin fände, dass das Kapital ein Stadium erreicht, in und mit dem die Raten der Beschleunigung und des Wachstums dermaßen erhöht würden, dass letztendlich eine Null-Zeit einträte (instantane Volatilität eines Assets z. B. wäre dann in der Tat als eine Tendenz zur realen Virtualität des Kapitals zu verstehen, zu seiner Null-Zeit), die den Tod des Kapitals bedeutete, wie wir noch sehen werden. Folgendes lässt sich bezüglich der Futurisierungaspekte des Kapitals jetzt schon sagen: Das Kapital setzt sich in sich selbst voraus, gleichzeitig ist es immer schon sich selbst voraus, hat damit aber seine Zukunft zugleich schon immer hinter sich (Futur 2). Gerade weil im Voraus nicht berechnet werden kann, was das Geld als Kapital in Zukunft wert gewesen sein wird, vermag das Geld nur in einem rein spekulativen Sinne in seiner Bezogenheit auf sich selbst verrechnet zu werden, i. e. es bleibt sich in gewisser Weise gleich. (Vgl. Engster 2010: 223) Das Kapital kann die Zukunft ausschließlich als Rechnung und Kalkulation vorstellen und löscht sie damit in gewisser Weise selbst aus. Durch das ökonomisches Mathem des Kapitals hindurch würfelt eben nicht die Virtualität des Werts, sondern das Kapital rechnet als Quasi-Transzendental und für dieses Rechnen benötigt das Kapital beständig Zukunft, indem es diese beleiht und zugleich verbraucht. Damit ist mit dem Begriff des Kapitals, wenn man es als Debet begreift, folgendes zu vermelden: Es ist Movens eines infiniten Prozesses, der auf rein abstrakter Verschuldung beruht, der Verschuldung gegenüber der Zukunft sowie gegenüber seiner selbst, und dies lässt sich u. a. in einem ständig zu erneuernden Diskurs über Zirkulation und Produktion des Kapitals darstellen. Und es geht um Aktualisierungen, von denen aus, wenn der kapitalistische Automat Virtualisierungen vornimmt, beständig neue Aktualitätswerte geschaffen werden. Damit ist zugleich die Dimension des Riskos angezeigt, für die die Kapitalisierung einen Modus des Arrangements, der Identifizierung und der Steuerung bestimmter Elemente (eines sozialen Verhältnisses) der Realität bereitstellt, Elemente, die es zu isolieren gilt, um sie als potenzielle Risikoereignisse zu objektivieren. Kapitalisierung bleibt in diesem Sinne immer auch auf eine Technologie des Verhandelns von Risiken bezogen, auf einen sozialen Prozess der Normalisierung von Risikopotenzialen, in dem Akteure im Zuge der rationalen Entscheidungspraxen die »richtigen« Zeitpunkte treffen, also just-in-time sind, um die entsprechenden Rsisikopotenziale erfolgreich zu verwerten.

An dieser Stelle soll gezeigt werden, dass die Ökonomen Bichler/Nitzan einen streitbaren Ansatz vorgelegt haben, der in Absetzung von der Marx’schen Theorie sowie dem Marxismus die Komplexität der monetären Kalkulation von Zukunft durch das (dominante) finanzielle Kapital (als Macht) ins Zentrum der Überlegungen stellt. Bichler/Nitzan zufolge lässt der Kapitalismus sich keineswegs primär als ein Modus der Produktion, Konsumtion und Zirkulation verstehen, vielmehr als ein symbolischer Modus des quantifizierenden monetären Kapitals alsMacht, ein determinierendes Regime von dominanten Kapitalen, die perfekt in der Lage sind, die verschiedenen Attraktoren, Trajektoren und Vektoren des Systems in Permanenz zu definieren, zu gestalten und zu regulieren. (Vgl. Bichler/Nitzan 2009: 42ff.) Tatsächlich sehen Bichler/Nitzan im Zentrum des gegenwärtig finanziellen Regimes die dominanten Kapitale, die sie als symbolische Institutionen der quantifizierten und quantifizierenden Macht definieren, indem sie die den Machtanspruch der privaten Eigentümer ökonomischer Einheiten in den Prozessen der Kapitalisierung und des Discounting unaufhörlich perpetuieren. Es geht hier um ökonomisch quantifizierbare Entitäten, deren Logik als Ausdruck und Maßstab gesellschaftlicher Macht zu gelten hat. Bichler/Nitzan sprechen nicht davon, dass das Kapital die Macht affiziere oder durch die Macht beeinflusst würde, dass die Macht das Kapital vergrößere oder umgekehrt das Kapital die Macht steigere, im Gegenteil, man müsse sich an dieser Stelle von der Vorstellung einer externen Relation zwischen distinkten Entitäten verabschieden, da diese das Problem der Macht nicht fassen könne. Demzufolge sprechen Bichler/Nitzan nicht von Kapital und Macht, sondern vom Kapital als Macht. Demnach wurden die komplexen Codes alter Gesellschaften, nachdem sie in langwierigen politischen Kämpfen zerstört worden waren, durch eine universelle Axiomatik/Logik ersetzt, nämlich der Machtlogik des Kapitals selbst, dessen Kalküle von vornherein nicht durch die des subjektiven Nutzens, auch nicht durch Kalküle der Produktion oder Konsumtion, sondern rein und umfassend durch Kalküle der Finanzen qua Kapitalisierung konstruiert wurden. (Ebd.: 158f.) Die ständig wandelbaren Synthesen der finanziellen Quantitäten, ja man könnte sagen, die reinen Strömungen der Finanzen, die qua Kapitalisierung konstituiert, artikuliert und zugleich codiert werden (eine axiomatisierende Leistung der Kapitalisierung, die Strom und Code des Geldkapitals in ein Verhältnis setzt), reflektieren laut Bitzler/Nitzan keineswegs die Qualitäten kapitalistischer Waren oder etwa die Produktivität des Kapitals, sondern repräsentieren und verdichten die Macht der dominanten kapitalistischen Privateigentümer, die indessen kontinuierlich das ökonomische, das politische und das kulturelle Magma der Gesellschaft unter Zuhilfenahme ihrer symbolischen Machtpolitik aktiv in ihrem eigenen Interesse gestalten, regulieren und steuern. Dabei inhäriert die Logik der Kapitalisierung einen anonymen, differenzierten und unsichtbaren »Mechanismus«, mit dem und durch den das dominante Kapital unter Ausspielung seiner Eigentumsrechte die gesamte Gesellschaft kontrolliert.3

Um es zunächst einmal rein formal auf eine einfache Formel zu bringen: Kapitalisierung inhäriert für Bichler/Nitzan den berechneten (diskontierten) gegenwärtigen Wert der aus einer ökonomischen Einheit in der Zukunft erwarteten, risikobereinigten Gewinne. »Capitalization represents the discounting to present value of risk-adjusted expected future earnings (and each of its symbolic components – the expected future earnings, the risk that capitalists associate with these earnings, and the normal rate of return that they use to bring them to present value – is a manifestation of organized power).«4 Dementsprechend impliziert die Symbolik der Kapitalisierung die Kalkulation der wesentlichen Komponenten des Kapitals, u. a. die in Zukunft erwarteten Gewinne sowie die Risiken, die die Kapitalisten mit diesen imaginären Gewinnen assoziieren, die durchschnittlichen Zinsraten und schließlich die zukünftigen Renditen im Verhältnis zu den gegenwärtigen Kapitalgewinnen, und all diese Komponenten, exakter die Bewirtschaftung und Beherrschung all dieser symbolischen Komponenten, stellen für Bichler/Nitzan auf ganz strukturelle Art und Weise Manifestationen der organisierten kapitalistischen Macht dar. Die in Quantifizierungen bzw. Preisen ausgedrückte Macht dieser ökonomischen Einheiten (Ware, Firma etc.), die qua capitalization und discounting zustande kommt, ist für Bichler/Nitzan hinsichtlich der Analyse der gegenwärtigen Finanzialisierungsregime ausschlaggebend. Und das Primat der Macht, das Bichler/Nitzan dem Kapital zuschreiben, basiert für die beiden Autoren letzten Endes auf dem Dispositiv des Privateigentums, das sowohl institutionellen Ausschluss als auch Deprivation impliziert; das Dispositiv des Privateigentums enthält eine positive und zugleich eine negative Komponente, und beide im Zusammenspiel befördern die Möglichkeit von den Ausgeschlossenen oder Verschuldeten ganz legal beständig monetäre Beträge einzufordern und zu beziehen, um schließlich das Recht nicht qua Gewalt ausüben zu müssen. Und nur allzu deutlich besitzt die Architektonik der Macht eine quantitative und eine qualitative Dimension: Während die qualitative Dimension Faktoren wie Institutionen, makroökonomische Evolution und gesellschaftliche Konflikte umfasst, mit deren Hilfe vor allem die dominanten Kapitalisten die gesellschaftliche Ordnung gestalten, fundieren und regulieren, d. h. durch Prozesse, mit denen sie die sog. sozialen Trajektoren des Systems in Permanenz formen, um ihre Einkommen in relativer Sicherheit zu generieren, beinhaltet die quantitative Dimension neben der Kapitalisierung insbesondere Prozesse der Maschinisierung, i. e. das Funktionieren des universellen Algorithmus und der objektorientierten Computersprachen (binärer Code), die wiederum die zahllosen qualitativen Prozesse antreiben und codieren, integrieren und kondensieren, und das vollzieht sich unter der Dominanz der in Computernetzwerken strömenden Transaktionen monetärer Größen. Schließlich gilt jeder x-beliebige monetäre Strom erwarteter Gewinne als Parameter der Kapitalisierung, die heute potenziell jeden noch so singulären Aspekt des gesellschaftlichen Feldes durchdringt – die dominanten Unternehmen kapitalisieren bestänig menschliches Leben, soziale Netzwerke, soziale Habiti, Körper und genetische Codes, Affekte, Kriege und vieles andere, wenn sie damit Einkommen und Renditen erzielen können.5

Für Bichler/Nitzan beschwören die dominanten Kapitale mit ihren hyper-aktiven Strategen ständig künftige Ereignisse, Entwicklungen und Szenarios herauf, und dies geschieht immer mit der Perspektive der »sicheren« Kalkulation zukünftiger Geldkapitalströme. Aber in gewisser Weise hat auch für Bichler/Nitzan das Kapital seine Zukunft schon immer hinter sich oder es muss sozusagen rückwärts in die Zukunft gehen, weil es keinessfalls zu 100% weiß, in was es da mit seinen Kalkulationen – ganz im Zwangskorsett der Kapitalisierung gefangen – hineingerät, nicht weiß, wohin die Reise denn geht und wie tief man eigentlich fallen kann, obwohl das ja schon tausendmal passiert ist. Und dies alles vollzieht sich genau dadurch, dass man aktuelles Geldkapital, dessen Summe man kennt, als einen (vergangenen) Bezugspunkt anführt, um zukünftige Beträge und Gewinne zu extrapolieren (die man aber nicht kennt), wobei man erwartete zukünftige Gewinne auf gegenwärtige Geldsummen zu diskontieren versucht, während eine (fiktive) Benchmark für das jeweils richtige »Level« hinsichtlich des Wachstums der Gewinne sorgt. Und dies gilt für zeitliche Cluster über längere Perioden hinweg, wobei diese Prozesse so etwas wie das prinzipielle Movens der differenziellen und finanziellen Akkumulation des Kapitals darstellen. Anders gesagt, Kapitalisierung inkludiert von der formal-ökonomischen Seite her eine Technologie der Berechnung des (»diskontierten«) gegenwärtigen Werts der aus einer ökonomischen Einheit (Geld, Ware, Unternehmen etc.) in der Zukunft sich ergebenden, erwarteten Einkünfte, und dies wiederum dokumentiert die in Preisen zu realisierende und realisierte Macht, den Machtanspruch der Eigentümer von dominantem Kapital über andere gesellschaftliche Aktanten. Die Begriffe der Kapitalisierung und Diskontierung gelten für Bichler/Nitzan sui generis als Ausdruck und Maßstab kapitalistischer Macht. (Ebd.: 183f.)

Im Rahmen der Ausarbeitung ihres Konzepts der Kapitalisierung nehmen Bichler/Nitzan eine weitere notwendige Definition vor, die allerdings ein noch exaktere Analyse der kapitalistischen Gewinne herausfordert: Demnach gilt es die zu einem gegebenen Zeitpunkt (ex ante) erwarteten, zukünftigen Gewinne (gegenwärtige Zukunft) mit den aktuell gewordenen, erst ex post als bekannt geltenden Gewinnen zu vergleichen, auf die man spekuliert hat (künftige Gegenwart). Diese beiden Gewinnströme erweisen sich im besten Falle als identisch. Bichler/Nitzan schreiben: »By definition, ex ante expected future earnings are equal to the ex post product of actual future […]«(Ebd.: 188) Und diese Relation nennen Bichler/Nitzan den Hype-Koeffizienten. Definitionsgemäß legen Bichler/Nitzan fest, dass eine (variable) Relation zwischen den ex ante erwarteten, zukünftigen Renditen und den aktuell gewordenen Renditen einer künftigen Gegenwart besteht, der Aktualisierung einer Zukunft (ex post product of actual future). Wie wir noch sehen werden, gleicht diese Formalisierung der Unterscheidung, die Elena Esposito im Rahmen ihrer Analysen über Finanzderivate als Differenz von gegenwärtiger Zukunft (erwartete Zukunft) und künftiger Gegenwart (Zukunft, die tatsächlich eintritt) vorführt. Man kann nun laut Bichler/Nitzan folgende Gleichung anschreiben:

(Kt=Kapitalisierung in der Zeit) Kt = EE = E × H, wobei (EE) für die erwarteten zukünftigen Gewinne, (E) für den aktuellen Level der Gewinne und (H) für den Hype-Koeffizienten steht (H=EE/E).(Ebd.: 189)

Während das sog. materielle Kapital in seiner Eindimensionalität stets stärker auf die Vergangenheit bezogen bleibt, auf den Kapitalstock und die zurückliegenden, durch Abschreibungen korrigierten Geldbeträge, erweist sich die multidimensionale monetäre Kapitalisierung als rein zukunftsorientiert. Kapitalisierung zeichnet sich also durch vier wesentliche Parameter/Variablen aus: a) aktueller Bestand an Gewinnen, die je schon der Spekulation mit der Zukunft entspringen, b) Hype-Koeffizient, c) erwartete zukünftige Gewinne, d) der sog. Risiko-Koeffizient (Ebd.: 183ff.). Das Zusammenspiel dieser elementaren symbolischen Variablen der Kapitalisierung kondensiert, verdichtet und repräsentiert Bichler/Nitzan zufolge die Macht der dominanten Kapitale, ja sie zeigt das Kapital als Macht an, wobei Finanzialisierung und die ihr zugrunde liegende Kapitalisierung von Anfang das eigentliche Movens kapitalistischer Wirtschaft bilden. Gemäß der obigen Gleichung hängt die Kapitalisierung eines Assets/Vermögens oder eines Vermögensanteils ganz wesentlich von zwei die Gewinne/Renditen definierenden Faktoren ab: a) den aktuellen, immer nur ex post feststellbaren Vermögen, die sich stets aus der Bewirtschaftung der Zukunft ergeben. Die Renditen dieser Vermögen sind zu dem Zeitpunkt, an dem die Vermögen kapitalisiert werden, unbekannt, aber sie werden mit und in der Zeit bekannt, wenn man Einkommen und Gewinne fixiert, aufzeichnet und bekanntgibt, b) dem Hype-Koeffizienten, der den kollektiven Irrtum der Kapitalisten als Klasse umfasst und schon zu dem Zeitpunkt eintritt, an dem Vermögen (aufgrund von ex ante Erwartungen) ausgepreist werden, wobei man natürlich nur ex post festzustellen vermag, ob sich die Erwartungen realisiert haben oder nicht, d. h., dieser Irrtum ist zu dem Zeitpunkt, an dem man den jeweiligen Vermögen Preise zuordnet, potenziell gegeben, kommt aber erst dann zum Vorschein, wenn man die Gewinne fixiert bzw. bekannt gibt. Wenn man den Hype-Koeffizienten in einer Zahl ausdrückt, so artikuliert sich mit ihr die Frage, ob die Kapitalisten allzu optimistisch oder allzu pessimistisch ihre zukünftigen Gewinne eingeschätzt haben: Waren nun die Erwartungen übermäßig optimistisch, dann ist ein Hypefaktor größer als 1 anzunehmen, bei übermäßigem Pessimismus ist er kleiner als 1 zu setzen; nur wenn die Projektionen der Kapitalisten vollkommen korrekt waren, dann ist der Hype-Koeffizient gleich 1 zu setzen. (Ebd.: 188f.) Es geht hier nicht um eine partikulare Entität oder um die Strategien von Einzelkapitalen, sondern um so etwas wie den universellen Wert einer Entität, die durch ein kapitalisiertes und zu kapitalisierendes Vermögen definiert wird.

Ungewissheit im Kapitalismus liegt für Bichler/Nitzan sui generis im Diskont-Zins-Schema verborgen. (Ebd.: 196f.) (Der Diskont gilt als eine Form des Zinses. Während der Zins immer nachträglich bezogen wird, zieht man den Diskont ex ante vom sog. Nennwert einer Forderung ab, die innerhalb einer bestimmten Frist fällig wird. Er ist in  %en des Nennwerts auf ein Jahr bezogen zu berechnen.) Bichler/Nitzan erweitern die Herleitung der Kapitalisierungs-Formel mit der Definition der Rentabilität (r), dem Verhältnis zwischen der Größe (E) (Erträge/Gewinne) und (K) (K gilt hier als der Dollarwert des investierten Kapitals):

Es gilt r = E/K. (Ebd.: 197)

Es ist leicht einzusehen, dass es hier um eine Gleichung, eine Unbekannte und eine Lösung handelt. Durch eine einfache Umstellung der Variablen der Gleichung erreicht man folgendes: Wird die Rentabilität auf der (bekannten) Basis der Gewinne und des originalen Investments kalkuliert, dann lässt sich das Investment als Relation von Gewinnen und Zinsrate berechnen, so dass man die folgende Formel erhält: K = E/r. (Ebd.)

Das Resultat erscheint als eine Formel, welche Bichler/Nitzan zufolge exakt diejenigen sozialen und ökonomischen Gepflogenheiten artikuliert und komprimiert, mit denen die Kapitalisten als Klasse den größten Teil ihrer Preisfixierungen seit dem 14. Jahrhundert vorgenommen haben und immer noch vornehmen. Mathematisch gesehen scheinen die beiden obigen Gleichungen identisch, wenn nicht gar zirkulär zu sein (siehe dazu die Cambridge-Kontroverse), aber in der ökonomischen Realität beinhalten sie doch eine beachtliche Differenz: Während die erste Gleichung eine ex post Darstellung enthält – sie führt zur Berechnung der Zinsrate, wobei das ursprüngliche Investment und die daraus folgenden Gewinne bekannt sind –, so impliziert die zweite Gleichung eine ex ante Bewertung: Mit ihr erscheint es möglich, den Wert des Geldkapitals hinsichtlich zukünftiger Gewinne zu kalkulieren; es handelt sich hier um unbekannte Gewinne, wie die Kapitalisten auch nichts von der Zinsrate wissen, die diese Gewinne eventuell repräsentiert. Daher sieht man sich an dieser Stelle auch mit der unmöglichen Aufgabe konfrontiert, eine Gleichung mit drei Unbekannten zu lösen, obwohl dieses Prozedere doch in der real-historischen Praxis für das Kapital kaum ein Problem gewesen zu sein scheint, weil die Kapitalisten als Klasse die Bekanntheit von zwei Größen geradezu heraufbeschworen haben (und dies immer noch tun), um schließlich eine dritte, eine unbekannte Größe zu berechnen. Aber es stellt sich natürlich sofort die Frage, wie dies eigentlich praktiziert wird und was dieser Prozess für die differenzielle Akkumulation des Kapitals bedeutet (ebd.: 196f., 383f.): Das grundlegende Problem besteht in der Vorhersage zukünftiger Gewinne, wobei sich Kalkulationen aufgrund von Ungewissheit per se als falsch erweisen, aber die damit implizierten Irrtümer zeigen sich Bichler/Nitzan zufolge auch nicht als grenzenlos falsch an, denn über einen hinreichend langen Zeitraum scheinen die Kalkulationen tatsächlich eng um die Kurven aktuell gegebener Werte und Zahlen zu oszillieren. Dies ergibt sich sowohl aus empirischen Analysen als auch aus der von der Chaostheorie übernommenen Einsicht, dass über längere Perioden hinweg die Ergebnisse bei Spielen wie etwa dem Roulette eine gewisse mathematische Beschreibbarkeit aufweisen. Auch bei der Zinsrate/Diskontrate (Rate, mit der fixiert wird, was ein Vermögen an Gewinnen in der Zukunft wirklich abwerfen soll) kann von einer gewissen Konstanz und Stabilität ausgegangen werden. Reflektiert die Zinsrate u. a. das Vertrauen, das die Kapitalisten in ihre eigenen Vorhersagen und Kalkulationen haben, so lässt sich damit leicht folgern: Je größer die Unsicherheit ist, desto höher muss die Zinsrate sein. (Ebd.: 196f.) Im Rahmen der innerbetrieblichen Rechnung wird von Ökonomen die grundlegende Differenz zwischen Eigenkapital und Schulden oft als eine Frage des Vertrauens ausgewiesen. Und in der ökonomischen Realität hängt der Vertrauensgrad zwischen den verschiedenen Eigentümern von Geldkapital weitgehend von der »Normalisierung« ihrer Macht ab. Was hinsichtlich des quantifizierbaren Kalküls der Macht ausdrücklich zählt, ist die in die Zukunft gerichtete Möglichkeit der Kapitalisierung von Geldkapital an den Geld- und Kapitalmärkten. Repräsentiert dabei die Vergangenheit die Realisierung eines erwarteten Gewinns, so die Zukunft das Versprechen auf einen Gewinn. Und in diesem Zusammenhang erscheinen Buchungen im Rahmen der doppelten Buchführung sozusagen als rückwärts blickend und daher als relativ belanglos, während sich dagegen die Kapitalisierung als eine symbolische Bewertung/Schätzung oder Kalkulation von Zukunft verstehen lässt, die zudem definitionsgemäß nicht zirkulieren kann, mehr noch, wenn man den risiko-bereinigten und diskontierten Wert von zukünftigen Gewinnen kalkuliert, gibt es keine und wenn überhaupt eine eher negative Relation zu den Kosten der derzeit zirkulierenden Assets.

Allerdings muss man bei dieser Art der Identifizierung von quantifizierendem Kapital und Macht, und dies gerade auch hinsichtlich der von Bichler/Nitzan vorgenommenen Marx-Kritik (Marx hätte angeblich neben einer falschen Aufspaltung des Kapitals in Real- und finanzielles Kapital vor allem den Aspekt der Macht vernachlässigt) einige Vorsicht walten lassen, zumal, wenn die beiden Autoren jener Identität von Kapital und Macht, die sie ja selbst »figurative Identität« nennen, eine unglaubliche »scientific story« (ebd.: 313) zuschreiben. Um es an einem einfachen Beispiel zu erläutern: Wenn in einem Land die Marktkapitalisierung eines dominanten Unternehmens 1000 mal größer als die durchschnittliche Marktkapitalisierung der mittleren und kleinen Unternehmen ist, dann besitzen die Eigentümer des dominanten Unternehmens im Sinne der absentee ownership (Trennung zwischen Eigentum und Unternehmensmanagement) laut Bichler/Nitzan auch 1000 Mal mehr Macht als diejenigen der mittleren und kleinen Unternehmen. (Vgl. Kliman 2011b: 67) Warum, und das fragt sich nun auch der marxistische Ökonom Andrew Kliman in seiner Kritik am Konzept von Bichler/Nitzan, warum denn um Himmels willen 1000 Mal so machtvoll und nicht 100 oder 2000 Mal so machtvoll? (Ebd.) Für Kliman ist die Sache klar, Bichler/Nitzan entledigen sich des Problems, indem sie Macht ausschließlich mit den Kategorien und Modellen der Marktkapitalisierung (der dominanten Unternehmen) beschreiben: Die Marktkapitalisierung eines dominanten Unternehmens, die 1000 mal größer ist als die des Durchschnitts der Unternehmen, gibt aber, so wendet Kliman hier zu Recht ein, dessen Eigentümern oder Aktionären noch lange nicht 1000 Mal so viel Macht wie den Eigentümern der Unternehmen mit durchschnittlicher Marktkapitalisierung. Es besteht hier zudem die Gefahr, dass man das von Foucault herausgearbeitete relationale Verhältnis von Macht und dessen intrinsische Kräftebeziehungen in die Beschreibung eines Behälters, der die Macht repräsentiert, transformiert, den man gleichsam mit verschieden machtvollen Kapitalen auffüllt, um damit zu einer Beschreibung des Kapitals als Macht zu gelangen; dies wäre dann mit der Wiedereinführung eine althergebrachten Ontologie gleichzusetzen, die man wiederum dadurch verflüssigt, dass man einen Aussagesatz anführt, der da lautet: Die Macht der Macht ist die Macht bzw. das Kapital des Kapitals ist das Kapital. Kliman resümiert an dieser Stelle, dass die Identifikation von Kapital und Macht sicherlich nicht korrekt sei, aber wie Bichler/Nitzan ja selbst zugeben würden, handelt es sich hier doch nur um eine »figurative identity.«


1Univozität bedeutet für Deleuze nicht nur, dass das Sein vom Seienden stets im selben Sinn ausgesagt wird, sondern dass wir es hier mit einer konstruktiven Tätigkeit zu tun haben. Ontologie wird verstanden als konstruktive Tätigkeit. Man macht das Seiende univok; Univozität behauptet, dass die Mücke dasselbe Sein ausdrückt wie ein Mensch. Übersetzt man diesen Aspekt in die Kapitaltheorie, so wäre das Kapital als Struktur zu verstehen, aber in gewisser Weise ist es diese nicht, sondern es leistet diese je schon gefährdet im Rahmen einer unwahrscheinlichen und singulären historischen Formation.

2 Sraffa hat mit schlagenden Argumenten gegen die marginalistische Ökonomie darauf hingewiesen, dass die abstrakte Aufteilung der Elemente einer Ökonomie in infinitesimale Einheiten durch ein spezifisches Kalkül nur zu einer zirkulären Erklärung, vor allem der des Kapitals selbst führen könne, wobei dessen Elemente einer derartigen Quantifizierung gerade wegen ihrer qualitativen Heterogenität widerstehen würden.

3Die Notwendigkeit des Privateigentums ist für die kapitalistische Machtrelation, die sich z. B. für Bichler/Nitzan im gegenwärtigen Kapitalismus vor allem als ein System der quantifizierten Macht des Kapitals darstellt, immer schon mit gesetzt. Das Wort »privat« kommt einerseits von dem lateinischen »privatus«, das begrenzt meint, andererseits von »privare«, das die Bedeutung von »vorenthalten« inkludiert. Rousseau schreibt: »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte: Das ist mein und so einfältige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.« (Rousseau 1990: 173) Insofern besteht die Kapitalisierung in ihren Anfängen immer auch im Abstecken eines Territoriums, indem ein Raum eingekerbt wird, Vielheiten gemäß bestimmten Rhythmen und Milieus geteilt und aufteilt werden. Man sollte hinzufügen, dass die wichtigste Eigenschaft des Privateigentums nicht darin besteht, dass es dem Privateigentümer etwas erlaubt, sondern dass es den Nichteigentümer vollkommen deaktiviert. In diesem Sinne stellt das Privateigentum eine Institution des Ausschlusses dar, was schon im Begriff des Besitzes (meinen-deinen) inkludiert ist, der allerdings die Frage der Illegitimität oder Legitimität der Besitzergreifung noch offen hält, bevor im 19. Jahrhundert der Staat das Privateigentum unter scheinbarem Ausschluss des Problems der Gewalt juristisch als anerkanntes Recht konformiert, um es schließlich durch die Machtinstitutionen und/oder kollektiven Apparaturen hindurch zu legitimieren und mit aller Variabilität und Performativität auch durchzusetzen. Was von nun an allein zählt, ist das Recht auf Inklusion/Exklusion und dies hängt ganz real mit monetären Größen zusammen, während diese wiederum nicht auf der Möglichkeit basieren, überhaupt zu produzieren, sondern auf dem Potenzial, andere in und durch Produktionsprozesse in spezifischer Weise von den Verteilungen auszuschließen (und sie zugleich in die Produktionsprozesse einzuschließen). Hierin ist dann der Tausch als egalitäres Medium denunziert, insofern ihn der Staat in einen Rechtsbegriff transformiert, d. h., die wechselseitige Anerkennung von Mein und Dein, Besitz, wird ins Eigentum, ja ins Eigene überführt, ohne dass eben die Frage der Legitimität und der gewaltsamen Besitzergreifungen überhaupt noch gestellt oder diskutiert werden muss. (Vgl. Bahr 1983: 422f.)

4(Bichler/Nitzan 2013) Obwohl Bichler/Nitzan ständig darauf verweisen, dass der Marxismus und Marx selbst eine prinzipielle und nicht nur eine analytische Trennung von Realkapital und nominalem Kapital vorgenommen hätten, nehmen sie doch im Vorfeld ihrer Analysen selbst eine genuine Aufteilung vor: Zum ersten erwähnen sie das sog. kreative/produktive Kapital, das der amerikanische Ökonom Thorstein Veblen, auf den sie sich beziehen, »industry« genannt hat; zum zweiten führen sie einen Bereich der ökonomisierten Macht ein, der in der gegenwärtigen kapitalistischen Epoche durch die nackte Form des Business und der Sabotage gekennzeichnet sei, der sog. strategic sabotage, der ganz bewussten Abwehr von gesellschaftlichen Innovationen und Inventionen rein aus Gründen der Machterhaltung. Für Veblen wie für Bichler/Nitzan gilt, dass man unter Industrie das kollektive Wissen zu verstehen hat, das im Marx’schen Sinne in etwa dem General Intellect entspricht, der hochgradig kooperativ, integriert und synchronisiert zugleich die Produktionsprozesse mit gestaltet, während im Gegensatz dazu das sog. Business keinesfalls kollektiv und gemeinschaftlich funktioniere, so sagen es jedenfalls Bichler/Nitzan, sondern dieses arbeite unter der Dominanz der großen Kapitale mit systemischer Prävention und juristischer Restriktion qua Privateigentum, operiere mit strategischer Sabotage, die permanent gesellschaftliche Demokratisierung, innovative Resonanzen und soziale Verhältnisse erschüttere oder stauche, indem als Macht der dominanten Kapitale Dissonanzen installiert und damit Prozesse der Oligopolisierung vorangetrieben würden, was in den meisten Fällen zu nicht-linearen Relationen zwischen industriellem Kapital und dem sog. Finanzbusiness führe. Eine weitere Dualisierung nehmen Bichler/Nitzan mit Mumfords Unterscheidung zwischen demokratischen Technologien und Macht-Technologien vor, wobei sie hinsichtlich der Letzteren von einer durch den Kapitalisierungs-Modus gesteuerten Megamaschine des Kapitals sprechen. Dabei konzentrieren sich die beiden Autoren mit ihrem Ansatz vor allem auf Aspekte der Kapitalmacht über … (transitive Macht, der Einflussnahme des Akteurs A auf das Handeln des Akteurs B): über die Beschäftigten, über andere Kapitale bzw. Unternehmen etc., während Formen der intransitiven selbstbezüglichen Macht oder der Foucaultschen Biomacht kaum zur Sprache kommen, die erst den sozialen Zeitraum und die jeweiligen Bezugspunkte für Handlungen, Kämpfe und gegenseitige Einflussnahmen erzeugen.

5Siehe dazu auch das Interview von Michael Hudson, in dem er resümiert: »So finance capital will end in tears – first for the debtors, then for the creditors themselves. The parasite will die with the host. That is how the Roman Empire declined and fell.« Financial Conquest or Clean State? Interview mit Dimitris Yannopoulos für Athens News, September 2012.

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