Der letzte Mensch ist ein (funktioneller) Psychopath

Aus: Laika/Non.Derivate 004: Wahn-Aggreate. Illusionsabfälle und Kadaver-Subjektivität

Den für einen im Zeitalter des Posthumanismus lebenden letzten Menschen stets zu organisierenden Lebensprofit könnte man beschönigend auch die Nutzenmaximierung des letzten Lebensproduzenten nennen, eines kleinen Monsters, das in seiner Unersättlichkeit nicht nur alles haben, sondern es auch sofort haben will. Es lebt ganz in der Grießbreizeit oder Kaugummizeit des Aktuellen und deswegen können ihn zukünftige Einkommen auch nur halbwegs für aktuell entgangenes Genießen, das mit Existenz zusammenfällt, entschädigen. Der letzte Mensch verlässt sich auf die Diskontierung1,mit der zukünftig erwartete Einkommen durch die Abzinsung auf seinen heutigen Existenz-Wert herunter gerechnet werden. Der zukünftige zu realisierende Wert des Lebens ist also immer auch sein Gegenwartswert. Man wird bald schon dem Säugling einen auf die Zukunft bezogenen Ertragswert zuteilen, einen Einkommensstrom, man wird diesen erwarteten Einkommensstrom diskontieren und damit den Ausgangspreis des Säuglings erhalten. Es ist deshalb kein Zufall, wenn der französische Unternehmensverband vorschlägt, jedem Franzosen von Geburt an eine Umsatzsteuernummer zuzuteilen.

Die lebende Finanzanlage ist eine Relation und besitzt einen materiellen Träger, in unserem Fall den letzten Menschen.In Zukunft wird jedes Bedürfnis, jede Befriedigung und jeder Wunsch Anlass zu punktuellen und punktierten Bewertungen, Evaluationen und Rankings geben – aufgeteilt in Komponenten, die der Optimierung und der Effizienz der Vermehrung des eigenen kleinen Ich-Kapitals x unterstellt sind. Das monetarisierte Leben ist eine Relation oder ein Spread, der ständig bewertet werden muss, oder, um es noch genauer zu sagen, es umfasst einen Basiswert, das Leben, auf das ein Anlagevertrag im Hinblick auf die monetäre Effizienz des zukünftigen Leben geschrieben und auf dessen Fluktuationen spekuliert wird. Und diese Spekulationswellen gilt es auszuhalten, mehr noch, man hat der Spekulation und ihren Vorgaben nicht nur zu folgen, man hat sie outzuperformen. Am besten wie jener Banker, der nach erfolgreichem Leerverkauf vollends zufrieden zur Toilette geht und in das nierenförmige Waschbecken aus Edelstahl onaniert, das kunsttechnologisch der Outperformer der Luxus-Penthouse-Kabine im 33. Stockwerk der Bank ist. Irrt der Broker tagsüber im Handelsraum umher, so wehrt er sich doch dagegen, dass er rein eine Funktion der Sache ist. Dies gelingt ihm aber vielleicht dann am ehesten, wenn er am Wochenende als Freizeitobdachloser auf der Straße gammelt, und erst dann spürt er, dass er tendenziell schon ein Penner ist.2

Dazu muss die eigene Aktivität permanent gehebelt werden, das heißt die Verbindungen zu den anderen müssen so gestaltet werden, dass man immer mehr zurück bekommt als man einsetzt. Das Leverage wird zu einer Art und Weise, den fiktiven Projektionen des Ego eine sich selbst erfüllende, performative Qualität zu geben, sodass die Welt affirmativ auf spekulative Forderungen antwortet. Es ist aber keineswegs ausgeschlossen, dass die Kapazität, die eigenen Risiken positiv zu meistern, zur Gefahr für andere wird. Für die Bevölkerung insistiert damit das Leben als ein Prozess permanenter Verschuldung, der die Zukunft nicht schließt, sondern in spezifischer Weise öffnet, weil die Kreditgeber die Einkommen, die als Grundlage für die Kreditierung dienen, nicht mehr hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit Kredite zurückzahlen zu können, definieren, sondern hinsichtlich der Möglichkeit und des Potenzials in Zukunft Zahlungen bedienen zu können. Dabei ist der Wert des letzten Menschen nicht nur das Konglomerat aus Gesundheit, Effizienz, Wissen, Beziehungsosmose, Kreativität, Wünsche, Arbeitsfähigkeit etc., sondern diese individuellen Merkmale sind ständig effektiv zu behandeln, ohne dass der Wunsch, sofort zu genießen, verschwindet. Am Ende kulminiert der Ertragswert, den der letzte Mensch im Laufe seines Lebens zu realisieren hat, im Schnittpunkt der Parallelen, der im Unendlichen und daher nirgends und deswegen im Tod liegt.

Der monetarisierte Lebenswert wird durch Informationen, die man jeder Person zuordnet, ornamentalisiert. Und diese Informationen fluktuieren wie Derivate, die aber nach wie vor in Geld realisiert werden müssen. Klossowkis lebendes Geld hat sich nun endgültig realisiert. Die Logik der Kapitalisierung fällt mit einer scheinbar unsichtbar regelnden Instanz, die das Leben organisiert, kontrolliert und optimiert, zusammen. Jede Äußerung, jede Transaktion, jeder Sex, jeder Austausch, jeder Chat hat monetäre Folgen, die sich in Risikoprofilen materialisieren, deren Preise von komplexen Algorithmen und Datenanalysen berechnet werden. Die zunehmende Begeisterung für Rankings, Rating und Scoring, die Quantifizierungen des Derivativen sind, betrifft heute alle Lebensbereiche.

Es schlägt jetzt definitiv die Stunde des funktionellen Psychopathen, der aus dem engen Korsett des bisher dominanten Sozialcharakters, des narzisstisch Infantilen, der die kindliche Abhängigkeit liebt, um sie andauernd mit seinem Egoismus ohne Ego zu kontern, ausbrechen will. Der funktionelle Psychopath ist einer, dem das System wie ein Hugo-Boss Anzug passt, und wenn er ausflippt, dann nur, um das System auf die Spitze zu treiben, oder, um es noch einmal anders zu sagen, er ist einer, der gegenüber dem System grundsätzlich affirmativ ist, aber es auch gerne mal auszutricksen versucht, indem er unwahrscheinlich kreativ und brutal egoman zugleich Exzentrität auslebt, aber letztendlich doch so leise bleibt, dass die eigenartig zahme Übertretung der Regeln zwar dem anderen, aber auf keinen Fall dem System schadet. Der funktionelle Psychopath ist ein kastrierter Psychopath.3 Und das ist er selbst noch dann, wenn er erfolgreich ist. Und er muss unbedingt erfolgreich sein, weil er sich als ein Transmissionsriemen innerhalb einer spezifisch neoliberalen Logik nur dann bewähren kann, wenn er permanent Investments tätigt, die weitere Investments induzieren.

Wenn der psychische Innenraum des letzten Menschen wie ein Ikea-Wohnzimmer aussieht, das im »Do it Yourself« Modus zusammengebastelt ist, obwohl die Anleitung für das Basteln weiterhin vom Unternehmen kommt, dann ist er seiner Innerlichkeit beraubt, obgleich er weiterhin zum Narzissmus verdammt bleibt. Dessen Komponenten sind die imaginären Repräsentanten der Außenwelt, Derivate der sozialen Rolle, die der funktionelle Psychopath als den legitimen Ausdruck seiner Persönlichkeit begreift, aber denen er auch andauernd zu entfliehen versucht, ohne dass ihm das im Geringsten gelingt. Eine komische Nicht-Identifikation, die im Leben nicht überwunden, sondern durch die äußerste mentale Distanzierung von der Rolle, die er einnimmt, gerade in den Zement der Identifikation mit der Rolle überführt wird. Solcherlei gelungenes Leben hat zum Ergebnis, dass der funktionelle Psychopath die Rolle und die Abweichung von der Rolle schließlich automatisch exekutiert, um so normalisiert wie möglich authentisch autistisch zu bleiben. Der heutige Narzissmus ist leer, und dort, wo der Narzisst sich hemmungslos selber lieben will, findet er nichts außer einem diffusen Konglomerat aus Stereotypen, Medienmüll und Ressentiments, gelegentlich auch Kreativität, mit der man den anderen outperformen will. Gleichzeitig tut der zeitgenössische Egoist aber auch alles, was man von ihm verlangt, wenn er nur ab und zu nach unten treten darf. Ein derart konstituierter Narzissmus gleitet nahtlos in die Paranoia hinein, mit der man sich über all und permanent umzingelt und verfolgt fühlt. Und der Rechtspopulismus schafft es dann noch, ein Objekt für die an sich objektlose Paranoia zu konstruieren: Der Flüchtling.

Da finanzialisierte Risikosubjekt introjiziert einen neuen Sozialcharakter, der den narzisstischen Typus ablöst, in dem er ihn übersteigt, erweitert und transformiert, nämlich den funktionellen Psychopathen, der allerdings nicht mit dem klinischen Bild eines Psychopathen verwechselt werden darf, obgleich gerade die Repräsentanten der herrschenden Klasse (Manager, Anwälte, Broker, Politiker, Ärzte etc.) ihm doch inzwischen gefährlich nahe kommen. So ist der Beobachtung von Götz Eisenberg durchaus zuzustimmen, dass heute die meisten Psychopathen keineswegs in Psychatrien einsitzen, sondern frei in der Weltgeschichte herumlaufen und zu allem (Un)Glück auch noch besondere Erfolge in ihren Berufen nachweisen können. Sie operieren meistens sehr effizient und besitzen Eigenschaften wie Fokussiertheit, übersteigerte Egozentrik, den unaufhörlichen Hang zu Optimierung und Skrupellosigkeit, sie mobilisieren die Anteilnahme anderer als ein von ihnen der Gefolgschaft verliehenes Privileg, das rein der eigenen Nutzenoptimierung und dem endlosen Streben nach Singularität dient, welche wiederum aus den Angeboten der Marketingindustrie für die Bezieher höherere Einkommen abgekupfert ist; sie leben die Unaufrichtigkeit und das herrische Auftreten bis in die Haarspitzen hinein, und dies geschieht im Rausch völliger Spontaneität, deren Fleisch gewordene Realität in ungefähr das Kunstprodukt Hitler-Trump darstellt. Im Weißen Haus weiß nicht einmal der innere Kreis, was Trump im nächsten Moment tweeten wird, es herrscht die reine Dezision als Chance zum clownesken Narzissmus und zur Unaufrichtigkeit, die das innere Wachstum befördert, den Überfluss jenes Selbst, dem sich noch der letzte Furz als Kreativität verkaufen lässt. Das Wunder ist die psychopathische Authentizität, die dem Erfolgreichen den inneren Lebensraum nicht nur kolonisiert, sondern ihn auch öffnet und freigibt, um Ihn als Mörder seines eigenen Seelenlebens anzustellen, ein Dienst, dessen Endlosigkeit den gewünschten Lebenssinn fließbandmäßig hervorbringt. Das Leben fingiert als Dressurmittel zur autistischen Soziopathie und ist ganz der Funktion der Effizienz des »Ich selbst« unterstellt, die mit der Subsumtion unter das Kapitalsurrounding im Hier und Jetzt zusammenfällt, und so subsumiert ist das Leben eine einzige Bewegung, die sein Sinn selber ist, eine ozeanische Katastrophe, die bis zur totalen Verschmelzung mit der Funktion der durchgeführten Funktionalisierung des Hirns für die Zwecke des Kapitals reicht. Gleichzeitig kopuliert der funktionelle Psychopath energisch und unendlich gern mit seinen Wünschen, um schließlich zur Konsumtionsmaschine zu gerinnen, die wiederum die Usurpation des Freizeitmenschen durch den Kapitalapparat ist.

Der funktionelle Psychopath, nicht als ein klinisches Symptom, sondern als dominanter sozialer Habitus, ist ein fühlbarer Zustand, mit dem Wunsch und Wirklichkeit, Wille und Welt identisch werden sollen, es aber nicht können.

1 Die Kapitalisierung inhäriert den berechneten (diskontierten) gegenwärtigen Wert der in der Zukunft zu erwartenden, risikobereinigten Gewinne einer ökonomischen Einheit. Die Preise von Derivaten basieren auf den Marktkalkulationen zukünftiger monetärer und volatiler Gewinnströme, die aufgrund von Marktzinsraten und den Erwartungen der Marktakteure diskontiert werden. Oder, um es anders zu sagen, sie resultieren aus der Diskontierung der zukünftig erwarteten Gewinne mit dem aktuellen Marktzins und einem von der Qualität des Wertpapiers sowie der konjunkturellen Situation abhängigen Risikoaufschlag oder -abschlag (gewichteter Zins). Spekulation und Messung im ökonomischen Bereich vollziehen sich heute am effektivsten durch das Schreiben und Auspreisen von Derivaten. Die Standardauffassung der Finanzökonomie definiert den Derivatvertrag als ein Asset (Vermögenswert oder spekulatives »Investment«), dessen Wert von etwas anderem, das als Basiswert oder Underlying bezeichnet wird, abhängig ist, wobei mit dem möglichen zukünftigen Wert des Underlyings spekuliert wird. Das Derivat ist also kein Ding, das man wie ein Buch in den Händen hält. Es ist essenziell relational, ja es ist eine Relation von Relationen. Dabei ist es die Aufgabe des Spekulanten, die Volatilität des Derivats in Relation zur Volatilität des Underlyings im Lauf der zeit einzuschätzen. Bei Derivatvertrag »wetten« also zwei Kontrahenten darauf, was mit der Relation zwischen dem unterliegenden Asset und dem Derivat in der Zukunft passieren wird. In gewisser Weise wird auf die Relation gewettet und ein Tango mit der Zeit gespielt. Das ist aber nur insoweit wahr, als auch die Prinzipien der euklidischen Geometrie nicht immer falsch, aber eben nur manchmal wahr sind. Es wird nämlich auch mit dem zukünftigen Wert des Assets selbst spekuliert, das heißt es gibt einen Bezug des Derivats auf sich selbst, und nicht nur auf das Underlying. Das Entscheidende der Replikation des Derivats ist seine Größe und die Geschwindigkeit der Volatilität.

2 Die Deutsche Bank hatte vor einigen Jahren einen Lebensversicherungsfonds im Angebot, mit dem auf die Lebenserwartung verschiedener Personen spekuliert werden konnte. Es war sogar möglich, Wetten auf den Tod anderer Menschen abzuschließen und damit Rendite einzufahren. Das Zertifikat dürfte als gegen jede Ethik verstoßend heute als überholt gelten.

3 Das Kadaver-Subjekt kondoliert eindeutig einer psychotischen Struktur, wie sie von Deleuze/Guattari ausführlich beschrieben wird. Die beiden Autoren schreiben, dass die Deterritorialisierungen (Teilungen, Verflüssigungen etc.) stets von Reterritorialisierungen (Narzissmus, Individualisierung etc.) begleitet sind.

Foto: Stefan Paulus

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