Die anderen Orte – Einschliessungsmilieus und Ausschlussmechanismen

Louis Althusser, Gilles Deleuze und Michel Foucault haben immer wieder in ihren Arbeiten die Ein- und Ausschlussmechanismen sowie die Herrschaftstechniken von repressiven und ideologischen Staatsapparaten bzw. von Einschliessungsmilieus thematisiert. Der folgende (Foto)Essai betrachtet die Modi Operandi der Einschliessungsmilieus und die damit erzwungenen Verhaltensweisen bei den Eingeschlossenen.

 

Die anderen Orte

Mit der Betrachtung von Heterotopien – den anderen Orten -, wie Michel Foucault schreibt, lassen sich die Idealbilder einer Gesellschaft erfassen, die verwirklichten und gescheiterten Utopien. Die anderen Orte zeigen uns die panoptischen bzw. ordnungssystematischen Bedeutungen von Kindergärten, Schulen, Fabriken, Büros, Gefängnissen, Kranken-, Mehr- oder Einfamilienhäusern. In diesen repressiven oder „ideologischen Staatsapparaten“ (Louis Althusser) und „Einschliessungsmilieus“ (Gilles Deleuze) werden uns Regeln beigebracht: „Regeln der Einhaltung der gesellschaftlich-technischen Arbeitsteilung und letztlich Regeln der durch die Klassenherrschaft etablierten Ordnung“ (Louis Althusser).

Ausschluss und Einschluss

In vormodernen Zeiten mussten „Irre“, „Verrückte“, „Wahnsinnige“ vor den Stadtmauern rumlungern, sie wurden abgesondert, auf „Narrenschiffen“ weggebracht und ausgesetzt oder sie mussten ihre Ideen widerrufen und das Gegenteil behaupten – wenn sie nicht aus der Gesellschaft, den Institutionen der Wissenschaft oder Religion ausgeschlossen werden wollten. Durch Verbote existierten Prozeduren des Ausschlusses von bestimmten Wahrheiten. Auch in modernen bzw. postmodernen Zeiten existieren Denk- und Sprachverbote. Aber heute produziert jeder Ausschluss einen Einschluss. Auch heute gibt es noch die Grenze zwischen dem Vernünftigen und dem Unvernünftigen, zwischen den „Wahnsinnigen“, die entmündigt werden müssen und den „Vernünftigen“, welche die Träger_innen der herrschenden Kultur sind, nur mit dem Unterschied, dass die „Wahnsinnigen“ eingesperrt werden – in Erziehungsheime, Knäste oder Psychiatrien –, weil sie gegen Normen, Vorschriften oder Gesetze verstoßen, weil ihre Wahrheiten keine Normen besitzen. Die Konstruktion des Gegensatzes von wahr und falsch wird auf der Grundlage des je vorherrschenden politischen, philosophischen, religiösen oder wissenschaftlichen Wahrheitsgehalts erzwungen, damit aus den „Wahnsinnigen“ resozialisierte Mitglieder der Gesellschaft werden können. So wird der Ausschluss zum Einschluss – entweder im ideologischen oder repressiven Einschliessungsmilieu.

Die Übertragung

Jedes Individuum, das von einem Einschliessungsmilieu zum nächsten weitergereicht wird, das aus einem dieser Einschliessungsmilieus ausscheidet bzw. „jede Gruppe, die unterwegs ‚fällt’“, wie Althusser in „Ideologie und ideologische Staatsapparate“ schreibt, ist mit einer zweckmäßigen Ideologie ausgestattet, welche der Rolle als Junge oder Mädchen, als Mutter und Hausfrau, Vater und Ehemann, als kranke oder gesunde, als delinquente oder resozialisierte Person, als Lohnarbeiter_in oder als Staatsbürger_in etc. entspricht – sofern wir diese Rollen für uns annehmen. Die Einschliessungsmilieus halten aber nicht nur die Rolle der „Ausgebeuteten (mit stark ‚entwickeltem’ ‚professionellem’, ‚moralischem’, ‚staatsbürgerlichem’, ‚nationalem’ und unpolitischem Bewusstsein)“ für uns bereit, sondern sie bieten auch Möglichkeiten zu Kollaboration als „Agenten der Ausbeutung“ und Unterdrückung, mit der Fähigkeit zu befehlen, im Namen der Einschliessungsmilieus zu sprechen, sich ohne Diskussion Gehorsam zu verschaffen und die Eingeschlossenen „mit dem notwendigen Respekt, d. h. der entsprechenden Verachtung, Nötigung und Demagogie zu behandeln.“

Die Ordnungssystematik

In den Einschliessungsmilieus herrscht eine je eigene Ordnungssystematik, ein je eigener Zeitplan. Die Zeitplanungen innerhalb der Einschliessungsmilieus – z.B. Mittagessen oder Schichtplan –, die Festsetzungen von Rhythmen oder Ritualen – z.B. Frühstücks- und Mittagspause, erst Hände waschen; dann essen, Gutenachtuss –, die Regelungen der Wiederholungszyklen – (z.B. 9-17 Uhr, Mo-Fr) – und der Zwang zur Verrichtung spezieller Handlungen – z.B. Stillsitzen, Zuhören, Fließbandarbeit, Gebet –, stellen eine systematische Minimierung der freien Zeit innerhalb von Einschliessungsmilieus her. Die zeitliche Zerlegung von Handlungen verzahnt das Selbst mit dem Milieu bzw. verzahnt „Körper/Waffe, Körper/Instrument, Körper/Maschine“, wie Michel Foucault schreibt. Wir werden zur Familie, zu Schüler_innen, Lohnarbeiter_innen, zu Christ_innen oder Soldat_innen. Wir verschalten uns mit einer Idee, dem Produktions- oder Reproduktionsapparat, mit Institutionen bzw. mit dem Einschliessungsmilieu.

Die Benimmregeln

Die Benimmregeln innerhalb der Einschliessungsmilieus dienen zur Orientierung und weisen uns einen Platz zu. Das heißt, wir befolgen nicht einfach ein paar Regeln, sondern verkörpern diese Regeln im unserem Tun. In diesen „Handlungsritualen“ (Judith Butler) stellen wir über die ritualisierte Festlegung von Tätigkeiten, Gesten und Bewegungen sowie durch die Zeitpläne und Wiederholungszyklen ein berechenbares Muster unseres Verhaltens her. Mittels der Durchsetzung des zur Routine werdenden Verhaltens überwachen wir uns selbst in unseren Einschliessungsmilieus – durch das Abfragen des richtigen Wissens, Zeigen der richtigen Moral, durch Tests oder Sanktionen wie Liebes- oder Freiheitsentzug. Wir kontrollieren uns gegenseitig, weil das jeweilige Einschliessungsmilieu mit einer ordnungssystematischen „Übertragungsmacht“ (Gilles Deleuze) ausgestattet ist. Dadurch werden wir zu freiwilligen Helfer_innen unseres eigenen Einschlusses.

Die Anpassung

Ein weiteres Beispiel für ein Einschliessungsmilieu ist die Fabrik: „Die technische Unterordnung des Arbeiters unter den gleichförmigen Gang des Arbeitsmittels und die eigentümliche Zusammensetzung des Arbeitskörpers aus Individuen beider Geschlechter und verschiedenster Altersstufen schaffen eine kasernenmäßige Disziplin, die sich zum vollständigen Fabrikregime ausbildet“, schreibt Karl Marx im „Kapital“. Die industrielle Massenerzeugung von bezahlbaren Konsumgütern basiert – neben dem Prinzip mit allen Mitteln aus Geld mehr Geld zu machen – auf der rationellsten Vernutzung menschlicher Arbeitskraft. Dazu wird das Individuum in der Fabrik an die Maschine oder an das Fließband angepasst. Diese Arbeitsorganisation auf der Grundlage der Erhöhung der Arbeitsproduktivität bzw. der rationellsten Nutzung der Arbeitskraft geht u.a. auf die Studien des US-amerikanischen Ingenieurs F.W. Taylor (1856-1915) zurück. Taylor verstand die Gliederbewegungen beim Arbeiten als mechanische Vorgänge, die an die Gesetze der Mechanik angepasst werden sollen. Dazu müssen die spezifischen Tätigkeiten der Arbeit in einzelne Handlungen zerlegt werden, damit die rationellste Ausführung ermittelt werden kann, um so den Angestellten in der Fabrik, durch die vorgegebenen Intervalle im Bewegungsrhythmus des Fließbandes, eine mechanisierte Arbeitsverrichtung anzutrainieren. Im Klartext heißt das, dass die Anpassung der Körper an die Maschinen über die Geschwindigkeit der Maschine verrichtet wird.

Die Selbstüberwachung

In den Einschliessungsmilieus besteht das Prinzip des gegenseitigen Überwachens. Ein Prinzip, um Subjekte des Sehens und Objekte des Gesehen-Werdens zu trennen. Die Architektur in den Einschliessungsmilieus schafft hierbei eine Situation der Vereinzelung – die Lehrer_innen und Vorarbeiter_innen die uns über die Schultern schauen, die Professor_innen oder Pfarrer die im Hörsaal oder von der Kanzel aus uns mit Blicken maßregeln oder die Gefängniswärter_innen die jederzeit freie Sicht in die Zellen haben, ohne dabei selbst gesehen werden. Aber auch im öffentlichen Raum sind wir der ständigen Überwachung ausgesetzt. Durch den permanenten Beobachtungszustand setzt automatisch die Selbstmaßregelung ein – „verhalte ich mich richtig, beachte ich alle Regeln….?“ So entsteht ein internalisierter Zustand der Selbstüberwachung. Es ist nicht mehr wichtig ob die Überwachung tatsächlich stattfindet, es reicht die Vorstellung der Überwachung. Durch dieses Prinzip können auch die Sehenden zu Gesehenen werden. Es entsteht eine Gesellschaft überwachter Überwacher_innen und abweichendes Verhalten wird sanktioniert. Strafbar ist dabei „alles, was nicht konform ist“ und die Sanktionen wirken „normend, normierend, normalisierend“ wie Foucault in „Überwachen und Strafen“ schreibt.

Die Beurteilung

In der Architektur des postfordistischen Unternehmens wird ein weiteres panoptisches System, das auf das Sehen und Gesehen werden ausgerichtet ist, sichtbar. Die ersten 1958 entstandenen Großraumbüros in der BRD, bei der Firma Boehringer in Mannheim, sollten Ausdruck der zwischenmenschlichen Beziehungen sein: Architektonisch wurden Trennwände beseitigt, um den Raum zu öffnen, damit die vorherrschenden Kommunikations- und Hierarchieprobleme unsichtbar werden. Das in Boxen oder Teilbereiche aufgegliederte Großraumbüro ermöglicht einerseits die gegenseitige Beobachtung, die Kommentierung der Arbeit anderer und setzt andererseits die Isolierung der Einzelnen in ihrem Bereich um. Die Architektur stellt so die Sichtbarkeit in alle Richtungen her. Die Beurteiler_innen bleiben unsichtbar und an die Stelle eines allsehenden Überwachers, tritt ein demokratisches, nicht-hierarchisches Modell gegenseitiger Sichtbarkeit, „bei dem jeder zugleich Beobachter aller anderen und der von allen anderen Beobachtete ist“, schreibt Ulrich Bröckling.

Die Kontrollgesellschaft

Ergebnis der jeweiligen Einschliessungsmilieus ist die Erzeugung von gehorsamen Individuen. Mit dem erfolgreichen Durchschreiten eines Einschliessungsmilieus sind wir mit Benimmregeln ausgestattet und werden in unserer Freizeit in den öffentlichen Raum entlassen. Dort befinden sich „nicht nur die Cops“, sondern auch „die Geometrie“ (Raoul Vaneigem), die Kollektivsymbole, die Strukturen, die uns die Wege vorgeben, uns in die Einkaufspassage, ins Kino, auf den Sportplatz bzw. zum nächsten Einschliessungsmilieu bringen. Nehmen wir die für uns vorgesehenen Rollen nicht an, verhalten wir uns anders, droht Ausschluss und zugleich ein neuer Einschluss. „Man braucht keine Science-Fiction, um sich einen Kontrollmechanismus vorzustellen, der in jedem Moment die Position eines Elements in einem offenen Milieu angibt, Tier in einem Reservat, Mensch in einem Unternehmen (elektronisches Halsband). Félix Guattari malte sich eine Stadt aus, in der jeder seine Wohnung, seine Straße, sein Viertel dank seiner elektronischen (dividuellen) Karte verlassen kann, durch die diese oder jene Schranke sich öffnet; aber die Karte könnte auch an einem bestimmten Tag oder für bestimmte Stunden ungültig sein; was zählt, ist nicht die Barriere, sondern der Computer, der die – erlaubte oder unerlaubte – Position jedes einzelnen erfasst und eine universelle Modulation durchführt. […] Allerdings hat der Kapitalismus als Konstante beibehalten, dass drei Viertel der Menschheit in äußerstem Elend leben: zu arm zur Verschuldung und zu zahlreich zur Einsperrung“, schreibt Gilles Deleuze in seinem „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“.

Über die je eigene Existenz hinaus

Zum Schluss hält sogar der Friedhof noch eine sonderbare Ordnungssystematik bereit, denn „es sind die Toten, so unterstellt man, die den Lebenden die Krankheiten bringen, und es ist die Gegenwart, die Nähe der Toten gleich neben den Häusern, gleich neben der Kirche, fast mitten auf der Straße, es ist diese Nähe, die den Tod selber verbreitet.“ Durch diese Nähe zum existenziellen Ausschluss schenken wir „dem sterblichen Rest viel mehr Aufmerksamkeit […], der schließlich die einzige Spur unserer Existenz inmitten der Welt und der Worte ist.“ (Michel Foucault)

 

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Fotos: Stefan Paulus

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