Die Erfindung des Gemeinsamen (1)

Die Erfindung des Gemeinsamen

Die Menge stand, wie immer, wenn er sie sah, wartend auf dem Bahnsteig. Manche rauchten. Morgens trugen viele der Wartenden Zeitungen, Aktentaschen unter dem Arm oder in der Hand; mittags waren mehr Leute in Unterhaltungen begriffen und schon erkennbar anders gekleidet. Abends dann wieder ähnliche Bilder wie morgens, wobei sich allerdings mehr und mehr Menschen, die ausgingen, Kino, Konzert, Theater, Kneipe unter die von der Arbeit Kommenden mischten. Er bekam pro Schicht aber immer nur einen Teil dieses bis auf Ausnahmen – Feiertage, Sonntage, größere Veranstaltungen – immer gleichen Ablaufs mit. Meistens war er vom frühen Morgen bis vormittags unterwegs. An der optimalen Position kurz vor dem Signal kam er zum Halt. Die Türen öffneten sich. Die Leute strömten heraus und hinein. Akustische Signale, gleich würden sich die Türen schließen. Er warf einen prüfenden Blick auf den fast leeren Bahnsteig. Das Lichtsignal war schon umgesprungen und er konnte die Fahrt fortsetzen. Selten trommelten Leute an die Türen und Fenster der haltenden Metro. 1995 war bereits das elfte oder zwölfte Jahr mit dieser Arbeit.

Paris war eine Stadt des heißen Asphalts. Es wurde gebaut und gebaut. Die Straßen waren fast alle zwischen der Revolution von 1848 und der Pariser Kommune 1871 asphaltiert worden. Im Dezember 1995 war es bitterkalt. Was aber stand auf den Flugblättern? Dort war zu lesen: Leben! So hieß die Parole auf einem Transparent, das eine Gruppe von PostlerInnen aus den Briefverteilanlagen auf einer Demonstration am 5. Dezember in Paris trug. Ja, diese Weigerung, sich betrügen zu lassen, diese plötzliche Welle von Ungehorsam, dieser menschliche Widerstand gegen den Totalitarismus des Ökonomischen, gegen seine erstickende Haushalt-, Finanz- und Währungslogik, ist etwas, das den herkömmlichen Klassifizierungen entgeht. Klassifizierungen, die üblicherweise binär sind: reformistischer oder revolutionärer Charakter? Offensiver oder defensiver Kampf? Ein Horizont, der durch tarifliche Forderungen begrenzt ist, oder Perspektiven, die über diesen Horizont hinausgehen? Und über dieses Hinausgehen stand da noch: Alles, was daraus automatisch folgen wird – Wörter, um es zu bezeichnen, Prozesse, Kontexte – , das alles kann und muss man danach angehen. Dieses danach definieren wir als Übergang von der Arbeit (von ihren individuellen und kollektiven Formen, vom Elend, das ihre Leugnung bedeutet) zur freien Aktivität. Es folgt daraus, embryonale Formen eines Netzes grundlegend anderer menschlicher und gesellschaftlicher Beziehungen zu versuchen, in Richtung einer Assoziation variabel zusammenwirkender und mitbestimmender Einzelner. Das nennen wir den Weg zu anderen Formen von Reichtum als jenen der Warenprothesen mit der bekannten Lebensunlust, die Elend und Mangel erzeugen. Der Wortschatz des traditionellen Instrumentariums (Avantgarde/Masse, Intellektuelle/Bewegung etc.) wird sich als das erweisen, was er ist: zurückgebliebene Verkrustung, Kristallisierung von fantasmatischen Ideologiefetzen, ein Gestammel von Dogmen. Die Ökonomisten an die Laterne ist in diesen Wochen nicht gerufen worden, man hat kein Absterben der Regierungsfunktion, das heißt des Staates, des Politischen als getrennter, übergeordneter Sphäre erlebt, die mit der Formierung von Fakten, Personen, Dingen, Zeiten betraut ist. Hingegen hat es eine Pause gegeben, die Vorahnung eines anderen Lebens, in dem man aus seinen jeweiligen Ängsten ausbrechen und sich begegnen, sich zulächeln könnte. Das Fest wird stattgefunden haben.

Der Text des Flugblatts könnte am Anfang stehen. Damit wäre schon mal der Horizont abgesteckt, in dem wir uns bewegen. Wir haben es ins Deutsche übersetzt und abgedruckt in einer Zeitschrift gefunden. Der Metrofahrer würde es vielleicht gelesen haben nach dem Streik im Dezember 1995, als es in Paris verbreitet wurde. Wir könnten es ihn lesen lassen. In dieser Zeit wäre er mit anderen Wörtern, Dingen, Menschen in Kontakt gekommen. Im Januar 1996 wäre es gut möglich, dass er dieses Flugblatt in die Hände bekommt. Auf jeden Fall hätten es einige seiner neuen Bekannten gelesen. Die Veränderungen aus jener Zeit hätten angehalten. Man könnte wirklich sagen, er fahre anders in die Stationen ein, sehe die wartende Menge anders seitdem. So zumindest würde er es uns im Sommer 2016 schildern, auf der Reise, die wir mit ihm machen würden. Raus aus Paris und aufs Land, wo es zu langen Gesprächen zwischen uns kommen würde. Oder wir blieben in der Stadt und würden hier aufeinander treffen. Auch hier könnten Gespräche dieser Art stattfinden, zu denken wäre an einen Küchentisch, um den wir sitzen könnten. Das könnte beides natürlich auch metaphorisch verstanden werden. Die Küche als Ort der Hausarbeit, wo nun über den Kampf gegen die Arbeit und über die Zerschlagung des Staates gesprochen werden würde. Lenins Ausspruch, die Köchin müsse den Staat lenken können, würde hier auftauchen und damit die unzähligen darauffolgenden Verknüpfungen von Küche und Staat in der kommunistischen Literatur. Die Fahrt aufs Land würde eine andere Metapher bilden: Idylle, Muße, Zeit zur Reflexion fänden sich darin, wie in einem Wellnessratgeber, verdichtet.

Noch eine Szene aus dem Alltag des Metrofahrers müsste darauf folgen. Etwa, wie er bei Schichtende seine Jacke anzieht, wie er alle Einstellungen im Führerstand mit geübten Blicken überprüft, während seine Ablösung, ein ihm bekannter Kollege, ihm nur kurz zunickend schon eingestiegen ist, seine Jacke auszieht und über den Stuhl wirft, Platz nimmt, um loszufahren, sobald der Metrofahrer die Tür hinter sich geschlossen hat.

Wir gerieten in ein Industriegebiet. Ein paar Fabrikanlagen mit ihren großen Schornsteinen und vor allem kleine flache Hallen, dazwischen immer wieder Anhäufungen von Wohnhäusern. Wir erinnerten uns an das Umherirren in anderen Städten, obwohl hier nichts Metropolitanes zu finden war. Doch auch hier ging es Treppen hinab und hinauf, gab es einige Hinterhöfe, auch wenn wir uns nicht in ihnen verlaufen konnten, wie in Paris, als wir mit dem Metrofahrer unterwegs waren, der sich nicht verirrte, auf das Spiel aber dennoch sich einlassen konnte und uns nicht bei jeder Unsicherheit zu einem Orientierungspunkt navigieren wollte. Später in der Geschichte sollten wir auf den Metrofahrer zurückkommen. Er würde durch seine Erfahrungen im Streik von 1995 eine Verbindung herstellen, ein Nadelöhr, durch das wir mit einer Vergangenheit verbunden wären, die uns abgeschnitten war. Viele Beschriftungen, die den Häusern fehlen, könnte er mündlich hinzufügen. Was hier war und was dort, Zeugnisse eines fast komplett vergessenen Kräfteverhältnisses. Die gewaltigen Aufstände ab 1968, eine Vergangenheit, die komplett desartikuliert ist. Der Metrofahrer würde noch etwas davon mitbekommen haben, wie es war, dass es eine Partei gab, dass es die Sowjetunion gab, die bestimmte Wörter und bestimmte Ziele besetzt hielt und der man sie zu entwinden hatte, während sie heute mit dem Untergang dieser schrecklichen Kräfte gänzlich vergessen sind. Er würde den Blick frei geben auf die Rückstände des 20. Jahrhunderts. Aber nicht als nostalgisches Moment dürfte das in unserer Geschichte auftauchen. Der Streik von 1995 stünde ja selbst inmitten des Neuen. Dann würde es sich nach allen Enden ausfransen. Keine Struktur wäre mehr gegeben. Das ganze Unterfangen würde im Sand verlaufen und doch, wenn es gelänge, eine situierte Geschichte bilden.

Die große Halle wurde tagsüber kaum benutzt. Auch das angrenzende Flachdach, auf dem an manchen Abenden bis zu 100 Leute Platz gefunden hatten, wurde nur noch begangen, wenn die Sonne den mittlerweile angebrochenen Herbst noch einmal zurückdrängte. Immer wieder hatten an den letzten Wochenenden draußen und in der Halle Partys stattgefunden, aber wir, die das Gebäude besetzten, hielten uns ansonsten meistens ein Stockwerk tiefer auf, wo einer der Besitzer Jahre zuvor Wände durch die Großraumbüros hatte ziehen lassen, um kleinere Arbeitszimmer für höhere Angestellte einzurichten. Auf Dauer war es uns besser erschienen, zu zweit, zu dritt, alleine in einem Raum zu schlafen und nicht wie ganz zu Beginn zusammen in der großen Halle. Strategisch machte es keinen Unterschied mehr. Bei einer Räumung hätten wir zu dieser Zeit ohnehin keine Chance mehr gehabt. Die Übriggebliebenen waren knapp zehn Leute, die noch wirklich in dem Gebäude wohnten. Es war eine Zeit des Wartens, in der sich niemand mehr auf längere Zeit einrichtete. Der Metrofahrer sollte, als Figur aus einer anderen Generation, also auch aus anderen Auseinandersetzungen und aus einer anderen Arbeit kommend, die Fäden unserer verschiedenen Erfahrungen zusammenbringen. Uneins waren wir uns noch über die Frage, ob der Metrofahrer männlich sein sollte. Wir entschieden uns dafür beim Sammeln unserer Erzählungen von der Arbeit, von den Situationen, in die wir hineingeraten waren. Zu diesen sollte er nämlich einen Kontrast darstellen. Jedoch, wenn man den Ausdruck aufgreifen will, auf den wir uns einigten, einen Kontrast in der Ähnlichkeit, einen sympathischen Kontrast.

Ich hatte meinen Bachelor abgeschlossen. Es war 2013 und ich wollte nicht weiter studieren sondern irgendwie arbeiten. Ich hatte genug von der Uni und davon, von meinen Eltern abhängig zu sein. Wollte schnell einen Job, bei dem ich komplett eigenständig wäre. In der Hoffnung währenddessen meinen Scheiß machen zu können. In Dublin ist es so: Es ist schwierig einen Job zu finden, der einen interessiert und wo man auch genug oder überhaupt was verdient. Deshalb wollte ich irgendeinen Scheißjob und da gab es für Fotografiesupport eine Firma, die machte das für Nikonkameras. Den Job habe ich super schnell bekommen. In Dublin sitzen die ganzen technischen Supporte von Nikon in allen europäischen Sprachen. Es war kein Problem, weil ich da angekommen bin und gesagt habe: ich bin zweisprachig, deutsch und englisch und habe super gute Kommunikationskills, weil ich Theater studiert habe. Ich habe da auch einen Begriff, den meine Schwester mir gesagt hat, verwendet: transferable skills.

Dazu muss vielleicht auch gesagt werden, dass ich auch den Druck von Seiten meiner Familie hatte, einen guten Job zu finden. Ich habe 1500 verdient im Monat, 40 Stunden Woche, was sich für diese Art von Job im Nachhinein als relativ wenig herausgestellt hat. Die anderen Supportfirmen in Dublin haben mehr bezahlt. Meine Schwester hat in Deutschland in einer Personalabteilung gearbeitet und sie hat mir immer erklärt, wie man sich verhalten soll. Meine Mutter war ganz genau so. Dieser ganze Arbeitsethikscheiß. Ich müsse etwas leisten und könne mich nicht einfach ausruhen, wo solle das Geld denn herkommen. Jetzt sei ich im richtigen Leben, da würden die Dinge anders laufen.

Ab und an kam der Chef rein auf seinem Kontrollgang durch die Räume. Der konnte jederzeit kommen, um zu schauen, dass niemand etwas mitgehen lässt. Ich habe so viel eingesteckt ab irgendeinem Zeitpunkt. Sollen sie doch kommen. Die ganze Scheiße wurde doch nicht benutzt. Die hatten körbeweise Stifte, Bürozeugs, Süßigkeiten. Alle in dem Haus, wo wir wohnten und das war ein großes Haus mit vielen Wohnungen, haben irgendwann diese Stifte von mir benutzt. Also einmal kam der rein und sah, wie ich mir die Taschen vollmachte. Da hat der gar nichts gesagt, nicht mal stopp. Am nächsten Tag war einfach die Kündigung da und die Anzeige. Was ich nie verstanden habe, du hast einen Job und wenn du scheiße baust, reicht es den Leuten nicht, dich einfach rauszuschmeißen, sondern die verklagen dich direkt.

Ich war insgesamt fünf Jahre dort. Es gab Leute wie mich, die im Lager arbeiteten und Waren verpackten, die dann von Lastwagen wegtransportiert wurden. Dafür gab es die Fahrer. Ich hatte aber keinen Kontakt zu denen. Das waren hauptsächlich Männer, während in der Halle hauptsächlich Frauen waren. Auch in der Halle kannte ich lange niemanden, weil alle zu verschiedenen Zeiten anfingen. Ich meine, man wartete vor der Halle, bis sie dich brauchten, dann fing man an. Beim Warten lernte ich zu Anfang auch nicht wirklich jemanden kennen, weil die Leute mir zwar Sachen sagten, die sie allen Neuen sagten, aber ich habe mich nur bedankt und nicht nachgefragt oder etwas anderes, weil ich auch zu eingeschüchtert war. Am Anfang konnte ich kein Italienisch und ich wusste nichts über das Arbeitsrecht hier und was für mich galt. Ich wusste nur, dass man als Migrantin nicht arbeitslos werden darf, weil sie dich sonst ausweisen, wenn sie das herausfinden. Das sagten mir alle, weil davor hatten alle Angst.

Ich musste mir eine Ausbildung suchen. Weil ich das Abitur ja nicht geschafft hatte. Da musste dann sofort etwas anderes her, sonst hätte ich alle Ansprüche auf Unterhalt und so was verloren. Ich habe mich bei den verschiedensten Agenturen beworben. Teilweise auch mit Initiativbewerbungen. Von dieser Firma wurde ich dann direkt eingeladen. Erst per Mail und dann per Telefon. Sie haben mich in so einen grauen Meetingraum gesetzt und dann vor allem über die Webseite gesprochen, die ich als Bewerbung erstellt hatte und über die Techniken, die ich da verwendet hatte. Ich habe mich nachher dann geärgert, dass ich gar nichts gefragt habe über die Bezahlung und die Firma. Ich habe einfach zugesagt. Dann sollte ich kommen zum Probearbeiten. Das ging zwei Tage. Da musste ich zuerst eine Webseite malen. Ich konnte mir aus fünf fiktiven Firmen eine aussuchen. Ich habe so eine genommen, die Menschen klont. Aber es ging dann nicht so ums Aussehen der Seite sondern hauptsächlich um die Technik. Alles, was ich machte, kam gut an. Bis auf das Design. Meins wäre das wohl nicht so, sagten sie mir. Ich musste dann erst ein Vorpraktikum machen, dass für etwa 200 Euro im Monat bei einer 40 Stundenwoche war. Also netto so 1 Euro pro Stunde. Das ging dreieinhalb Monate. In dieser Zeit habe ich vor allem Inhalte von Seiten zu einer neuen Version der jeweiligen Seite übertragen. Das war eine relativ monotone Arbeit. Man machte immer das gleiche und war da in so einem Team mit allen Praktikantinnen und Auszubildenden im ersten Jahr. Da konnte ich recht schnell Fuß fassen. Dass ich sehr schnell war, hat dann für Ansehen auch bei den Chefs gesorgt und bald durfte ich auch technische Sachen machen. Aber diese Art von Aufgabe fiel in der ganzen Zeit nie weg, war zeitlich auch immer das meiste.

Ich kam hin zu dieser Supportfirma für Nikon und wurde in ein Team eingeteilt, ein deutschsprachiges Team. Es gab einen Mentor, der mich einführen sollte. Da lernte man eigentlich, wie man die Betriebsanleitungen der Fotoapparate benutzt, um möglichst schnell die passende Antwort auf die Fragen der Kunden, die dich anrufen, zu finden. Am Telefon gab man die Antwort und verwies dann auf die Seiten in der Betriebsanleitung. Das war das eine. Zwischendurch riefen noch viele Leute wegen irgendwelcher Aktionen mit Gutscheinen an und wollten wissen, wie sie den Gutschein einlösen können und solches Zeug. Aber dieser Job war relativ leicht. Das Problem war, dass ich einen weiten Weg zur Arbeit hatte. Das Bürogebäude war in der Nähe vom Flughafen also ziemlich weit draußen und man musste um 8 Uhr da sein, also immer von 8 bis 16 Uhr. Das hieß ich musste um 6:30 Uhr aus dem Haus und war um 17:30 Uhr wieder zu Hause. Aber sobald man da war, war es relativ entspannt. Es gab nicht so einen großen Workload. Wir waren 10 Leute im deutschsprachigen Team. Alle möglichen anderen Sprachen waren auch da. Ich wurde relativ gut behandelt, weil meine Managerin konfliktscheu war, auch wenn man mal zu spät kam oder so. Aber ich war trotzdem immer total fertig und der ganze Tag war vorbei. Das andere Problem war, dass man das Essen immer selber bezahlen musste.

Dann habe ich mich nochmal auf die Suche nach einem Job gemacht. Warum ich nicht damals schon gemerkt habe, dass diese Art von Job scheiße ist, weiß ich nicht. Ich habe also nach einem anderen Job gesucht, etwa nach einem halben Jahr. Das war dann für Google, auch bei einem Subunternehmen. Das Gebäude lag zentraler in der Stadt. Ich konnte mit dem Fahrrad hinfahren in 15 Minuten und man musste auch erst eine Stunde später also um 9 Uhr anfangen. Und es gab Essen umsonst, aber wenn ich Essen sage, meine ich Snacks und Kaffee und den ganzen Scheiß. Ganz viel Kaffee, ganz viele Süßigkeiten. Diese Scheiße und Früchte ab und zu, aber nicht so viele. Ganz am Anfang gab es noch Wraps, aber das hat Google dann ziemlich bald nicht mehr bezahlt. Keine Ahnung, warum sie damit aufgehört haben. Solche Snacks in so einem Job sind das Schlimmste, weil man isst sie die ganze Zeit beim Arbeiten und es wird einem ziemlich schlecht, aber gar nicht so wie einem schlecht wird, wenn man kotzen muss. Man hat nur dieses Scheißgefühl im Magen und zwar von morgens bis abends.

Ich kam hin zur Arbeit und es war früh um 6 Uhr. Dann musste ich da warten, bis ich reingelassen wurde. Dann erst fing die Arbeit an und erst dann wurde man bezahlt. Ein paar Mal ließen sie mich fünf Stunden warten und schickten mich nach Hause, ohne Arbeit, ohne Geld. Es ging nur nach ihrem Bedarf. Gab es viel zu packen, brauchten sie mich, wenn nicht, streckten sie mir die Zunge raus. Drinnen war es dann verboten mit den Anderen zu reden, weil das Zeitverschwendung wäre. Es ging nur darum, die Waren zu verpacken, die die großen Lastwagen dann wegtransportierten. Manchmal zwölf Stunden am Tag, manchmal keine einzige.

Als ich bei Google anfing, gab es erstmal Training einen ganzen Monat. Dort hat man so ein bisschen was erfahren, über Google allgemein, so Propagandavideos und dann was dieses Google MyBusiness, für das wir den Support machen sollten, ist und wie es funktioniert. Alles aber nur ganz knapp und oberflächlich. Man lernte da, dass Geschäfte, zu denen man gehen muss, einen Punkt auf der Karte haben und dass es für andere Unternehmen, die zu einem kommen, so einen Dienstleistungsbereich gibt, der auf der Karte angezeigt wird. Dann lernte man, wie die Unternehmen angezeigt werden und, wie die Reihenfolge, in der sie angezeigt werden, entsteht. Also, wie es kommt, dass H&M eher als irgendein Second-Hand-Laden angezeigt wird, wenn man nach Hosen oder so was sucht. Diese Schulzeit fand ich ganz witzig, weil ich mich da auch so verhalten habe, wie in einem Klassenzimmer. Mit mir waren etwa zwanzig andere Leute da und eine Lehrerin. Zusammen mit zwei anderen Gruppen waren wir die Ersten, die dieses Produkt betreuten. Und ich war da so ein bisschen der Klassenclown. Weil ich immer Sprüche brachte, wenn die Lehrerin uns zum Beispiel ein Google-Video zeigte. Ich sagte dann, dass es Schwachsinn ist, und wir doch alle wüssten, dass Google nicht so toll ist. Aber in der Schule habe ich keinen Ärger bekommen. In diesen ersten vier Wochen Schule hatten wir immer am Ende der Woche einen Test und am Ende der vier Wochen musste man dann eine richtige Prüfung bestehen, auch mit praktischer Prüfung. Dann war der erste Arbeitstag und wir haben uns im Büro eingefunden. Es gab ein paar, die nicht bestanden hatten und wir saßen schon auf unseren Plätzen und wussten, die machen jetzt nochmal die Prüfung und dann kamen die anderen. Zwei von denen waren dann weg. Die hatten auch schon einen Sitzplatz, haben sich hingesetzt und so 10-15 Minuten später kam jemand rein und hat die aus dem Haus begleitet ohne was zu sagen und man wusste, dass die es sind, die es jetzt nicht bestanden haben, die jetzt weg sind.

Nach dem Praktikum durfte ich dann ab und an auch anderes machen. Mit einer Grafikerin habe ich dann eine Webseite gemacht für so einen Schwimmer, einen Olympiateilnehmer, da musste ich viel machen. Das war aber letztlich eine einfache Geschichte. In der Firma richtete man sich nach aktuellen Trends und nach so Vorlagen für Webseiten. Das einzig Schwere war, die Vorlage genau mit den Wünschen der Kunden in Einklang zu bringen, also technisch.

Ich denke, es wäre besser, wenn gekennzeichnet wäre, dass es sich um drei verschiedene Geschichten handelt, zum Beispiel in dem vor jedem Absatz eine Nummer stehen würde, durch die Klarheit darüber entstünde, wer jeweils gerade spricht und die einzelnen Absätze zuordenbar wären. Ohne eine Kennzeichnung merkt man zwar, dass es verschiedene Leute sind, die da interviewt wurden, aber manchmal weiß man nicht genau, um wen es jetzt geht. Man könnte sich einfach ein besseres Bild machen, von den verschiedenen Arbeitssituationen und den verschiedenen Figuren: Die Lagerarbeiterin, der Callcenter-Typ und der Webseitengestalter in Ausbildung.

Beim Interview hatte ich wieder den Vorteil gehabt, ein relativ junger bilingualer Typ zu sein, mittlerweile sogar mit Callcenter-Erfahrung. Ich sprach da hauptsächlich mit einem von Google Adverts, also von der Abteilung, mit der Google ihr Geld verdient, während dieses Google MyBusiness ja nur eine kleine Sache ist. Ich habe irgendwie geglaubt, dass ich das nicht so gut gemacht hätte bei dem Interview. Ich wusste bestimmte Callcenter-Begriffe nicht, nach denen der Typ mich gefragt hatte. Ich hatte die zwar alle schon ganz oft bei der Arbeit gehört, wusste aber nicht, was die bedeuten. Aber schon eine Stunde später wurde ich angerufen und mir wurde gesagt, sie wollten mich für den Job und ich müsste mich jetzt sofort entscheiden. Ich war auf dem Weg zurück zur Arbeit. Ich hatte irgendwie blöd gelogen, warum ich an dem Tag vormittags nicht bei der Arbeit bin. Da rief der mich also an und sagte, ich solle direkt nächsten Monat anfangen. Es war total heiß und ich habe dann direkt gekündigt am nächsten Tag. Obwohl ich auch nicht wusste, was das jetzt genau bringen würde außer mehr Geld.

Urlaub gab es nicht. Wenn ich krank war, wusste ich, dass ich nichts bekomme. Also ging ich meistens trotzdem hin und machte mir den Rücken kaputt. Zwei Bandscheibenvorfälle in zwei Jahren. Nach dem zweiten haben sie mich rausgeschmissen. Das ganze Warenlager ist eine Krankenstation. Nach ein paar Jahren hat jede irgendwelche Verletzungen oder Verrenkungen. Aber es interessierte niemanden. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt, an dem es dann losging, interessierte sich jeder nur für sich. Auch ich. Ich schaute nicht links, nicht rechts. Es klappte, dass sie uns zu einzelnen Individuen machten und jede nur versuchte heil und mit Lohn da raus zu kommen.

Wer zum Beispiel hat gerade gesprochen? Das müsste klarer werden. Es könnte am ehesten die Lagerarbeiterin sein, aber sie hat länger dort gearbeitet und wurde auch nicht rausgeschmissen, sondern hat an der Organisation und Durchführung der Streiks mitgewirkt. Sie hat sich in den fünf Jahren ihrer Arbeit dort politisiert und ist jetzt Aktivistin. Sie koordiniert die Arbeit einer Basisgewerkschaft. Es könnte höchstens sein, dass sie von diesem Fall, als einem anderen erzählt, um klarzumachen, was für eine Schinderei diese Arbeit ist.

Vielleicht sollten wir hier schon auf den Metrofahrer zurückkommen. Er würde durch seine Erfahrungen im Streik von 1995 eine Verbindung herstellen, ein Nadelöhr, durch das wir mit einer Vergangenheit verbunden wären, die uns abgeschnitten war. Wir könnten ihn diese Vergangenheit auch betrauern lassen. Wir könnten das typische Bild erzeugen, wonach die Leute damals noch eine Erwartung gehabt hätten. Ja, wir könnten sogar das Wort Utopie verwenden. Etwas in jedem Fall, das sie etwas tun ließ und davor bewahrte zu erstarren. Diese Erwartung, so könnte dann jemand entgegnen, habe die Leute aber auch über Leichen gehen lassen. Wenn die greifbare Utopie die Massen sich bewegen ließ, weil es vielen zum gleichen Zeitpunkt wirklich möglich schien, und zwar immer wieder im Laufe des Jahrhunderts, alles hinwegzufegen, was auf ihnen lastete, dann führte sie aber auch zu einer Unzahl an Verbrechen, an Morden im Namen dieser Erwartung, dann erzeugte sie eine Indifferenz gegenüber all dem Krieg und der Grausamkeit, weil sie es die Leute in Kauf nehmen ließ, für das Bild eines neuen Menschen Millionen zu töten. Wenn die Kraft dieser Erwartung, könnte wieder jemand anderes, oder doch der Metrofahrer, bemerken, heute wirklich verschwunden sei, so erschienen die Handlungen des Aufstands, des Widerstands heute vergebens. Begänne man sie doch im Wissen um ihr Scheitern, in der trügerischen Sicherheit, dass der Wunsch nach Freiheit und Glück, dass die Kämpfe in denen dieser Wunsch zum Ausdruck kommt, gegen die Formen der Herrschaft, gegen die sie sich richten, nicht gefeit seien. So lasse das Fehlen jeglicher Erwartung heute die Kräfte erstarren, die eigene Ohnmacht immer wieder spüren und apathisiere die Massen. Habe die Erwartung eines Kommenden noch aktiviert und über notwendiges Leid hinwegsehen lassen, so laufe heute alles auf den Moralismus hinaus, auf das Bewusstsein des Leids ohne die Möglichkeit es auszublenden, also auf eine große Handlungsunfähigkeit. Die Kehrseite dieser Apathie sei der Zynismus. Der Zyniker beziehe seine Handlungsfähigkeit, seine Macht, daraus, dass er sich und anderen ständig mitteile, die Bestrebungen zur Befreiung könnten niemals zu ihrer Realisierung hinreichen, es könne niemals gelingen. In unserem Gespräch wäre aber auch die Position festzuhalten, die diesem Lamento entgegenstünde. Eine Position, die aus dem Fehlen jeglicher Gewissheit eines Kommenden eine Geste der Kraft gewinnen wollte. Ein Aufbäumen der Kräfte, die Möglichkeit mächtiger Handlungen, die darauf fixiert wären, die Gegenwart zu verändern und mit den Worten Jetzt oder Nie Politik machen würde. Eine Position, die an die Zeiten der Autonomia erinnern würde, wo es auch darum gegangen sei, alles an sich zu reißen, gemeinsam anders zu leben: Wir haben studiert, aber wir hatten für alles mögliche Zeit. Wir haben Häuser besetzt, die Mensa, Fabriken, alles. Wenn es uns nicht passte, für die Straßenbahn zu zahlen, zahlten wir nicht. Wollten wir keinen Eintritt für das Kino zahlen, zahlten wir nicht. Wenn uns der Film nicht gefiel, drehten wir die Projektoren ab und diskutierten, warum der Film uns nicht gefiel. Wir haben etwas gegen das Fernsehen? Also verändern wir es. Sofort.

Als ich dann keinen Job mehr hatte, war es genau das gleiche. Ich bekam mein Geld, wenn ich das und das tat. Ich musste Bewerbungen schreiben, wie ich davor Berichte schreiben musste. Ich musste mit meiner Beraterin sprechen, wie davor mit meinem Chef. Du hast keine Arbeit und in der Zeit machst du doch das Gleiche, vielleicht ein bisschen weniger, aber du bekommst ja auch weniger Geld. Aber zwölf oder vierzehn Stunden am Tag sind es, wenn man die ganze Scheiße, die immer anfällt, mit dazu rechnet: Wege und vor allem die Hausarbeit.

Sofort gab es bei Google absoluten Stress, weil es so viele Anfragen gab, die noch nicht beantwortet werden konnten, weil es noch gar kein Team dafür gegeben hatte. Also hatten wir es ab dem ersten Tag mit einen großen Bearbeitungsrückstand zu tun. Am Anfang gab es noch größere Aufregung in dem Raum, weil es ein neues Produkt war. Viele der Leute hatten schon woanders bei Google gearbeitet. Schnell wusste ich, dass mir der Job nicht taugt und alles einfach viel zu stressig ist, aber ich kam auch einfach nicht raus. Ich war dann fast ein Jahr dort. Und dann hatte ich auch mit dem Management noch viel Stress. Mit meiner Teamleiterin, einer Frau, die so alt war wie ich. Wir waren 10-15 Leute im Team. Verschiedenste Leute, alles Deutsche, die irgendwie in Irland gelandet waren. Von dem krassen Mainzer Fußballfan, über den 40 jährigen Zockertypen, bis zu einem Brasilianer, der kaum Deutsch konnte, aber dann auch dabei war. Die Teamleitungen hatten letztlich Vermittleraufgaben. Meine Chefin war eine junge irische Frau, die auch Deutsch studiert hatte. Mindestens einmal die Woche hatte ich dann so ein Scheißmeeting mit der Teamleiterin. Die kam dann einfach zu mir und manchmal musste ich zur Personalabteilung, da bekam man dann eine Mail mit Termin und allem. Manchmal bekam ich sogar von meiner Teamleiterin eine Mail, obwohl die genau neben mir saß, weil man mich neben sie gesetzt hatte, um mich besser zu überwachen. Wie in der Schule musste ich neben der Lehrerin sitzen. Platzwechsel gab es circa alle zwei Monate und ich habe zu den Leuten gesagt: ihr wollt uns doch nur das Gefühl geben, dass was Neues passiert und dieses Umsetzen hat keinen anderen Grund. In dem Büro waren mehrere Teams, insgesamt so 50-60 Leute. Dann gab es noch ein anderes Großraumbüro für ein anderes neues Produkt, aber zu den Leuten hatte ich nicht wirklich Kontakt.

Dieser Aufseher, der schon älter ist, der versuchte es mit den jungen Frauen in meinem Alter. Zwanzigjährige Frauen, junge Frauen. Er sagte: Ich mag Marokkanerinnen. Ihr seid alle versaut. Wenn man die Stückzahl nicht geschafft hatte, sagte er: Wenn du die Stücke nicht machst, stecke ich ihn dir in den Arsch. Er versuchte auch Frauen zum Abendessen einzuladen. Für manche war das okay, für andere nicht. Die, die nicht mitmachten, ließ er zu Hause, zur Strafe, manche zwei Wochen. Dann überlegen sie sich es, meinte er. Oder er hat sie an einen anderen Arbeitsplatz versetzt. Ich hatte bald die Nase voll davon.

Ich hab oft die Berufsschule geschwänzt, da haben sie mir gedroht, mich zu verklagen. Ich musste dann ins Chefbüro. Da saßen fünf oder sechs Leute: die zwei Chefs, die Sekretärin und ein paar Seniormitarbeiter. Der eine Chef hat dann hauptsächlich zu mir gesprochen und erstmal gefragt, wie es läuft und ob ich in der Schule war und ich sagte einfach: Ich war nicht da. Hatte kein Bock drauf. Dann sagte er: Da muss man sich durchbeißen, aber wir haben ja gesehen, dass du was kannst und dann hatten sie vor sich ausgedruckt meine Stundenzahlen liegen und sagten: Du hast ja hier angegeben, dass du in der Schule warst, aber es ist Tatsache, dass du nicht da warst, wie kommt das denn? Ich sagte dann irgendwie so Zeug, wie: Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich konnte es nicht sagen. Die: Das ist ein Vertragsbruch. Sie könnten mich verklagen. Das könnte mich auch einiges kosten. Überstunden hätten sie mir auch schon fälschlicherweise ausbezahlt. Ich müsse wirklich aufpassen. Sowas halt. Da habe ich dann erstmal nix gesagt. Mehr als gedroht haben sie nicht, aber das war schon kurz bevor ich gegangen bin. Zum Ende habe ich nur richtig wenig gezahlt bekommen. Ich habe 2,90 Euro pro Stunde verdient. Alle Überstunden haben sie dann gestrichen und waren mit dem Zuspätkommen ganz penibel. Ich bekam dann immer eine halbe Stunde abgezogen, obwohl ich nur zwei Minuten zu spät war.

Und der Chef kam dann raus aus seinem Büro und ging zu den Grafikerinnen und sagte: Wenn ich euch sehe, geht die Sonne auf und so Zeug. Der hat sich in die Mitte des Raumes gestellt und den Leuten erzählt, dass sie effizienter sein müssten, und die Leute sollten dann Vorschläge machen, um effizienter zu werden. Da gab es dann ein Meeting irgendwann und da hat einer, der auch immer für die Zeiten zuständig war, gesagt: Man könnte effizienter sein beim Auf-die-Toilette-gehen. Das war dann seine Idee, um Zeit zu sparen. Dabei hat der gegrinst, wie so ein Hai in einem Comic. Ich bin dann einmal nach so einem langen Tag mit vielen Überstunden nach Frankfurt gefahren. Ich fahre also in die Stadt und da laufe ich dann am Main entlang und unter irgend so eine Brücke. Ich weiß gar nicht mehr, was ich da genau gemacht habe. Ich dachte danach nur, jetzt verstehe ich das mit dem Verrücktwerden, wieso die ganzen Leute verrückt werden.

Das Schlimme war, ich hörte das oft, aber wenn man etwas antwortete, was ihm nicht passte, bekam man eine Strafe, weil man nicht reden durfte am Arbeitsplatz. So konnte ich mich auch nicht mit den Anderen besprechen. Und niemand mochte das. Nicht nur ich hatte die Nase voll von ihm und von der Arbeit überhaupt. Ich meine, mal nehmen sie dich, mal brauchen sie dich nicht und sie erwarten noch Dankbarkeit. Als ich mich einmal beschwerte, weil ich drei Tage in Folge kommen musste und sie mich immer wieder nach ein paar Stunden warten nach Hause schickten, da haben sie die Security geholt. Zwei Männer, die mich einfach hochhoben und aus dem Gelände trugen und die fanden das noch geil.

Die Notwendigkeit, Orte zu haben, wo man nicht schwach ist, weil man sich beschützt, ließe sich an diesem Punkt der Geschichte thematisieren. Das Konstruieren von Zusammenhängen, in denen die Existenz und die Macht des Feindes nicht geleugnet oder verschleiert wird, sondern die helfen, dem Feind immer wieder ins Gesicht zu sehen, ohne ständig vor seiner Übermacht erstarren zu müssen. Aber keine Organisation, in der, wie Lenin es verlangte, eiserne Disziplin herrschen sollte. Die organisatorische Disziplin führte immer wieder zu unerträglichem Druck, zu einer autoritären Macht im Kollektiv, die all unseren Zielen entgegenstünde. Zusammenhänge also wären zu konstruieren, die selber eine Gegenmacht darstellten und eine Kraft zur Selbstverteidigung aufbauten, ohne selbst wieder unmäßige Disziplin zu verlangen. Hier wäre wirklich etwas zu konstruieren, eine Erzählung davon, würde jemand einwerfen, wie es phasenweise gelänge.

Bei Nikon war das Problem immer nur die Langeweile gewesen, die Monotonie, und hauptsächlich der Weg. Bei Google hat man mehr bekommen. Ich bekam einen Bonus, nur weil ich deutsch spreche. Die englischsprachigen Arbeitenden haben den nicht bekommen. Man musste ganz exakt pünktlich, das heißt um 9 Uhr am Rechner eingeloggt sein. Übers Telefon loggte man sich immer aus, wenn man zum Beispiel aufs Klo musste, und dann wieder ein. Ich habe in der Zeit oft Ärger gehabt, weil ich eine Minute oder zwei zu spät war. Ich musste dann länger bleiben und die Teamleiterin hat mich wieder zum Gespräch geholt.

In der Zeit habe ich auch viel zugenommen, wegen der ganzen Snacks. Es war alles total niederschlagend und stressig. Die Struktur war so: Wir waren die Arbeiter, die das alles machen mussten, und jedes Team hatte eine Teamleitung und dann gab es die Leitung der Teamleitungen mit einem eigenen Büro, die dann auch wieder hunderte Chefs über sich hatte. Aber meine unmittelbare Struktur hörte dort auf. Alle, die da arbeiteten waren im gleichen Boot. Unsere Teamleiterinnen hatten auch alle mal einen ähnlichen Job wie wir gehabt und waren aufgestiegen. Teilweise richtig schnell. Die waren großteils richtig jung. Der einzige Unterschied war: Sie haben etwas mehr verdient und hatten etwas mehr Kontakt zu Google. Eine war einundzwanzig und Teamleiterin von Leuten, die so 40 waren. Meine Teamleiterin war so alt wie ich oder ein bisschen jünger. Mit der habe ich mich nach einer Weile so richtig angelegt. Das erste Mal, als ich mit der Personalabteilung so richtig Stress bekommen habe, war so. Es gab immer ein Ranking zwischen den Teams, das zum Ende des Monats veröffentlicht wurde. Dort wurde aufgelistet: Wie viele Fälle wurden geschafft von einem Team? Wie gut war die Kundenbewertung? Und so weiter. Man wurde entweder per Mail, Chat oder Telefon von den Kunden angefragt. Wenn man am Telefon war, hat man versucht die Sache direkt zu klären und wenn das mit einem Telefonat erledigt werden konnte, war man angehalten, zu versuchen die Leute direkt an so einen Fragebogen weiterzuleiten, wo sie einen und die getane Arbeit mit Sternen bewerten konnten. Aber das Wichtigste war, dass man überhaupt Leute dazu gebracht hat, die Bewertungsbögen auszufüllen. Es ist oft schon daran gescheitert, dass nicht genug Leute die Bewertungsbögen ausgefüllt haben. Und wenn man eine so und so hohe Bewertung hatte, dann bekam man einen Bonus. Aber das Schwierigste war immer die Mindestzahl an Leuten zu erfüllen. Am Ende des Monats wurden dann immer diese Rankings veröffentlicht und das deutsche Team war immer richtig scheiße, weil wir diesen großen Rückstand vom Anfang hatten und dadurch viel zu viele Fälle da waren, die unbearbeitet blieben. Aber nach einem halben Jahr oder so hatten wir es doch einen Monat geschafft, in die Mitte des Rankings zu kommen und dann kamen Mails, die einen dazu beglückwünschten von der Teamleitung und der ganze Scheiß. Ich habe dann darauf geantwortet: Ist ja voll blöd. Jetzt sind wir langweiliges Mittelmaß. Davor waren wir wenigstens die letzten. Meine Teamleiterin hat das gelesen mit einer anderen und darüber gelacht. Ich habe ja oft so Zeug gesagt. Aber zwei Minuten später kam sie zu mir und ich musste zur Personalabteilung, weil die Mails auch von Google selbst eingesehen werden konnten und die fanden das wohl gar nicht lustig.

Also ich war im Gespräch und der Personaltyp sagte mir: Du scheinst nicht richtig motiviert zu sein. Das können wir uns hier nicht erlauben. Ich saß da einfach nur und mir war das scheißegal. Er fragte mich: Dich scheint das alles nicht zu stören? Du kannst hier deinen Job verlieren. Da sagte ich: Ich will euch nicht verarschen. Ich mache meinen Job. Ich schaffe alles, was ihr von mir wollt. Aber ich habe jetzt nicht immer irgendein Lächeln auf dem Gesicht.

Es gibt viele Firmen wie die, in der ich gearbeitet habe. Die ganze Po-Ebene ist voll davon. Weil die von dort aus schnell ganz Italien erreichen können. Es sind diese flachen großen Hallen an den Stadträndern, zu denen die Leute morgens ganz früh hinfahren. Sie fahren die Sachen von dort aus zu den Häfen nach Genua und Venedig und sie fahren die Sachen nach Norden und Süden. Deshalb trifft man hier auf der Straße viele Leute, die so etwas arbeiten, wie ich. Aber als ich das gemacht habe, hatte ich keine Zeit dafür mit den Leuten auf der Straße zu sprechen. Das kam erst mit dem Streik. Ich bin nur Arbeiten gewesen und Einkaufen, dann zu Hause zum Kochen, all die Arbeit, die da anfällt. Ich arbeitete mit der Zeit immer mehr und mehr, wie es von mir verlangt wurde.

Ich habe dann schon ab und zu mit Leuten gesprochen, als ich etwa ein oder zwei Jahre da war. Ich erzählte von der Gewerkschaft, in der ich mittlerweile war, wegen einem Freund, aber sie hatten viel Angst. Sie machen dir solche Angst, dass du nicht mal mehr A sagst. Du arbeitest Stück für Stück für Stück. Du denkst nur an die Stückzahlen Tag und Nacht. Du bist zu Hause und denkst an die Stückzahlen. Ich habe also mit den anderen Frauen gesprochen und ich weiß nicht wieso es so kam. Es war Glück. Sie wurden langsam mutiger. Ich erzählte ihnen von einem Freund, der die Kämpfe bei TNT mitgemacht hatte und mir davon erzählt hatte. Dort hatten sie Erfolg und ich erzählte ihnen von dem Erfolg. Dass sie gekämpft haben und damit Erfolg gehabt haben.

Ich und ein paar Andere haben die ganze Zeit diese monotone Aufgabe gehabt die Inhalte auf die neu designte Seite zu transferieren und ich war super schnell und allen ist es aufgefallen. Die Chefs haben davon erfahren und dann war halt ein Anderer viel langsamer als ich und der hat dann total Ärger bekommen, obwohl er ja nicht langsamer war als vorher. Schuld an seiner Langsamkeit sollte sein, dass er Raucher war. Er würde auch die anderen Leute zum Rauchen anstiften. Die Chefs haben die internen Chats zwischen uns ausgedruckt und dem dann vorgelegt. Die Sekretärin kam rein und sagte: Nimm alle deine Sachen. Das klang schon richtig krass, hat aber niemanden gebockt. Dann wurde ich irgendwann zu den Chefs geholt, vielleicht eine halbe Stunde später, aber der Andere war schon weg. Er arbeite zu wenig und rauche zu viel. Hier seien die Beweise. So saßen die da vor mir. Dann haben die mir aus den Chats vorgelesen und es war einfach klar, die hatten den auf dem Kieker. Die Konsequenz war, dass er für den Tag gehen musste und die nächste Woche wiederkommen sollte, um den Chefs seine Visionen, wie sie es nannten, zu erklären und sie zu überzeugen, um da noch weiter arbeiten zu dürfen. Er hat das dann gemacht, hat eine Mail geschrieben mit Entschuldigungen. Der Chef hat sich auch sein Handy durchgesehen und ihn in dem Büro noch weiter eingeschüchtert. Er hat dann für seine vermeintliche Langsamkeit auch eine Krankheit angeführt und nach einem längeren Gespräch durfte er dann bleiben. Aber er durfte nur noch fünfmal am Tag rauchen und nur alle 90 Minuten und immer wenn jemand auf den Balkon kam, während er rauchte, musste er runtergehen.

Das Problem war, dass ich zwar einer von denen war, die am wenigsten bekamen, aber das war keine große Gruppe fast alle bekamen etwas mehr. Es gab so viele Abstufungen im Lohn, fast jede hatte einen anderen Vertrag: Werkvertrag, Ausbildungsvertrag, Praktikum, Festanstellung, Honorarkraft, Selbstständigkeit, Subunternehmen. Einige von uns waren sogar Miteigentümer der Firma, aber zu so einem geringen Teil, dass damit nur die Versicherung gespart wurde. Dazu wurde man auch noch rassistisch getrennt. Einmal streikten die bei einem Subunternehmen angestellten Lastwagenfahrer und das waren hauptsächlich Leute, die aus dem Süden gekommen waren, aus Marokko etc. Die festangestellten Italiener machten da nicht mit, obwohl sie auch Lastwagen fuhren. Sie sagten, ihr faulen Moslems und ähnliches. Sie machten das mit Absicht, ein Italiener wurde festangestellt, eine Migrantin nicht, damit sie die Leute besser kontrollieren konnten, damit aus den vielen Einzelnen nicht viele zusammen wurden. Aber als wir uns dann beim Streik zusammengeschlossen haben, überwanden wir diese Kontrolle. Doch damals gab es noch keinen Zusammenhang. Jede ein anderes Arbeitsverhältnis, jede ein anderes Problem.

Ich habe dann auch gegen die gesprochen. Ich sehe nicht, dass er langsamer sei als ich und mit dem Rauchen habe das nix zu tun. Wir würden beim Rauchen immer über die Arbeit sprechen und versuchen effizienter zu werden. Die Raucherpausen wären letztlich dafür genutzt worden, sich gegenseitig zu helfen, um schneller und besser zu arbeiten. Der arbeitet immer noch da. Bald ist der fertig mit der Ausbildung und beklagt sich nicht wirklich. Er sagt, er findet es nicht gut, mag den Chef auch nicht, sagt er, sagt aber auch, es wäre ihm egal. Der Chef hat ihn richtig gepiesackt, er wurde an einen ganz beschissenen Platz gesetzt und alle konnten seinen Bildschirm sehen. Das fand er richtig scheiße, aber sobald es wieder besser ging und er sich wieder umsetzen durfte und der Chef nicht mehr so schlecht auf ihn zu sprechen war, da war ihm alles wieder egal.

Dann hatte ich auch so eine Art Depression. Ich war richtig fertig. Einmal war ich wieder bei der Personalabteilung, weil ich Sachen umgeworfen habe. Ich habe einfach die Wut dann immer mehr rausgelassen. Irgendein Kunde war ein Auslöser, aber mit denen hatte ich eigentlich kein Problem. Ich habe dann immer mein Headset rausgerissen und durch die Gegend geworfen, oder meinen Stuhl umgeschmissen. Warum mache ich das? Wieso bin ich jetzt hier drin? Zu den Projekten kam ich ja auch gar nicht. Ich hatte einfach nicht die Kraft. Ich kam raus aus der Arbeit und wollte eigentlich nur pennen und wollte aber auch unbedingt nicht pennen, um mein Zeug zu machen und so kam ich nicht ins Bett. So habe ich jede Nacht nur so 5 Stunden geschlafen. Es war einfach der Druck, zu wissen, das ist nicht, was ich machen will und mir geht es Scheiße deshalb. Dann habe ich zwar mehr verdient, aber auch viel ausgegeben. Für irgendeinen Scheiß. Du hast keine Zeit, aber dann gibst du Geld aus. Schnell, Essen, Musik, alles. Jedes Wochenende Party, um montags wieder einigermaßen da zu sein.

Man bekommt dann so eine Wut. Läuft atemlos, aufgehetzt durch die Stadt, immer schneller. Könnte etwas einschlagen, sucht etwas zum einschlagen und dann entlädt sich alles darin, dass man auf die Straße spuckt. Aber nur für einen kurzen Augenblick, dann geht es weiter. Man kämpft, aber an der roten Ampel bleibt man stehen.

Wir mussten 20 Fälle lösen pro Tag. Ich konnte mehr machen, manche nicht, aber ich habe mir dann gedacht, warum sollte ich mehr machen. Ich habe nicht etwa 20 Stück gemacht und dann aufgehört, sondern ich habe mir das irgendwie eingeteilt, habe einfach langsam gearbeitet. Bis 17 Uhr schaffte ich schon irgendwie 20 Fälle, und dazwischen war ich dann die ganze Zeit im Internet unterwegs und habe Musik gehört. Teilweise hatte ich im Browser 40 Fenster offen und die ganze Zeit nach neuer Musik gesucht. Aber dann saß halt die Teamleiterin neben mir und auch die Chefin konnte durch das Fenster in ihrem Büro genau auf meinen Bildschirm sehen, dann habe ich das nur noch gemacht, wenn ich gesehen habe, dass sie nicht da ist.

Es gab diese eine Woche, in der ich jeden Tag ein Meeting mit der Teamleiterin hatte. Und dann habe ich aufgehört. Ich kam diese Woche immer zu spät. Ich komme drei, vier Minuten später und muss direkt mit ihr sprechen. Sie zieht mich in einen Nebenraum, bevor ich den Computer angemacht habe. Generell, ich habe die Arbeit einfach nicht so Ernst genommen und habe sehr offen meinen Frust raushängen lassen und war kritisch. Ich habe dann auch in so einer linken Lesegruppe angefangen und ausprobiert, wie man diese Dinge sagen konnte am Arbeitsplatz. Einfach nur so Sprüche bezüglich der Arbeitszeiten, dieses Zeitmanagements oder wenn wir uns umsetzen mussten. Der ganze Scheiß wie diese Snacks und die kleinen Bonusgeschenke. Ich habe dann immer gesagt: Ihr wisst schon, es ist Scheiße. Ihr wollt uns nur was verkaufen, damit wir nicht sehen, wie scheiße es eigentlich ist oder damit wir diese Illusion haben, dass es nicht so schlimm ist. Ich habe das aber scherzhaft gesagt nur als einzelne Sprüche. Ja, und dann war klar, entweder die feuern mich und das wird dann ein ganz langwieriger Prozess oder ich gehe. Dann habe ich halt einfach aufgehört und das war voll geil einfach aufzuhören und zwei Monate lang gar nichts zu machen und mich hier zu bewerben für das Studium und dann habe ich sogar noch ein letztes Mal, im Sommer vor dem Studium sowas angefangen, diesmal bei Microsoft für zwei Monate. Einen Monat gearbeitet, dann direkt gekündigt und so war ich nach zwei Monaten draußen. Ich wusste also die ganze Arbeitszeit über, dass es bald vorbei ist. Der Job war auch besser: ganz ohne Telefonkontakt mit Kunden. Ich war jetzt jemand von denen, die nur dann eingeschaltet werden, wenn die Leute am Telefon keinen Zugriff auf irgendetwas hatten.

Ich stand einmal beim Rauchen auf dem Balkon mit ihm und sagte: Ich glaube nicht mehr an den Kommunismus. Als ob man jemals zusammenkommen könnte ohne irgendeinen dieser Mythen, wie Nation, Familie, Partei und Staat. Wir können ja nicht die ganze Zeit auf Droge sein und ich meine nicht Zigaretten, sagte ich noch. Dann spuckte ich triumphierend meine Zigarette in hohem Bogen über die Brüstung, wie in so einem Film. Ich war froh zynisch zu sein, das war das Schlimmste. Ich habe das Einfachste, das immer wieder vor meiner Nase war, dass Menschen zusammenleben diesseits von all den Mythen, nicht mehr sehen können.

Einmal bin ich nach Hause gegangen nach zwölf Stunden Arbeit und da machten sie es so. Sie haben mich angerufen, eine halbe Stunde nach der Arbeit und mir etwas von der Arbeit gesagt, sie wollten, dass ich jetzt direkt weitermache von zu Hause. Vielleicht durften sie mich nicht länger dabehalten oder so. Auf jeden Fall kam ich nach Hause und habe direkt weitergearbeitet. Weil ansonsten würden sie mich feuern. Am anderen Tag bin ich dann wieder hin und meinte: Das kommt nicht wieder vor. Ich arbeite hier und sonst nirgends und die haben sowas gesagt, wie: Du musst vollen Einsatz zeigen. Sonst bist du bald weg vom Fenster. Haben mir irgendwas von Karriere erzählt und dass man sich da reinhängen müsse, wenn man was werden will. Ich habe dann gesagt: Ich arbeite zwölf Stunden was wollt ihr eigentlich. Im Vertrag stehen acht und jetzt lasst mich an die Arbeit. Die waren nicht unzufrieden mit der Antwort. Das habe ich gesehen.

Es ist halt krass, dass ich diese Jobs so lange gemacht habe, obwohl ich sie so lange Scheiße fand und obwohl ich wusste, dass es nicht gut für mich ist, körperlich, für mein Selbstbewusstsein. Ich habe gemerkt, all meine Freunde, die machen das gerade nicht. Die müssen jetzt nicht arbeiten. Warum bin ich jetzt in dieser Situation? Das Geile aber war, ich habe dieses Geld verdient, eigenständig. Ich konnte in der teuren Stadt leben und hatte extra Geld. Ich konnte Ferien machen, wegfahren mit meinem Geld. Fickt euch, ihr Schweine. Ich hatte es in der Tasche. Die Mieten waren sehr teuer in Dublin. Gastronomie ist schwierig da und man verdient wenig. Die Leute arbeiteten da nur, wenn sie noch woanders her Geld hatten, von ihren Eltern oder so. Und Kunstbetrieb geht nicht, weil alles unbezahlt ist in den ersten Jahren und du richtig Kohle brauchst, um das trotzdem zu machen.

Ich konnte es einfach nicht mehr, deshalb habe ich aufgehört. Meine Eltern haben dann auch irgendwann halbwegs gecheckt, dass es mir richtig schlecht ging. Sie mussten es halt verstehen. Im Nachhinein ist es auch echt so, dass es einfach ein Scheißjob ist, weil man da nicht mehr rauskommt und dran kaputt geht. Viele der Leute arbeiten da jetzt noch, die schon vor mir da gearbeitet haben. Ich kenne einen, der arbeitete schon vier Jahre vor mir da und ist jetzt immer noch da und beklagt sich nur. Bei Google habe ich die ganze Zeit diesen Scheiß in mich reingefressen und man sitzt den ganzen Tag nur so da vor diesem Scheißrechner und abends macht man dann Sport oder was? Entweder gehen die Leute joggen oder sie zocken. Die einen wollen noch Karriere machen und bei manchen klappt es auch.

Ständig gibt es was zu tun, das ist Gefühl, das herrscht. Es wird überhaupt nur so gearbeitet, ohne sichtbares Ende. Du weißt, du machst den Scheiß dein Leben lang und dann hast du paar Jahre um zu sterben. Da sollst du dich dann auch noch fit halten. Kinder hast du mittlerweile auch und ab und zu machst du so einen Ausflug am Sonntag. Das Beschissenste sind Sonntagsausflüge. Da fährst du mit deiner Karre, die du dir geleast hast, 100 Km weg und setzt dich an so einen See. Schaust paar Stunden den See an, gehst was Essen, lässt dir irgendwas aufs Ohr drücken und bist froh, dass du mal nicht auch noch kochen musst. Dann wieder zurück, hast du am Abend noch die dreckige Picknickdecke zu waschen und all den Müll aufzuräumen. Sonnenbrand, und kannst deshalb nicht einschlafen, bis der Wecker klingelt.

Spätestens an dieser Stelle wäre der Punkt erreicht, an dem sich alles zu wiederholen begänne, an dem keine neue Information mehr gegeben werden könnte, oder besser an dem jede neue Information, jede neue Begebenheit nur wie eine Wiederholung der bereits festgehaltenen erscheinen würde. Dies wäre die Stelle, würde eine andere präzisieren, an der wir zusammenkommen müssten, an der wir uns treffen müssten, hier auf dem Dach oder in der großen Halle sitzend, indem wir den Metrofahrer erfinden und nicht länger von unserer Lähmung, sondern von unserer Aktivität, von unseren Versuchen berichten.

An dem Tag, als sie eine ganze Millionenstadt zum Stillstand brachten, weil einer um sich geschossen hatte, wussten wir, dass es nicht mehr annähernd so werden würde, wie bei Blockupy in Frankfurt. Wir hatten die Bilder aus Paris gesehen, wo sie zwei Massen fein säuberlich voneinander getrennt hatten. Die eine stand und saß versammelt vor dem riesigen Bildschirm, auf dem zu sehen war, wie die portugiesische Nationalmannschaft Fußballeuropameister wurde, die andere keine zweihundert Meter hinter dem Bildschirm, aber kaum eingefangen von den Kameras und von einem gewaltigen Polizeikordon mit Tränengas am weiteren Vordringen Richtung Fußball gehindert. Dazu die anderen Bilder, auf denen zu erkennen war, dass sie mittlerweile komplett umzäunte Bereiche bauten, in die man hineingehen musste, wenn man demonstrieren wollte. Wir wussten schon immer, dass sie die sorgsam in einzelne Päckchen verschnürten Freiheiten jederzeit um ihrer Sicherheit willen einkassierten, aber, dass sie eigens Laufgefängnisse errichteten, für eine Demonstration von ein paar Tausend Menschen, überraschte uns doch. Reisefreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit hatten längst den Status von erkämpften Rechten verloren und waren zu dann und wann zugebilligten Ausnahmen und Privilegien weniger geworden. Legten die Bullen schon bei einem Amokläufer eine ganze Stadt lahm, würden sie bei der kleinsten Aktion von uns nichts unversucht lassen, würden sie uns jagen, großenteils selber Leute aus der faschistischen Bewegung, würden sie uns nicht die geringste Ruhe lassen, wenn einmal mehr passierte, als die obligatorische Kundgebung.

Wir wollen acht Pfund die Stunde, das ist alles! Wir riefen es immer wieder. Hatten unsere Helme auf und mit den Handys filmten wir, wie sich der Chef vor uns zum Affen machte, wie er versuchte, uns zur Ruhe zu bringen. Um Dinge zu sagen, wie: Wir wollen die Probleme eines jeden Einzelnen von euch ernst nehmen. Wir wollen die Chance, jedem von euch individuell zuzuhören. Wir hatten genug davon Individuen zu sein. Wir hatten genug davon, immer nur als Einzelne behandelt zu werden. Wir waren zusammengekommen, weil wir alle dieses Problem hatten, weil nicht jeder irgendein individuelles Problem zum Ausdruck bringen wollte, sondern weil darin, dass wir nicht zusammen waren, sondern jede Person ihren Job ganz individuell machte, das Problem bestand. Jede Pizza, die wir lieferten, mochte etwas anders schmecken, jede Haustür, vor der wir hielten, mochte etwas anders aussehen, am Ende waren es doch immer zu viele Pizze, die ihren Weg von A nach B fanden, und es war immer Geld, das wir bekamen, am Ende des Monats und zwar zu wenig.

Man könnte erzählen, dass wir in all diesen Firmen mitgestreikt hätten. So würden wir einen Eindruck davon vermitteln, wie das alles nicht so getrennt war, in einzelne Berufe und Tarifverbände, sondern dass es gegen jede Arbeit gerichtet war. Man könnte erzählen, dass wir hingefahren wären mit einem Auto und den Arbeiterinnen, von denen man noch sagen könnte, dass sie auch nur 600 Euro verdienten oder vielleicht 1000, die Frage zugerufen hätten, ob sie nicht Lust hätten eine Runde um die Logistikhalle zu drehen. Wir sollten in der Beschreibung den Eindruck von so einem riesigen Fuhrpark erwecken, in dem die ganzen Transporter die meiste Zeit des Tages einfach rumgestanden wären. Da könnte man sich vorstellen, wie schrecklich es gewesen sein muss für uns, die wir doch schon lange keine Lust mehr hatten die ganze Arbeit nur für Andere zu machen, den ganzen Tag diese großen Autos zu sehen, mit denen man überall hinfahren kann. Man setzt sich zu viert rein und fährt los. Bis der Tank leer ist, ist man schon am Meer oder wo auch immer. Es könnte damit enden: Einige wären eingestiegen, hätten uns zugelacht und wären losgefahren.

Wir spürten, wir können uns solange weigern, bis der Chef nicht mehr kann, bis er wieder rauskommt, aber nicht mehr sportlich, aufrecht gehend, sondern gequält, nicht mehr mächtig, sondern gebrochen. Er wird dann nichts mehr sagen von individuellen Problemen und individuellen Lösungen. Er wird weder besonders laut noch besonders leise sagen: Ok. Ihr bekommt acht Pfund. Er wird nicht mal versuchen, irgendeinen Kompromiss zu finden, sondern einfach auf unsere Forderung eingehen müssen. Aber wir wussten auch, dass er und andere es danach immer wieder aufs Neue versuchen würden, die Löhne zu senken oder die Arbeit anstrengender zu machen. Es war klar geworden, dass sie unsere Feinde sind und zwar wirklich Feinde, nicht Gegner oder Konkurrenten, Feinde.

Dann wäre die Situation zu erzählen, wo wir alle zusammen sitzen vor der Halle, uns aneinander festhalten und rufen: Wir haben keine Angst! Die Lagerarbeiterin, sie hat keine Angst, hat keine Angst! Und wie dann die Bullen kommen alle viel zu stark bewaffnet mit Helmen und Schilden und wir sind wirklich wenige, also vielleicht dreißig Leute. Die Bullen kommen, alles Männer und sie versuchen uns einzeln wegzutragen, aber wir halten uns aneinander fest und rufen: Lasst sie los! Vielleicht müsste man das aus der Perspektive des Chefs erzählen, der die Bullen geholt hatte und keine fünf Meter entfernt stand und zusah.

Wenn Leute von uns entlassen wurden, dann hatten wir dafür eine Kasse eingerichtet, in die alle, die etwas mehr hatten, Geld einzahlten und davon konnte dann etwas geholfen werden. Später wurde es einfacher, weil einige von uns sich darum kümmerten, leerstehende Häuser in der Stadt ausfindig zu machen und dort quartierten wir dann Leute ein, die ihre Miete nicht mehr zahlen konnten. Diese ganze Struktur war wichtig, denn so musste niemand mehr Angst haben zu streiken. Wir konnten uns immer etwas organisieren. Wohnen, Essen oder Leute, die auf die Kinder aufpassten. Als sie merkten, sie kriegen uns nicht klein mit den Entlassungen fingen sie dann aber an, Leute festnehmen zu lassen. Den Leuten wurde immer vorgeworfen Arbeitswillige von der Arbeit abzuhalten, was verboten ist, aber zu jedem Streik dazugehört. Auch unsere Strategie, dass wir nicht einfach in einem Unternehmen streikten, sondern mit den Streikenden zu anderen Unternehmen fuhren, in denen es auch schon Verdruss gab, um uns zusammenzuschließen, wurde uns als Straftat ausgelegt. Damit wollten sie uns natürlich fertigmachen. Es ist nötig, wenn wir etwas erreichen wollen, dass wir uns nicht nur auf das eigene Unternehmen beschränken, als ob das eine Angelegenheit zwischen dir und deinem Chef wäre. Wenn die Entwicklung des Kapitalismus von einem Moment auf den nächsten umschlägt, wirkt sich das sofort auf die Logistik aus. Gibt es Wachstum, bekommst du was ab. Gibt es eine Krise, schmeißen sie dich raus. Also ist dein Leben eng verbunden mit der Entwicklung des Kapitalismus. Du existiert nicht nur in einem Unternehmen, sondern als Arbeiterin im Zusammenhang mit den Anderen. Dein Leben hängt mit den Anderen zusammen und darum ging es uns.

Würde das alleine nicht reichen, um klarzumachen, dass es für uns eine Organisierung brauchte, die nicht über die Art unserer Arbeit funktionieren würde, nicht über die Branche, in der wir tätig waren, weil wir nicht mehr in einer Branche tätig waren, sondern die Jobs häufig wechseln mussten. Durch diese Wechsel wurden wir ständig wieder desorganisiert, weil die Organisierung über die Gewerkschaften an die Firma oder zumindest an die Branche gebunden ist. So wurden wir ständig wieder zurückgeworfen, kaum, dass wir uns zusammengefunden hatten. Mehr noch, würden nicht alleine diese Sätze zeigen, dass die ganze Struktur, in der für neue Tarifverträge gekämpft wird, immer auch eine Spaltung zwischen den Arbeitenden bekräftigt und zwar zwischen den in verschiedenen Arbeitsverhältnissen Steckenden. Die Struktur der Gewerkschaften steht einer anderen Organisierung im Wege, in Zeiten, wo die Leute ständig in andere Arbeitsverhältnisse kommen und so ständig desorganisiert werden, weil die Gewerkschaften auch rechtlich immer am Betrieb hängen. Stattdessen wäre dort anzusetzen, wo es eine größere Konstanz gibt, im Lebensvollzug, in der Reproduktion, im Alltagsleben also, das heißt in den Haushalten, auf den Straßen. Dort, wo wir zusammenleben, wären wir auch zusammenzubringen, indem wir uns anders organisierten, nicht mehr national und rassistisch getrennt und nicht mehr individualistisch. Möglichkeiten gemeinsam zu essen, gemeinsam zu waschen und anders die Verkehrsmittel zu benutzen, um von diesem Gemeinsamen aus stark zu sein und nicht alle Zusammenhänge zwischen uns zu verlieren, wenn Leute neue Jobs bekommen oder arbeitslos werden. Das könnte als andere Grundlage des Kampfes auftauchen, der dann logischerweise auch die Firmen bestreiken könnte und auch Lohnforderungen aufstellen könnte. Aber, so wäre weitergehend zu fragen, warum dann nicht gleich die Forderung nach einem sozialen Lohn, einem Lohn für alle, die wir doch alle in dem Lebensvollzug dieser Gesellschaft inbegriffen sind. Ist doch die Trennung zwischen dem was Arbeit ist und was Tätigkeiten sind, die nicht bezahlt werden, ebenso eine Trennung, die es nicht braucht, und die uns spaltet, immer wieder.

Vom Metrofahrer hörten wir: Die Gewerkschaften verwandelten sich, nachdem sie erlaubt worden waren, in bürokratische Organe einer nationalen Interessenvertretung der Industriearbeiter. Die sozialistische Partei gliederte sich in den bürgerlichen Staat ein, übernahm zeitweilig die Regierungsgewalt und gewann an Macht in einigen Stadtverwaltungen. Die Politik, die sie aus diesen Positionen betrieb, war nicht mehr als ein Teil der staatlichen Ordnungspolitik; sie verwandelte die Basisorganisationen, aus denen sie hervorgegangen war, die sozialistischen Genossenschaften und Vereine, in Verwaltungsobjekte und lähmte damit ihre Kraft politischer Mobilisierung und ideologischer Orientierung. Sie apathisierte die Massen und grenzte die innerparteiliche Opposition, also all jene, die sich mit der neu gefundenen Rolle nicht zufrieden geben wollten, aus.

Der große Streik 1995 in Paris hatte im Wesentlichen zwei Gründe. Wir richteten uns gegen die Pläne, einen Teil des französischen Eisenbahnnetzes in private Hände zu geben. Außerdem sollten die Renten für die Mitarbeiter der RATP, der Pariser Verkehrsbetriebe, neu geregelt werden. Das hätte bedeutet weniger Rente für alle. Begonnen haben den Streik die Leute von der Bahn, die cheminots, doch schon bald kamen die Forderungen aller Beschäftigten im Transportsektor hinzu. Wir ließen uns nicht gegeneinander ausspielen. Zum ersten Mal in Frankreich war durch unseren Streik für die Gewerkschaften das Thema der Deregulierung und Privatisierung auf der Tagesordnung.

Es könnte sich daran ein Streit entzünden, dass einige von uns so Dinge sagen, wie: Wir hassen auch die neue Arbeit, die genau das Resultat davon ist, dass wir die alte Arbeit am Fließband hassten. Und Andere würden dem widersprechen und sagen, dass sich mit der Veränderung der Arbeit auch der Hass auf sie verändern müsse. Das würde dann erst wie eine ziemlich belanglose Verschiedenheit der Ansichten wirken, müsste dann aber in seinen Konsequenzen zum Ausdruck kommen. Wir könnten diese These verwenden, wonach in jeder grundlegenden Metamorphose der Produktionsorganisation es im Prinzip angelegt ist, erneut die Wehen der so genannten ursprünglichen Akkumulation heraufzubeschwören, da jedes Mal aufs Neue ein Verhältnis zwischen Sachen in ein soziales Verhältnis verwandelt werden muss. Die einen würden dann sagen: Alles, was wir machten, der Fabrik den Rücken zu kehren, keine Festanstellung mehr zu wollen, uns das Wissen über alles anzueignen, hatte sich gegen uns gekehrt, um uns wieder zu beherrschen und zu unterwerfen. Wir wollen all das immer noch, wir wollen heute dies tun und morgen jenes, aber wir wollen endlich selbst entscheiden können und wieder zusammen sein. Der andere Teil von uns würde darauf hinweisen, dass wir in eine große Falle tappten, wenn wir so agierten, als wollten wir immer noch das Gleiche, wie die Arbeiterinnen damals, denn wir seien heute keine Arbeitenden mehr. Heute müsse man sich von dem Standpunkt der Arbeit komplett frei machen, worauf der erste Teil entgegen würde, dass heute alles Arbeit geworden sei. Aber vor allem käme es darauf an, zu zeigen, welche Konsequenzen diese Verschiedenheit der Haltungen hat, Konsequenzen in der Art zu kämpfen, in der Art zu leben.

Und die Privatisierung war direkt ganz oben auf der Tagesordnung, denn es war klar, dass dieses Problem die ganze Stadt betrifft. Und das war es auch, was noch wichtiger war. Unser Streik mobilisierte die Leute auf eine Art und Weise, die ganz direkt die Bevölkerung der Metropole Paris in ihrer Gesamtheit als solidarisch am Streik Beteiligte mit einbezog. Es war nicht mehr so, wie in den Jahren davor, als all unsere Streiks, also alle, die vom öffentlichen Dienst ausgingen, politisch betrachtet, mühelos zu isolieren gewesen waren. Diesmal war es ganz anders. Die Leute stellten sich hinter die cheminots und uns bei der Metro, und sie fingen auch selbst darüber hinaus an, sich zu organisieren. Denn für alle ist das ja immer ein Einschnitt, wenn die Bahnen nicht mehr fahren. Also fingen die Leute in der Stadt an, zusammen etwas wie ein Transportsystem zu improvisieren. Es war November, Dezember, und die Autofahrer, die aus all den Städten und Gemeinden des Umlands nach Paris unterwegs waren, hielten an, um Pendler mitzunehmen, die an den Wartehäuschen auf einen Bus warteten, der nicht kam. Die Autos hielten, füllten sich mit Leuten, die entlang der großen Pariser Verkehrsachsen unterwegs waren oder auf die Arbeit wollten. In den Fabriken und Büros richtete man in der Zeit die Schichten und Arbeitszeiten danach, wann die Beschäftigten eintrafen. Plötzlich war alles umgedreht und die Leute, konnten selbst viel mehr entscheiden. Die Leute fanden unseren Streik begrüßenswert und unterstützenswert, denn vielen ging es besser, uns auch. Trotz des arschkalten Wetters.

 

Fortsetzung folgt.

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