DIE KRAFT DES VERZICHTS

Selbstverständlich. Tabula rasa: alles ist wahr – überall ist Nichts. Der große Taumel der Revolte hat die Phantasmagorie der Erscheinungen zum Schwanken und Fallen gebracht. Zerfetzte Illusion geworden, zerformt und formt sich die wahrnehmbare Welt, erscheint und verschwindet sie nach Belieben des Aufständischen. An der Stelle dessen, was einst er selbst, sein Gewissen, die Selbständigkeit seiner menschlichen Person war, dreht sich ein schwarzer Abgrund. Seine verdrehten Augen sehen, wie sich zwischen den gespannten Schläfen eine weite leere Steppe erstreckt, die am Horizont durch das Packeis seiner alten weißgebleichten Sinne durchkreuzt wird.

Wer auf alles verzichtet, was sowohl außerhalb von ihm wie auch in ihm ist, wer im Aufbruch nicht mehr die Welt-um-uns-herum von der inneren Welt zu unterscheiden vermag, wird dort nicht stehenbleiben. In der Revolte, wie wir sie begreifen, das heißt als ein Bedürfnis, das tief, allmächtig, sozusagen organisch ist (wir werden, wie sie eine Naturkraft werden wird), gibt es eine Macht des In-sich-Hineinsaugens, die immer etwas suchen wird, etwas zum Verschlingen, ein Polyp der Hungersnot.

Welches ist die Natur und die Form dieses Fortschreitens des Geistes auf seine Befreiung zu? Die Revolte des Einzelnen gegen sich selbst hat ihm den ersten Unterricht erteilt durch das Mittel einer umfassenden, besonderen Ekstase-Hygiene (Gewohnheit der Gifte, Selbsthypnose, Lähmung der Nervenzentren, Gefäßstörungen, Syphilis, Aufgabe des zweckdifferenzierten Gebrauchs der Sinne und alle Maßnahmen, die ein oberflächliches Denken auf das Konto einer bloßen Zerstörungslust schieben würde). Er hat erkannt, daß der sich darbietende Zusammenhang der äußeren Welt – genau der, der sie wie es scheint von der Welt der Träume unterscheiden soll – bei dem geringsten Stoß zusammensinkt. Der Zusammenhang ist nur durch die Sinne überprüfbar. Er verändert sich gemäß dem Zustand dieser Sinne, er ist einzig und allein eine abhängige Größe des Einzelnen und alles läuft so ab, als ob er ihn aus dem Innern seines Bewußtseins nach außen überträgt.6 Gewöhnlich verdeckt dieser scheinbare Zusammenhang kaum das fürchterliche Chaos, dessen Finsternis sich nur durch Wunder erhellt. Unter “Wunder” verstehen wir jene Augenblicke, in denen unsere Seele die letzte Wirklichkeit und ihre endgültige Einheit mit ihr ahnt. Keine Trennungen mehr zwischen Innen und Außen: alles nur noch Vorstellungen, Erscheinungen, Spiegelspiele, gegenseitiger Widerschein. Der Einzelne macht zwar einen ersten Schritt auf die Einheit zu, jedoch nur um in sich selber das gleiche Chaos wiederzufinden, das uns umgibt.

Was kann in diesem Magma ohne Raum ohne Dauer ein spirituelles Fortschreiten sein? Wie soll man sich den Schwung der aufständischen Seele, diese Bewegung ohne Sinn, Geschwindigkeit und Richtung, die man sich dabei vorstellen würde, von der Unbewegtheit unterschieden denken? Alles was man davon verstehen kann ist, daß der Einzelne beständig wieder auf seinen Ausgangspunkt zurückkommt. Anders gesagt, alles ist immer wieder erneut zu beginnen. Schon die Vorstellung einer Bewegung ist falsch. Verzweifelt auf den toten Punkt zu, den unbeweglichen Punkt, flimmernd in seinem eigenen Innersten, den “punctum stans” der alten Metaphysiken, den absoluten Stern: es gibt nur eine verbissene Spannung eines Wesens, das sein Ich verloren hat. Diese Vorstellung einer Spannung widersteht jeder rationalen Analyse. Das okzidentale Verstehen erfaßt diese Art von Tätigkeit nicht. Allein die Analogie oder besser noch die swedenborgschen Korrespondenzen können davon auf völlig intuitive Weise Zeugnis ablegen.

Symbole:

William Blake hat in der Ur-Nacht die Letzten der Götter gesehen, die Irren-Schöpfer, die die Welten ausatmeten. Die unbewegliche Zeitlosigkeit hatte sie erbrochen. Die Dauer floß noch nicht. Ohne Ende, ohne Hoffnung, Blut schwitzend, heulend vor Angst, hämmerten sie die Leere.

Ich habe in der Ecke einer Gummizelle den Kneter der Sterne kennengelernt. Plötzlich in einer Nacht, als er seine Fäuste kaute, wirbelte er um sich selbst; eine Hyäne im Käfig. Bei Tagesanbruch fiel er. Die Krise, das gespannte Seil vom Nacken bis zu den Fersen, höhlte seinen Rücken aus, krümmte die Endpunkte seines Körpers aufeinander zu. Zwei Tage und zwei Nächte lang, ohne Krampfpause vibrierte er wie die E-Saite unter dem Geigenbogen in Zuckungen von wahnsinnigem Rhythmus. Nach dem dritten Anfall hat man ihn in ein großes, schmutzig weißes Bettlaken gewickelt. Daran heftete man einen Totenschein.

Er jedoch wußte: jede der Wellen, die sein vibrierender Körper durch den unendlichen Äther aussandte, würde die milchige Unermeßlichkeit eines Sternnebels schlagen und kneten. Zusammengepreßt unter dem Druck, wurde der Sternnebel zu Licht, zu einem Stern. Er starb in einem spritzenden Matsch von Sternen.

Und dann gibt es noch die Arbeit jenes anderen Einzelgängers, der in dem Wissen, daß das ewige Glück sich nicht durch Verdienst erwirbt sondern durch die Farbe der Augen, sich seit Jahren bemüht, um durch alleinige Kraft seines Willens die braune Färbung seiner Iris umzutönen in das Blau des Himmels.

Vielleicht lassen derartige Symbole die Ahnung aufkommen von dieser entsetzlichen Arbeit, die den menschlichen Geist zerrüttet. Wie dem auch immer sei, nie kann auf diesem Weg des revoltierenden Geistes hin zu seiner Auflösung in der Einheit etwas als gesichert betrachtet werden. Derjenige, der sich nach tausendfach aufeinander folgendem Tod nahe am Ziel, am Ende seines Weges glaubt, findet sich angesichts einer bestimmten

Handlung plötzlich wieder auf der pflanzlichen Stufe des Unglücklichen, der noch nicht den wütenden Strahl der Revolte in sich hochquellen gefühlt hat. Er glaubt zum Beispiel, seit langem die Versuchung des Selbstmords gemeistert zu haben, die durch seine Jugend geisterte, und auf einmal läßt ihn eine neue Qual erneut für seine ausgetrocknete Stirn nach dem kalten und klebrigen Kuß der kleinen runden Mündung der Browning verlangen. Daraus folgt, daß wir von der Entwicklung, deren aufeinanderfolgenden Stufen wir festlegen wollen, nur ein schematisches und theoretisches Abbild geben, daß wir sie willkürlich erstarren lassen, und daß im Grunde man alles mit allem verbunden finden wird.

Dem Zustand der Revolte muß der Zustand der Resignation folgen: und diese anschließende Resignation wird – im Gegensatz zur Verächtlichkeit – die Stärke selbst sein.

Der Kampf gegen alles beinhaltet notwendigerweise, als Widerschein seiner positiven Seite der Begeisterung, des großartigen und spontanen Emporsprudelns, eine negative Seite ständiger Resignation. Wer auch immer das tiefe Verlangen hat, sich zu befreien, muß freiwillig alles verneinen, um sich den Verstand zu leeren und muß immer auf alles verzichten, um sich das Herz zu leeren. Es muß ihm gelingen, nach und nach in sich einen Zustand der Unschuld entstehen zu lassen, der die Geklärtheit der Leere sein muß. Ohne jemals Halt zu machen. Selbst nicht inmitten der Revolte. Die große Gefahr ist, sich Idole zu erfinden, vor denen man sich dann niederwirft. Die Revolte darf niemals ihren gegenwärtigen Zustand für ein Ziel an sich halten. Sie muß ihn fliehen unter der Knute der Angst, wie sie bereits geflohen ist vor der Abstumpfung, die auf ihrem Leben lastete. Denn eine Revolte, die immer weiter läuft, läuft Gefahr, eine Ruhestütze um ihrer selbst willen zu werden. Auf diese Stütze muß man wie auf alle anderen zu verzichten verstehen.

Und dann finden wir nach der direkten und gewalttätigen Handlung den Menschen in der Position des Herrn, der seinen Sessel (aus karmesinrotem Brüsseler Samt) aufgestellt hat auf dem Pflaster des mit Barrikaden gespickten Marktplatzes und der höhnisch grinst, dick und breit auf diesem Sockel, inmitten der Brände, des Lärmes, des Knatterns der Fahnen, der Kanonaden, vor seinen Augen die wütenden Helden des Bürgerkriegs: sie kämpfen für falsche Freiheiten, sie werden die Institutionen, die sie zerstören, durch analoge andere ersetzen, sie verursachen armselige kleine ministerielle Krisen. Und all dies nichtige Treiben, weil sie noch nicht an seine schöne Konzeption der Leere herangereicht haben. Schaut niemals hinter euch, wenn ihr lebt, verdammt noch mal!

Schwachsinnigkeit des Individualismus.

Die Stärke der Wut, die Dynamik der Revolte, ihre potentielle Energie beziehen sich nicht mehr auf die Aktionen des Resignierten, denn da er diese Aktionen nicht an sich bindet, kann er nichts von seinem wesentlichen Ich an ihnen festmachen. Er hält einfach nur diese Kraft außerhalb seines Selbst aufrecht (da er sie nicht aus seinem Bewußtsein verdrängt und sie auch nicht in die Handlungen seines Körpers einfließen läßt). Die Kraft, die existiert, kann nicht verwendungslos bleiben in einem Kosmos, der voll wie ein Ei ist und in dem alles mit allem agiert und reagiert. Allein schon ein Einrasten, eine unbekannte Schaltung muß plötzlich diese Strömung der Gewalt in eine andere Richtung umleiten. Oder vielmehr in eine parallele Richtung, jedoch dank einer plötzlichen Abweichung auf einer anderen Ebene. Seine Revolte muß die unsichtbare Revolte werden. Es muß sich etwas ähnliches ereignen wie das, was man in der Biologie ein Phänomen der sprunghaften ènderung nennt. Wer eine entsprechende Haltung gefunden haben wird, wird plötzlich über die menschliche Aktivität hinausversetzt. Wie ein Reptil, das zu einem Vogel wird, wechselt er von dem logischen, rationalen Wissen an der Grenze der Spannung zum unmittelbaren Allwissen. Und seine Handlung der Revolte wird eine Naturkraft werden, denn er hat in sich den Sinn der Natur erfaßt. Nur dort gibt es die wirkliche Macht, diejenige, welche die Wesen ihrem Gesetz unterwirft und aus ihrem Träger in den Augen der Menschen eine lebende Katastrophe macht.

Nur, ist das die einzige Lösung, die von der alten menschlichen Angst befreit? An was soll man glauben auf diesem Marsch im Absurden, gespickt mit Schwierigkeiten ohne Zahl, denen man nur ausweicht auf Kosten dessen, was einem okzidentalen Gehirn als byzantinische Subtilitäten erscheint? Die Antwort ist einfach. Tausendjährige Erfahrung hat den Menschen gelehrt, daß es keine rationale Lösung für das Problem des Lebens gibt. Dem Schrecken des Lebens entkommt man nur durch einen Glauben, eine Intuition, einen uralten Instinkt, den man im Innersten seines Selbst wiederzufinden verstehen muß. Ergründet den Abgrund, der in euch ist. Wenn ihr nichts findet, umso schlimmer. Wir haben in uns die Richtung des Weges gefunden, den wir auf diesen Seiten anzuzeigen versuchen. Ein Aufruf an Menschen guten Willens! Unablässig hat das Reptil seine Vorderglieder zerfleischt, die in dem großen Schwung des Lebens der ersten Zeitalter immer wieder nachwuchsen, aber sein Instinkt hat nicht getäuscht. Denn plötzlich haben in der Tiefe der klaffenden Wunden seiner zernagten Stümpfe die keimenden Zellen den Sinn ihrer Leistung geändert. Anstelle seiner krummen kurzen Vorderpfoten wachsen bald zwei gewaltige Flügel. Eroberer der Luft. Jedoch: welch tiefes und dunkles Verlangen zu fliehen, welcher Mut der Verstümmelung, welche Absurdität (denn wo ist da eine Beziehung, würde der Intelligente sagen, zwischen dem Wunsch zu fliegen und der Tatsache, sich die Pfoten zu fressen) hat dieses großartige Emporschwingen des Vaters-der-Vögel geschehen lassen.

Der Mensch in seinem gegenwärtigen Zustand ist unausweichlich zur Niedrigkeit eines grenzenlosen Elends verurteilt. Wir befinden uns auf einer Stufe des Menschen, die wir überwinden müssen, da wir über sie geurteilt haben. Man wird sie nicht überwinden, indem man ihre spezifischen Wesensmerkmale übertreibt. Das Leben schreitet in seiner Entwicklung in sprunghafter Veränderung fort. Wir müssen den Sinn unserer gesamten Tätigkeit ändern, eine derartig neue Haltung einnehmen, daß sie unsere Natur von Grund auf umstürzt.

An Zeichen, die diese Notwendigkeit ausrufen, mangelt es nicht. Es ist nichts Neues, zu sagen, daß alle sozialen Gefüge des Okzidents, so vollständig verfault wie sie sind, jeder und aller Revolution würdig sind. Welches Schicksal jedoch ist auf einer anderen Ideenebene der logisch-rationalen Wissenschaft vorbehalten? Wenn ihre Anwendung weiterhin merkwürdige Ergebnisse liefert, wohin steuert dann die theoretische Wissenschaft? Vor der Anhäufung neuer Entdeckungen befinden sich die Gelehrten in einem Mangel an Hypothesen, diejenigen, die in den Vordergrund geschoben werden, wechseln von Tag zu Tag (sagte nicht kürzlich ein Professor des Collège de France am Anfang seines Kurses, er wisse nicht, ob das, was er doziert, am Ende dieses Kurses noch für wahr gehalten werde), man ist genötigt, auf gegensätzliche Hypothesen zurückzugreifen, um unterschiedliche Phänomene zu erklären.

Endloses Wechselspiel einer Wissenschaft ohne Grundlage, ohne Ziel in einer abstrakten Aufgeblasenheit! Haben denn sämtliche Schriftsteller, sämtliche Künstler seit Rimbaud, die für uns von Wert sind – sie werden sich hier wiedererkennen – je ein anderes Ziel gehabt als die Zerstörung von “Literatur” und von “Kunst”?

Läßt sich nicht im allgemeinen die Arbeit aller großen Köpfe, die dieser Bezeichnung würdig sind, zurückführen auf die Zerstörung der Ideale des Wahren-Guten-Schönen und all dessen, was die Pseudo-Wirklichkeit ausmacht, auf die sich noch die wasserköpfigen Gehirne einiger Zuspätkommer stützen?

Überall ein drängendes Bedürfnis, die Ebene zu wechseln. Was das Wissen darüber betrifft, was die neue Ebene sein würde, auf der sich unser Leben in Pracht entfaltet, so ist ganz klar, daß wir einen Zustand, den wir noch nicht erreicht haben, weder verstehen noch beschreiben können, da wir ihn noch nicht erfahren haben. Allein wegen der Tatsache, daß er das Ziel bleibt, auf welches wir hinsteuern, erscheint er uns gegenwärtig als das Absolute.

R. Gilbert-Lecomte

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