Die ökonomisch letzte Ölung – Das Lebenskapital.

Es schlägt die Stunde der Schundtheorie. Sie ist, und das ist keineswegs abwertend gemeint, die Theorie des menschlichen Rests, den die Funktionsweisen des Digitalen, die längst  den Laboratorien von Silcon Valley entflohen sind, ein weiteres Mal bestrafen (nach seiner Überflüssigkeit, die das Kapital schon hervorbringt). Das Digitale nistet sich heute als ein aufdringliches Kraftfeld in die letzten Poren des Alltags ein: Einkaufen bei Amazon, Las Vegas im Internet besuchen, Schnäppchenjagd bei ebay, Freunede auf FB bestellen und der 24/7 Schund-Metrik von Apple/Samsung verfallen, die Verlierer im Netz verhöhnen, Wissen zur fragmentarischen Nachricht machen und der Hysterisierung des Medialen in Echtzeit folgen  – all das ist das Resultat der Technotopie einer finanziell-virtuellen Klasse, die angesichts der Klimakatastrophe längst weitere Begehrlichkeiten entwickelt hat wie etwa Grönland aufzukaufen, um dort genüsslich ihrem Bunker-Leben weiter zu frönen.

Der im Zeitalter des Posthumanismus lebende letzte Mensch, ein weit über Nietzsches Begriffsperson hinausreichendes Monster, das in seiner Unersättlichkeit nicht nur alles haben, sondern es auch sofort haben will, lebt vollkommen angekommen in der dehnbaren Kaugummiechtzeit der Gegenwart und deswegen können ihn zukünftige Einkommen, auf die er heute spekulieren muss, auch nur halbwegs für das dadurch entgangene Mehr-Genießen entschädigen, fällt dieses doch scheinbar mit seiner Existenz zusammen. Der letzte Mensch muss auch im Zuge der Diskontierung[1], mit der seine zukünftig erwarteten Einkommen durch Abzinsung auf seinen heutigen Existenz-Wert herunter gerechnet werden, weiterhin auf die Zukunft spekulieren. Dabei verliert der zukünftig zu realisierende Wert des Lebens, oder, um es anders zu bezeichnen, der zukünftige Performancelebenszeitwert keineswegs an Bedeutung, aber das Leben bleibt gleichzeitig an den Gegenwartswert und an das aktuelle Genießen gebunden. Es ist wirklich nur noch eine Frage der Zeit, und es kommt zur Schätzung der auf die Zukunft bezogenen Einkommensströme eines Säuglings und darauf hin wird man die erwarteten Einkommensströme diskontieren und damit exakt den Ausgangspreis des Säuglings erhalten. Es ist deshalb überhaupt kein Zufall mehr, wenn der französische Unternehmensverband vorschlägt, jedem Franzosen von Geburt an eine Umsatzsteuernummer zuzuteilen.

Der letzte Mensch ist als lebende Finanzanlage eine Relation, die einen materiellen Träger bzw. einen Basiswert besitzt, der in einer zeitlichen Beziehung zum spekulativen Wert steht, nämlich zu einem auf die Zukunft ausgerichteten Performancelebenszeitwert, der sui generis auf monetäre Vermehrung und das entsprechende Mehr-Genießen drängt – die lebende Finanzanlage ist eine Surplus-Falte, der nichts anderes übrig bleibt, als sich hinsichtlich seines Performance- und Monetarisierungspotenzials zu entfalten. Dabei folgt das so gestaltete »Humankapital« – als ein Modus der Subjektivierung – weniger der utilitaristischen Logik des Warentauschs als einem Prozess der »Asset Appreciation«, wobei hier die Person selbst als das universelle Asset funktioniert. (Der letzte Mensch findet nichts dabei,  sich seinen stets neu zu organisierenden Lebensprofit gerne auch mal vom großen Anderen als die letzte Lebensweisheit verklären zu lassen.) In Zukunft wird jedes Bedürfnis, jedes Begehren und insbesondere jedes Verhalten Anlass zu institutionalisierten, punktuellen und punktierten Quantifizierungen und Bewertungen, zu vielfältigen Evaluationen und Ratings geben – der letzte Mensch wird sich zu diesen Bewertungen in Beziehung setzen und sie in seiner Zukunft verbessern müssen, und schließlich wird er dazu aufgeteilt in Komponenten, die der Optimierung bzw. der Effizienz der Vermehrung des kleinen Ich-Kapitals x (Verhältnis des monetarisierten Selbst zu seinem zukünftigen Selbst-Wert) unterstellt sind. Das dermaßen monetarisierte Leben, das ohne Wenn und Aber einen Performancelebenszeitwert zugesprochen bekommt, ist also ein Spread, der ständig von der Person und von den Institutionen der Ökonomie und des Staates beobachtet wird.

Dabei bezieht sich der Performancelebenszeitwert auf einen Basiswert, dem gegenwärtig ausgepreisten Leben, das als eine Investition anzusehen ist, das heißt auf das ein Anlagevertrag im Hinblick auf die monetäre Effizienz des zukünftigen Lebens zu schreiben ist, und auf dessen Fluktuationen eifrig und enthusiastisch spekuliert werden soll, um die Spekulation denn auch zu erfüllen. Und für jeden gilt es diese Spekulationswellen und -welten unbedingt auszuhalten, mehr noch, man hat der Spekulation und ihren Vorgaben nicht nur zu folgen, man hat sie am besten auch outzuperformen. Am besten wie jener Banker, der nach einem erfolgreichem Leerverkauf vollends zufrieden zur Toilette schlendert und dort in das nierenförmige Waschbecken aus Edelstahl onaniert, das kunst-technologisch gesehen sowieso der Outperformer der Luxus-Penthouse-Kabine im 33. Stockwerk der Bank ist.

Es war Baudrillard, der von einem Leben als Akkumulationsprozess gesprochen hat, das im Zuge der Ökonomisierung der Wissenschaften und der biomedizinischen Techniken nun einer quantitativen Bewertung unterliegt, womit der Übergang vom Leben zum Lebenskapital tatsächlich gelungen ist. Jeder trägt nun, wie Baudrillard in „Der symbolische Tausch und der Tod“ schreibt, sein kleines Lebensschema, seine normale Lebenserwartung  und einen Lebensvertrag in der Tasche, und besitzt damit einen sozialen Anspruch auf eine bestimmte Lebensqualität. Dabei ist die Gabe des Lebens als ein Akkumulationsprozess in erster Linie als die Gabe der Arbeit zu verstehen, die nun regelrecht zur gekrönten Lebensweise mutiert. Dem fügt die Macht den imaginären Wahn als Supplement hinzu, nämlich sich ganz mit seinen individuellen Interessen zu identifizieren und sich, wie Baudrillard sagt, zum kapitalistischen Buchhalter seines eigenen Lebens zu machen. Die imaginäre Macht schreibt sich aber nicht nur als diese Form des Überlebenswillens in die Subjekte ein, wie Baudrillard annimmt, sondern sie realisiert sich als das ökonomisierte Hyper-Realitätsprinzip, dessen gelungenste Anwendung darin besteht, die im günstigsten Fall finanzialisierte Arbeit in das Design des Lebens zu integrieren, das wiederum durch die Arbeit, die nun auf Teufel komm raus sozial und kreativ zu sein hat, ausbuchstabiert wird. Der im Gegenzug zur Arbeit erhaltene Lohn und die erzielte Rendite müssen natürlich auch wieder ausgegeben werden, was im Konsum nur eine andere Form der Arbeit freisetzt. Wenn nicht nur die Arbeit, sondern auch die Freizeit zu einer Investition gerinnt, die ohne eine permanente Mobilisierung nicht zu denken ist, dann lässt sich in der Tat von einem Lebenskapital sprechen, einer Generalmobilmachung, deren endgültiger Zweck darin besteht, den Tod solange wie möglich aufzuschieben. Und dafür werden wiederum Formen der Vorbeugung gegen den Tod benötigt, ein umfangreiches Arsenal von Sicherheitskräften, die von der Lebensversicherung über die Sozialversicherung bis zur Medizin reichen, um den Menschen, wie es die Corona Pandemie zwingend gezeigt hat, zu einem Beefsteak in der Plastikfolie zu machen, das nur der Kreativen Arbeit oder in der Benutzung von Produkten im Konsum temporär entweichen kann, um schließlich wieder fixiert zu werden, am häufigsten heute vor dem Bildschirm, vor dem der Arbeiter dann gnadenlos zum User degradiert wird.

Die Lohnarbeit besitzt heute bekanntermaßen nur dann noch Glamour, wenn sie unter der Vorherrschaft der Kreativität steht, deren kaum noch zu erkennender Gebrauchswert immer stärker durch den Tauschwert der Potenziale und Kapazitäten des Kreativen, die permanent aktualisiert werden wollen, stimuliert und schließlich ersetzt wird. Im Zuge der Spekulation mutiert analog zur Kapitalisierung des finanziellen Kapitals selbst noch die Subjektivität zu einer sich selbst verwertenden Finanzanlage, was dem possessiven Individualismus regelrecht Flügel verleiht. Die spekulative Form des Kapitals ist das neue Movens sowohl der Grenzenlosigkeit des Kapitals als auch der Kreativität  bzw. der Subjektivität des letzten Menschen.

Neben dem Performancelebenswert ist heute dem Kundenlebenszeitwert, der im Englischen als »customer lifetime value« (clv) bezeichnet wird, Beachtung zu schenken. Um ihn zu ermitteln, lassen diejenigen Unternehmen, die an den klassischen Konsumgütermärkten tätig sind, anhand der persönlichen Daten ihrer Kunden berechnen, welche Geldsummen diese über ihr gesamtes Konsumentenleben hinweg an das Unternehmen noch zahlen werden.  Ein hoher clv garantiert dann für den Kunden eine Reihe von Zusatzleistungen des Unternehmens, etwa Rabatte, Hochstufungen, persönliche Hotline-Ansprechpartner und andere  Sonderleistungen, während ein Kunde mit niedrigem clv ein nichtsdestotrotz aufreibendes Konsumentenleben in der Telefonschleife führen muss.

Alle möglichen Unternehmen (Modeunternehmen, Mobilfunkanbieter, Kreditkartenfirmen, Hotelketten, Fluggesellschaften, Autohändler etc.) führen heute umfassende Datenbanken über das Konsumverhalten jedes einzelnen Kunden, wobei sie die persönlichen Daten oft genug an spezielle Analyseunternehmen weitergeben, damit diese die Daten auswerten, gewichten und daraus individuelle Kundenlebenszeitwerte berechnen. Es handelt sich dabei um Profile, die auf Tausenden von Einzelinformationen beruhen. Der Marketingdienstleister Zeta Global etwa, das jüngste Start-up-Unternehmen des früheren Apple- und Pepsi-Chefs John Sculley, verkauft Profile, die pro Person auf mehr als 2500 Einzelinformationen beruhen, von 700 Millionen Menschen. Insbesondere finanzkräftige Kunden werden aufgrund ihrer außerordentlich guten Profile mit zielgerichteten Angeboten zu weiterem Konsum gelockt, und manche Analysten gehen sogar soweit zu behaupten, dass die Addition der Kundenlebenszeitwerte aller Kunden eines Unternehmens dessen wahre Zukunftsaussichten am besten dokumentiere, womit der Kundenlebenszeitwert ein ähnliche Bedeutung wie der Aktienkurs des Unternehmens besäße. Dabei ist davon auszugehen, dass heute die meistens Einwohner in den USA, die zumindest ein Bankkonto und einen Handyvertrag besitzen, mehrere verschiedene clvs ihr eigen nennen dürfen, ohne dies allerdings genau zu wissen. Und je mehr man reist, shoppt und ausgeht, das heißt die Treppenleiter des Allround-Konsumenten nach oben besteigt, desto mehr wie von unsichtbarer Hand zugewiesener clvs besitzt man, die man größten Teils selbst ja nicht kennt, allenfalls bemerkt man, dass mit steigendem clv die Unternehmen fieberhaft versuchen, einem eine Reihe von Vergünstigungen anzubieten, etwa eine attraktivere Kreditkarte, teure Ersatzwagen oder eine bessere Klasse in Flugzeugen.

Zurück zum Performancelebenszeitwert. Um das Leben mit Hilfe einer singulären Performance erfolgreich zu monetarisieren, müssen die eigenen Aktivitäten permanent gehebelt werden, und das heißt auch, dass die Verbindungen zu anderen Menschen so gestaltet werden, dass man im Verkehr mit diesen immer mehr zurück bekommt als man als Investition ihnen gegenüber einsetzt. Dies ist eine Art und Weise des Mehr-Genießens, das auf einem gewinnbringendem Konkurrenzverhalten beruht.

Diese Art das Kapitalkalkül auf das eigene Leben (und das der anderen) anzuwenden, erfordert eine zielstrebige und erfolgsorientierte Performance unter anderem in den sozialen Netzwerken und bietet dann einen Surplus vor allem denjenigen an, die es schaffen, Reputationen. Performancewerte und Referenzen, die irgendwie im Zusammenhang mit der Selbststeigerung stehen, zu akkumulieren, wobei immer darauf zu achten ist, dass man die Ungewissheit gegenüber Anschlussentscheidungen, die den Surplus betreffen, reduziert. So wird das Leverage[2] zu einer Art und Weise, den Projektionen des Ego eine sich selbst erfüllende, performative Qualität angedeihen zu lassen. Es ist dabei aber keineswegs auszuschließen, dass die Kapazität, die eigenen Risiken erfolgreich zu meistern, zur Gefahr für andere wird. Mehr noch, der Imperativ die Superperformance für das eigene Leben hinzulegen, erfordert die Denunziation der unterdurchschnittlich performenden Personen und bestenfalls ihre Ersetzung durch einen eineiigen Zwilling der Superperformance. (Kroker 104) Betrifft diese Form der Risikoverarbeitung insbesondere die Eliten und größere Teile der akademischen Mittelklasse, so insistiert für die einkommensschwache Bevölkerung das Leben weiterhin als ein Prozess permanenter Verschuldung, der letzten Endes die Zukunft nicht einmal schließt, sondern in spezifischer Weise sogar öffnet, weil die Kreditgeber die Einkommen der Kreditnehmer, die als Grundlage für die Kreditierung dienen, nicht mehr nur hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit Kredite zurückzahlen zu können, berücksichtigen, sondern hinsichtlich der Möglichkeit und des Potenzials in Zukunft Zahlungen überhaupt bedienen zu können. So wird selbst noch das Leben der verschuldeten Proletarier auf die Erschaffung eines monetären Surplus für das finanzielle Kapital hin ausgerichtet.

Dabei setzt sich der »Wert« des letzten Menschen nicht einfach als ein Konglomerat aus Merkmalen wie Kompetenz, Performance, Qualifikation, Gesundheit, Effizienz, Wissen, Beziehungsosmose, Kreativität, Wünsche, Arbeitsfähigkeit etc. zusammen, sondern all diese Merkmale sind vom letzten Menschen ständig effektiv auf ihre Kapitalisierung in der Zukunft hin zu behandeln, ohne dass der Wunsch, alles sofort zu genießen, auch nur im Ansatz verschwindet. Dies alles ist nur mittels der Implementierung einer gewissen Rationalität der Performance zu leisten, die allerdings von der Irrationalität nicht mehr zu unterscheiden ist. Rationalität verweist hier nicht nur auf die Motivlagen und Präferenzen des Subjekts, sondern auf die Durchsetzbarkeit von Zahlungsversprechen, auf das Potenzial zum Gläubiger zu werden[3], was zu möglichst gewinnbringenden Handlungen zwingt, die aber mit irrationalen Individuen ebenso kompatibel wie mit hochbegabten Börsenhändlern sind, die selbst oft genug eher mit »noise« denn mit »information« handeln. Solch eine Rationalität, die sich aus der Kapitalisierung von alles und jedem ergibt, gleicht dem Marktverhalten von Süchtigen, deren Überleben jedoch an die Verfügbarkeit bestimmter Ressourcen gebunden bleibt.[4]

Wenn der letzte Mensch beispielsweise Im Laufe seiner Ausbildung an einer Universität höhere Fähigkeiten nachweisen kann oder sich gar als Wunderkind erweist, dann kann er Kreditgeber rekrutieren, die ihm in der Gegenwart seine Ausbildung bezahlen und im Gegenzug einen Anteil seiner zukünftigen Einkommen erwerben. Je weniger Anteile an einem Wunderkind man hat, desto höher werden die Abgaben aus dem zukünftigen Einkommen sein,  damit alle Risiken gedeckt sind. Über diesen »Wunderkind-Markt« und seine Verträge legt sich ein sekundärer Markt, auf dem auf die Preise der Verträge selbst spekuliert wird. Es handelt sich um einen hochliquiden Markt, der einen völlig neue Form von Derivaten hervorbringt, ja die Zukunft in Tranchen teilt. Wenn das Wunderkind die Erwartungen allerdings nicht erfüllt, hat es unter Umständen einen lange Geschichte der Depression und des finanziellen Verlusts vor sich, die tragisch genug im Selbstmord enden könnte. Oder der Investor heuert sogar einen sogenannten Kontrakt-Killer an, um das überbewertete Humankapital schnellstmöglich loszuwerden. So wird die Welt des Humankapitals eine  Sicherheit, die man verkaufen, in Tranchen schneiden und neu verpacken kann.

Am Ende kulminiert der Ertragswert, den der letzte Mensch im Laufe seines Lebens zu erschaffen und zu realisieren hat, im Schnittpunkt der Parallelen seiner Performancelebenszeitwerte, der im Unendlichen und daher nirgends und deswegen im Tod liegt. Der Ertragswert bleibt immer ein virtueller Wert, bei dem die Subjekte nur in Relation zur Geschwindigkeit des eigenen Verschwindens noch einen Wert haben. Wir sprechen hier nicht nur von der Überwindung der Knappheit oder von der Anhäufung von ökonomischem und symbolischem Kapital, vielmehr von einem Subjekt, das gleich einem Vektor ist, der beschleunigt und dabei in psychopathischen Dosen in Fahrt kommt. (Kroker/Kroker,Cook:  1996: 166)

Der monetarisierte Lebenswert wird durch Informationen, die man permanent jeder Person zuordnet, mehr als nur ornamentalisiert, denn die Informationen haben bindende und selbstverstärkende Funktionen und fluktuieren analog dem Performancelebenszeitwert wie Derivate, die nach wie vor in Geld realisiert werden müssen. Diese Logik der Kapitalisierung des Lebens wird von einer scheinbar unsichtbaren Instanz geregelt, die das Leben quantifiziert – organisiert, kontrolliert und optimiert -, wobei jede Äußerung, jede Transaktion, jeder Sex, jeder Austausch, jeder Chat schließlich monetäre Folgen hat, die sich zumeist in den diversen Risikoprofilen materialisieren, die als digitale Doubles einer Person zugeordnet und deren Preise von komplexen Algorithmen, Datenbanken und Datenanalysen berechnet werden. Eine flauschig-weiche Kontrolle umgibt das Leben wie unsichtbares Gelee.

Dabei sind derzeit die Hochleistungssportler, die Künstler und Promis die Abzieh- und Vorzeigebilder solch eines zu kapitalisierenden Lebens, dessen an der orthodoxen Mikroökonomie orientierte Selfishness die Repräsentanten dieser Gruppen als Merkmal ihrer Auserwählung wie eine Trophäe aus Gold, die in den Medien täglich neu aufpoliert wird, vor sich her tragen. Bei dieser Hochschätzung, die man da gegenüber sich selbst ins Spiel bringt, vergessen die Betroffenen allzu leicht, dass die Selbststeigerung um ihrer selbst Willen durch strukturellen Zwang in Szene gesetzt wird, ein Zwang, der jede Variation des Lebens lediglich als ein Verschieben der Objekte der Valorisierung und des Genießens zulässt oder konformiert, ein Zwang, der zu verinnerlichen und als ein Leistungsanspruch an sich selbst zu setzen ist. Es taucht nun ein permanent in alles Mögliche investierendes Selbst auf der Bildfläche auf, das auf dem schmalen Grat zwischen der Psychologie der Befriedigung der Wünsche und der monetären Selbststeigerung sowie einer Psychologie der Verletzlichkeit wandelt. Wo Foucault in seiner Analyse des Neoliberalismus noch zeigen wollte, dass Individuen zu Unternehmen ihrer selbst transformieren, so ist das aktuell auffindbare Individuum ein finanzialisiertes Risikosubjekt bzw. ein finanzieller Manager seiner selbst, der ein Selbst-Portfolio verwaltet, für das ständig nach neuen Investitionen und Investoren gesucht werden muss, um die optimale Selbst-Rendite für das Portfolio einzufahren. Das Rest-Subjekt ist also das finanzialisierte Selbst, dessen Aktivitäten das Subjekt als ein Projekt konstruieren, das eines finanziellen Investments und eines befriedigenden Mehr-Genießens würdig ist. Zugleich ist dieses Subjekt aber sehr verletzlich, insofern der Preis der eigenen Investments immer von den Einschätzungen anderer Investoren abhängig ist, sodass das Subjekt der Selbstachtung berücksichtigen muss, dass seine finanziellen Investments ihre Quelle auch in den Krediten haben, die man von den anderen geliehen bekommt. Analog lässt sich die Transformation des Lohnes – der Austausch der Arbeitskraft gegen Geld, das wiederum dazu dient, die Arbeitskraft zu reproduzieren – in eine Funktion feststellen, die den Zugang zum Kredit und zu den finanziellen Assets wahrscheinlich macht. Der Lohn ist damit nicht mehr lediglich eine Summe Geldes, die eine lebenserhaltende Kaufkraft verbürgt, sondern er ist eine Form des Geldes, die als Grundlage dient, Kredite aufnehmen und damit für die eigene Einspeisung in die Kanäle des finanziellen Kapitals sorgen zu können.

Es schlägt jetzt definitiv die Stunde eines neuen Sozialcharakters, nämlich die des funktionellen Psychopathen, der aus dem Korsett des bisher dominanten Sozialcharakters, den man als den narzisstisch Autoritären ausgemacht hat, der die kindliche Abhängigkeit liebt, um sie andauernd mit seinem Egoismus ohne Ego zu kontern, ausbrechen will oder den Narzissten in sich selbst, zumindest, was die Selbststeigerungskräfte anbelangt, noch einmal übertreffen will. Der funktionelle Psychopath arbeitet unermüdlich, besser wäre es zu sagen, er performt unermüdlich im Medium einer quasi-sportlichen Praxis die Steigerung seines Psycho_Monetär-Kapitals, das als die bevorzugte Ressource seines Authentizitätsexzesses gilt, der zur beständig monetarisierten Sorge um sich selbst führt, oder, wenn man es anders sagen will, zu einer glücklichen Vernähung einer entropischen Hochenergiestreuung mit sich selbst. Wird in diesem Rahmen der Kampf um die eigene Karriere immer sportlicher ausgestaltet, so ist der Burnout die Grenze für ein Steigerungsverhalten, das den Auftritt des funktionellen Psychopathen eigentlich weiter anspornt, wobei das Performanceprinzip am Ende am Kriegsstandard der Kapitalakkumulation gemessen wird.

So ist der funktionelle Psychopath einer, dem das System angegossen wie ein Hugo-Boss Anzug passt, und wenn er dann mal ausflippt, dann nur, um die Immanenz des Systems selbst  auf die Spitze zu treiben, oder, um es noch einmal anders zu sagen, er ist einer, der gegenüber dem System grundsätzlich affirmativ ist, aber es auch gerne mal auszutricksen versucht, indem er unwahrscheinlich kreativ und brutal egoman zugleich seine Exzentrität auslebt, aber letztendlich doch so leise bleibt, dass die letztendlich eigenartig zahme Übertretung der Regeln zwar dem anderen, aber auf keinen Fall dem System schadet. Der funktionelle Psychopath ist nämlich ein kastrierter Psychopath.[5] Und das ist er selbst dann noch, wenn er in seinem Job äußerst erfolgreich ist und sein Erfolg auch überaus sichtbar ist, weil er die Spielregeln eines über alle Maßen und deshalb pathologischen Spiels der positiven Effekte virtuos beherrscht. Mit jeder Sekunde inhalliert er den Exzessgeschmack des Erfolgreichen, der im Sog seiner Cleverness, die ihn erst authentisch macht, ganz groß raus gekommen ist, worauf er wieder mit einer narzisstischen Eitelkeit reagiert, um schließlich alles soweit wie möglich im Sog des Affiziert-Seins von sich selbst zu personalisieren und damit auf die Risiken und die Chancen, diesen Status beizubehalten und zu erweitern, zu spekulieren. Er ist wie ein Broker, der durch die Handelsräume einer großen Bank geht, mit strahlend kühlem Blick und gierigen Halluzinationen von Superdeals und Lehman`schen Tragödien. Und der funktionelle Psychopath muss ja unbedingt erfolgreich sein, weil er sich als ein lebender Transmissionsriemen der spezifisch neoliberalen Logik nur dann bewähren kann, wenn er permanent finanzielle Investments tätigt, die weitere Investments induzieren. Der funktionelle Psychopath, der Ambivalenz und Negation generell verabscheut, ist nicht zufällig Nietzsches letzter Mensch.

Wenn der »psychische Innenraum« des letzten Menschen dann doch wie ein Ikea-Wohnzimmer aussieht, das im »Do it Yourself« Modus zusammengebastelt ist, obwohl die Anleitung für das Basteln weiterhin vom Unternehmen kommt, dann ist er seiner Innerlichkeit beraubt, obgleich er weiterhin zum Ikea-Narzissmus verdammt bleibt. Zu dessen Komponenten gehören allerdings auch die imaginären Repräsentanten der Außenwelt, Derivate der sozialen Rolle, die der funktionelle Psychopath wiederum als den legitimen Ausdruck seiner Persönlichkeit begreift, denen er aber auch andauernd zu entfliehen versucht, ohne dass ihm das im Geringsten gelingt. Eine komische Nicht-Identifikation findet hier statt, die durch die mentale Distanzierung von der Rolle, die man einnimmt, gerade in den Zement der Identifikation mit der Rolle überführt wird. Solcherlei gelungenes Leben hat dann zum Ergebnis, dass der funktionelle Psychopath die Rolle und die Abweichung von der Rolle zeitgleich und automatisch exekutiert, um so sozialisiert und normalisiert wie möglich authentisch autistisch zu bleiben. Der heutige Narzissmus ist ohne Antlitz und bleibt leer, und dort, wo der Narzisst sich hemmungslos selber lieben will, findet er nichts außer einem diffusen Konglomerat aus Stereotypen, Medienmüll und Ressentiments (das Irrenhaus imn Kopf) und immer auch einer destruktiven Kreativität, mit der er die anderen outperformen will. Gleichzeitig tut der zeitgenössische Egoist aber auch alles, was der durch das Kapital gesetzte Erfolg von ihm verlangt, wenn er nur ab und zu nach oder andauernd unten treten darf. Ein derart konstituierter Narzissmus gleitet nahtlos in die Paranoia hinein, weil man sich über all und permanent umzingelt und verfolgt fühlt. Und der Rechtspopulismus schafft es dann zu allem Unglück noch, ein Objekt für die an sich objektlose Paranoia zu konstruieren: Der Flüchtling. Den Wettbewerb um den besten deutschen Bürger feuern dann die Wirtschaftsliberalen und die neuen smarten Nazis aus, die vom bloßen Effizienzdenken abgekommen sind und zur Triebabfuhr durch die Vernichtung des Gegners greifen. Während die letzteren »Deutschland, Deutschland über alles« brüllen, sagen die Ersteren dezent und doch nachdrücklich: »Kommt darauf an, ob das Ganze dem Export nützt«.

Die seit dem Jahre 1980 im Zuge der neoliberalen Transformationen stattfindenden Umstrukturierungen waren es auch, die das finanzialisierte Risikosubjekt in die Individuen introjizierten, womit der autoritäre Charakter und der narzisstische Typus schleichend, aber doch in einer kurzen historischen Zeitspanne abgelöst wurden, wobei das finanzialisierte Subjekt den narzisstischen Charakter übersteigt, erweitert und transformiert, bis es schließlich den funktionellen Psychopathen verkörpert, der allerdings nicht mit dem klinischen Bild des Psychopathen verwechselt werden darf, obgleich gerade die Repräsentanten der herrschenden Klasse (Manager, Anwälte, Broker, Politiker, Ärzte etc.) diesem Bild doch inzwischen manchmal gefährlich nahe kommen. So ist der Beobachtung des Psychologen Götz Eisenberg durchaus zuzustimmen, dass heute die meisten Psychopathen keineswegs in den Psychatrien einsitzen, sondern frei auf der Straße herumlaufen und zu allem (Un)Glück die von ihnen selbst gefeierte Erfolge in ihren jeweiligen Berufen nachweisen können. Funktionelle Psychopathen operieren in ihrem Alltag meistens hyper-effizient und besitzen Eigenschaften wie unbedingte Fokussiertheit und eine übersteigerte Egozentrik, zudem den unaufhörlichen Hang zur Optimierung der eigenen Selfishness, die von einer subtilen Profilierungsartistik bis hin zur mörderischen Skrupellosigkeit reicht, sie mobilisieren die Anteilnahme anderer als ihr ureigenes Privileg, das rein der eigenen Gewinnoptimierung und dem endlosen Streben nach Singularität dient, welche wiederum aus den Angeboten der Marketingindustrie für die Bezieher höherer Einkommen zusammengeschustert ist; sie leben die Unaufrichtigkeit, die Korruption und das herrische Auftreten bis in die Haarspitzen hinein, bleiben dabei aber eine vielseitige und experimentierfreudige Persönlichkeit, und dies alles geschieht angeblich im Rausch völliger Spontaneität, deren Fleisch gewordene Realität heute in ungefähr das Kunstprodukt Donald Trump darstellt. Im Weißen Haus weiß angeblich noch nicht einmal der innere Kreis, was Trump im nächsten Moment tweeten wird, es herrscht die rein kurzfristige Dezision als Chance zum clownesken Narzissmus und zugleich zur Unaufrichtigkeit, die bei Trump anscheinend das innere Wachstum immer weiter befördert, den Überfluss jenes Selbst, das noch seinen letzten Furz als eine wenn auch niederträchtige Kreativität verkaufen will. Das über alle Medien hinweg erfolgreich und zugleich hysterisch zirkulierende Seelenwunder ist heute die psychopathische Authentizität, die dem Erfolgreichen den inneren Lebensraum öffnet und freigibt, ihn aber in gewisser Weise auch kolonisiert, aber nicht zu weit einengt, sondern ihm weiterhin die Möglichkeit gibt, sich als Selbstversicherer des eigenen Seelenlebens bei sich selbst anzustellen, ein Dienst, dessen Endlosigkeit den gewünschten Lebenssinn quasi im Takt eines Fließbands hervorbringt. In der Tendenz will jetzt noch jeder zum Egokraten seines Selbst werden.

Der funktionelle Psychopath muss im Fluss des affirmativen at-risk-Seins Erfolgsereignisse am laufenden Band akkumulieren, während diejenigen, die beim Spiel um das at-risk-Sein verlieren, lediglich Enttäuschungen akkumulieren und deshalb in der Depression verenden oder im Kurzschluss gar den Amoklauf probieren. Andererseits könnte man auch das Leben des funktionellen Psychopathen als einen auf Dauer gestellten Amoklauf verstehen, der aber keines blutigen Szenarios bedarf, um seine katastrophalen Auswirkungen auf das Leben der Anderen zu beweisen. Würde man Adorno folgen, so wäre der funktionelle Psychopath ein Egokrat, der die Unverschämtheit auf Dauer performt. Das so auf Erfolg gestellte und das so authentifizierte Leben fingiert sich selbst als Dressurmittel der autistischen Soziopathie und ist ganz der Funktion der Effizienz des »Ich selbst« unterstellt, eines Ich, das aber von der reellen Subsumtion unter das Kapital im doppelten Sinne betroffen bleibt, und so subsumiert, ist das Leben eine einzige Bewegung und ozeanische Katastrophe, die bis zur Verschmelzung des Selbst mit der Funktionalisierung des Hirns für die Zwecke des Kapitals reicht. Philipp Mirowski schreibt: «Während sich die Akteure dazu gratulieren, immer wieder die Fesseln der Identität gesprengt zu haben, verfolgen die Kontrollfirmen sie hartnäckig durch Zeit und Raum als identische Personen.«

Denn auf Gedeih und Verderb muss der funktionelle Psychopath den differenziellen Erfolg, der permanent an verschiedenen Märkten evaluiert, bewertet und honoriert wird, erringen, um noch besser bewertet zu werden und im Ranking aufzusteigen, und dazu recht eben kein individueller Singularisierungakt mehr aus, denn meistens bedarf es dazu des intensiven Networkings (mit dem der Erfolg und die Reputation andauernd geprüft und getestet wird), sodass der Authenzitätsperformanzkrüppel »unter Aufsicht« zu dem funktionellen Psychopathen heranreifen kann, welcher von Ökonomie der Kapitalisierung genau erwartet wird. Der Psychopath, den wir meinen, ist eben ein funktioneller Psychopath, der im Unternehmen an das Team und an algorithmische Maschinen angeschlossen bleibt, deren Aufgabe es ist, die erwünschten und zu optimierenden Verhaltensmodifikationen zu prozessieren und diese gewinnbringend für das Kapital einzusetzen, das Verhalten also ganz ökonomischen Zielen unterzuordnen, wobei keineswegs Verhaltensnormen wie Konformität und Angepasstheit angestrebt werden, sondern ein glatter Zynismus und Opportunismus.

Die Praktiken der maschinischen Indienstnahme verzahnen heute das permanente Online-Leben mit dem Imperativ eines lebenslangen Lernens, und dies gemäß dem unauflöslichen Ineinanderfließen von individueller Unternehmensform und präindividuellen Affekten des Sozialcharakters. Man ist nun immer stärker im Sinne eines komplexen Mit-Seins mit den sich beschleunigenden Maschinen vernäht, was regel(ge)recht ein Suchtverhalten induziert, das jedoch im Gegensatz zur Drogenabhängigkeit nicht den Selbstmord auf Raten befördert, vielmehr den Drang nach einem »authentischen Leben« auf Dauer mobilisiert. In einer Welt des Artifiziellen muss die Authentizität permanent wie eine Ware hergestellt werden, wobei es um die Besetzung eines leeren Signifikanten oder einer leeren Zeichenform geht (Reckwitz), was wiederum eine Art der Performanz erfordert, mit der sich das Authentische aber auch immer weiter verflüchtigt. Da kann der Soziologe noch so viel über Ironisierung des Authentischen an den Authentizitätsmärkten schwafeln, auch er bleibt im Spiel des Als-ob der Authentizität gefangen, in dem, was durch das Authentizitätsspiel eigentlich gerade vermieden werden soll, nämlich im Fake: Je abstruser der Fake, desto besser gelingt das Authentizitätsspiel.

Wenn die Leute heute nach Internetsex, Teleshopping, Videogames und Automobilität (Jogging, Auto und Internet) süchtig werden, dann schießt der Wunsch nach Selbständigkeit und Authentizität mit der grandiosen Abhängigkeit von den digitalen Maschinen zusammen. Vielmehr noch, zumindest die Slotmaschinen, die mit ihrer blendenden Graphik, der mathematischen Anordnung und dem Touchscreen den Spieler zum verweilen, ja bis hin zur Verschmelzung mit der Maschine einladen, kreieren sogar eine Art des manischen Automatensex (Zuboff 2018: 517). Dieser erzeugt einen geschlossenen Kreislauf von Selbstverlust und automatischer Befriedigung, der den Spieler durch kleine Belohnungen, welche die Maschine ab und zu ausspuckt, in der Maschinenzone gefangenhält. Und dennoch simuliert heute der Spieler unentwegt den Gewinner, der die Apparatur des Schreckens in die Apparatur des Maschinensex transformiert.

Man giert einerseits nach unbedingter Selbständigkeit, während man andererseits, wenn man auch nur eine Sekunde nicht mobil oder nicht online ist, in eine totale Frustration verfällt, weil man gerade die Suspension vom Netz nicht als Befreiung, sondern als Abhängigkeit empfindet. So wird die reale Abhängigkeit nicht negiert, sondern sie wird gewissermaßen  online ausgelebt. Schließlich geht es um eine Affektlogik, die aus Beschneidungen und Abhängigkeiten einen neuartigen Exzess machen will. Längst ist selbst noch das Begehren des Geizhalses libidinös besetzt (Geiz ist geil), wenn etwa das exzessive Ausgeben betrieben wird, um zu sparen bzw. den Rabatt einzuheimsen, was wiederum einen Anreiz dafür bietet, immer weiter zu konsumieren. Demgegenüber erscheint das materielle Eindringen der technischen Maschine in den menschlichen Körper geradezu als ein Schreckensszenario zweiten Grades. Die Mechanismen der Sucht, die das permanente emotionale Investment in das eigene Selbst immer weiter vertiefen, was sich visuell beispielsweise in der Sucht nach dem Selfie zeigt, lassen das Subjekt leerlaufen. Da unter dem Produktivitätszwang schließlich alles der Selbststeigerung dienen soll, diese aber immer wieder leer laufen muss, ermüden die Individuen schließlich an sich selbst, insgeheim wissend, dass sie Authentizität nur simulieren, während sie zugleich als Dividuen weiterhin das Arbeitsmannequin verkörpern müssen … die Vitalität eines Regenwurms.

So gesehen kopuliert der funktionelle Psychopath energisch energetisch und endlos gern mit seinen Wünschen, um schließlich zur lebenden Konsumtionsmaschine zu gerinnen, die die Usurpation des Freizeit-Arbeitsmenschen durch den Kapitalapparat vervollständigt. Durch mein Talent zur Cleverness, durch mein Yoga, durch mein Faible für französischen Wein und durch das ausgezeichnete singuläre Thai-Food, durch mein Gender-Verhalten und das meiner Freunde, durch meine Erfolgskarriere bei der Deutschen Bank gewinne ich, so Reckwitz, an Eigenkomplexität und werde besonders, wobei aber, und das verschweigt Reckwitz, das Besondere gerade ein Produkt des Allgemeinen ist, sodass die Besonderen fast schon zu riechen sind, tauchen mehr als zwei von ihnen in ihren Szene-Restaurants oder Bars auf, in denen sie letzten Endes nicht das Angebot kuratieren, sondern durch das Angebot kuratiert und gesteuert werden, im Konsum noch kreativ gemacht werden, indem sich ein Modul ins andere fügt, das Food, der Drink, die Designerfrauen, das Ambiente und das Selbst. Der funktionelle Psychopath erscheint als der Bandenführer seiner selbst, der vom Unbewussten den Befehl erhält, zu siegen, koste es, was es wolle, und aus dessen Gesicht Anerkennung leuchtet, wenn er für die Vielen spricht, die er selbst ist. Je mehr das Subjekt sein Leben so auf sich selbst eingerichtet hat, um so vollkommener repräsentiert es die systemische Logik. Es gibt nun eine Konjunktion von Wunsch und System, und dessen Metamorphosen sind mit höchstem Genuss verbunden.

Dem allem entspricht, dass man eigentlich nur noch auf Facebook Freunde hat; man an jedem Ort und zu jeder Zeit mit der Tyrannei der positiven Energie konfrontiert wird, sodass das Leben nur noch aus ultraschnellen uplifting energies besteht, money, Redbull und Koks. Aber dennoch scheint selbst dem Psychopathen Ähnliches zu blühen wie Koks, Yahoo, Sushi oder Netflix: Es läuft nach wie vor und irgendwie ganz gut, doch das symbolische Kapital, das mit ihm verbunden ist, schwindet zunehmend. Längst hat sich Verdrossenheit unter die Begeisterung gemischt, ist das Mythische im Immergleichen des Alltags verschwunden und der Reiz verloren, mehr darin zu sehen, als was darin zu sehen ist, nämlich eine hundsgewöhnliche Praktik. Aber den funktionellen Psychopathen ficht das bis jetzt nicht wirklich an, und es ist kein Geheimnis, wie er die machtvolle Leere des Alltags und seine Indifferenz in einen ziemlich originellen Singularitätsgewinn umzuwandeln versucht.

Die nie enden wollende Karriere des funktionellen Psychopathen ist nicht in erster Linie das kontingente Ergebnis der permanent variierenden Zusammensetzung eines Profils oder der geschickten Adaption an den Markt, der Vernetzung des eigenen Potenzials und der Aneignung verschiedener Kapitalsorten, vom ökonomischen über das soziale bis hin zum kulturellen Kapital, vielmehr gehorcht sie zuallererst den Erfordernissen einer hyperkompetitiven Kapitalisierungsökonomie, die den funktionellen Psychopathen von der subjektiven Seite an die Spitze dessen setzt, was aus den gnadenlosen Profilisierungsspielen der vernetzten Subjekte herausgezogen werden kann. Um es kurz zusammenzufassen, der funktionelle Psychopath – nicht als ein klinisches Symptom, sondern als der gegenwärtige dominante soziale Habitus – ist ein Zustand, mit dem Wunsch und Wirklichkeit, Wille und Welt identisch werden sollen, es aber letztlich doch nicht können, weil das sich selbst optimierende Subjekt im Sog einer permanent zu bearbeitenden Fitness, Resilienz und Therapeutik nach wie vor den Optimierungsanforderungen des Kapitals unterworfen bleibt und sich deshalb auch an das Scheitern gewöhnen muss.

Damit bestätigt der funktionelle Psychopath ungewollt die unbestreitbare Wahrheit, dass die ökonomische Kapitalisierung (der ökonomische »Wert«) heute längst jede Form der kulturellen Wertschätzung überholt hat, sodass noch mit der außergewöhnlichsten und skandalträchtigsten kulturellen Wert-Geste ein Mangel an Kapitalisierung nicht eingeholt werden kann. So schreiben auch Metz/Seeßlen: »Der Geschmack ist freilich auch in der Mittelschicht insofern befreit, als der ökonomische den kulturellen Wert so weit überflügelt hat, dass mit einer kulturellen Wert-Geste kein sozio-ökonomischer Mangel mehr ausgeglichen werden kann. Das gilt im Übrigen auch für den avancierten Teil der Pop-Kultur; durch Musik, Filme, Kleidung oder Lektüre kann niemand mehr seinen Status erhöhen.« (Metz/Seeßlen 2018: 176) Die harte Schule der Kapitalisierung setzt dem funktionellen Psychopathen unaufhörlich den Imperativ, auf keinen Fall ökonomisch-performativ zu verarmen. Und diese Art der Auserwählung muss sich selbst noch optisch am eigenen Körper zeigen, der, wenn es die Finanzen erlauben, mit teuren Accesoires behängt wird, die im Zusammenspiel mit den Operationen der plastischen Chirurgie den neuen funktionellen Lifestyle-Zombie ausmachen, der sich auch mal von den Influencern auf Instagram und den Siegern der ubiquitären Castingshows anfixen lässt, ohne natürlich deren wirkliche Erfolgslosigkeit perpetuieren zu wollen, sodass der Zombie zudem zu einer Art gespenstischen investiven Puppe mutiert, die Clown einer virtuell gesetzten Überflüssigkeit ist, und die im Gegenzug die Welt als das Produkt einer Innenwelt behandeln muss, als die materiell gewordene Projektion eines paranoiden Selbst. Das Soziale wird jetzt psychomorph.

Der funktionelle Psychopath gleitet ununterbrochen, unruhig am Smartphone klebend, in die absolute Subjektivität hinein und mobilisiert damit gerade seine letzte Verfallenheit an die Motorik der digitalen Technologien. Intelligente Maschinen fabrizieren für ihn kurzfristig möglichst positive Vorhersageprodukte, die exakt berechnen, was er in Kürze zu tun hat. Zwingend ist der Griff nach dem Smartphone, das seine Unruhe auf die Aufmerksamkeitsspannen des funktionellen Psychopathen überträgt. Dessen Wahn gleicht einer Fernsprechanlage mit dreizehn Smartphones. Wer da nicht mitkommen mag oder kann, der wird erst gründlich blamiert und dann psychisch hingerichtet. Clever ist allerdings, wer im Sog seines Social-Media-Charmes andere dazu bringen kann, das zu tun, was man selbst will, wer schnelle Entscheidungen trifft und seine Bindungslosigkeit nutzt, um sich dann doch ganz mit dem Erfolg seines Unternehmens und seinen Teamkollegen zu verschweißen, wobei es zudem noch gelingen muss, diese Art der Enthemmung und Anbindung zugleich als besonders cool auf den Aufmerksamkeitsmärkten zu versteigern. In Zukunft wird man seinen Bewerbungsunterlagen einen Psychopathie-Check hinzufügen müssen, der natürlich positiv ausfallen soll, damit man dann ganz nach den Regeln eines maschinellen Casting-Verfahrens das Rennen im Bewerbungsgespräch machen kann, um den Ego-Porno, der gleich dem kleinen Kapital x ist, in Zukunft möglichst noch outzuperformen.

Und man denke wieder an Trump, der das Fuck-Up und Check-Up der Demokratie zugleich verkörpert. Er ist ihr Präzedenzfall und ihr Repräsentant. Der Repräsentant geht hier in einer Rechtsperson auf, die zeigt, dass diejenigen, die nichts als sie selbst sind, nichts sind, weil sie nicht für das Volk sprechen, nicht in dessen Namen sprechen, während er, der Repräsentant, der für das Volk spricht, alles ist. Trump macht das, was alle wollen, aber nur wenige machen können. Wenn man die Tweets des King of Fake News, Donald Trump, liest, dann kommt man zu dem Schluss, dass solche Fake News nur die eines funktionellen Psychopathen sein können, der alles, was ihm passt als seine Zeichen deutet, die aber dennoch auf übergeordnete Muster verweisen, vielleicht den Restspuren des Herrensignifikanten. Und eines scheint klar: Das Referential oder die Referenz auf die Realität wird beliebig, die Referenz muss nur an sich vorhanden sein. So wird die Hyper-Völle des Medialen ständig neu übertüncht, die Information wird zur (gezielten) Desinformation, aus Denken wird Gedankenmüll.  Der von Trump gepflegte Sprachstil legt ein beredtes Zeugnis für die Fake-Performance ab, Wörter und Floskeln werden als klingende Münze in Umlauf gebracht, um irgendetwas Schräges zu bedeuten oder die Realität gar zu verdrehen. Der größte Schmutz heißt dann rein, der Kapitalist, von vornherein Arbeitgeber genannt, bietet Jobs an, Kriege werden nur für den Frieden geführt, Videoüberwachung dient der Entlassung in die Freiheit und der Polizeistaat ist ein Synonym für den Rechtsstaat.

Je gefaketer die Existenz des psychopathischen Menschen, desto freier wird er. Wir bekommen es jetzt auf allen Ebenen mit den Phänomenen einer dynamischen Entgrenzung zu tun, die einerseits zu deutlichen kollektiven Überschreitungen der Intimitätsschwellen, andererseits zum ständigen individuellen Vergleich der Verhaltensweisen mit denen der relevanten Anderen führt. Es scheint nun so, dass kollektive Psychopolitiken abhängige  Dividuen gebären, die fortwährend Selbstverbesserungsanstrengungen unternehmen, welche zum Schluss allerdings an Lächerlichkeit, Peinlichkeit und Taktlosigkeit kaum noch zu überbieten sind. Paradigmatisch stehen dafür Unternehmen, die professionelle Coachs engagieren und selbst noch den höheren Angestellten bunte Pappnasen aufsetzen, um sie mittels eines gruppendynamischen Settings, in dem man lernt, wie man den Anderen auf die softe Tour fertig macht, auf die Umsetzung und Steigerung ihrer eigenen Performance zu trimmen, das heißt, investive Statusarbeit zu betreiben – an den Märkten aller Art, vom Partnerschafts- über den Derivate-Markt bis zum Bildungsmarkt erfolgreich zu navigieren, den Glauben an sich selbst in jeder noch so prekären Situation zu stärken und vor allem positiv und vernetzt zu denken, und gerade darin besteht die Freiheit des Exzesses am zu kapitalisierenden und kapitalisierten Selbst, das aber stets durch einen höhergestellten Manager, einen Plan, eine Uhr, ein Smartphone oder ein anderes digitales Gerät, von einer Institution oder Behörde kontrolliert werden muss. (Der funktionelle Psychopath lebt  nicht im luftleeren Raum, sondern er ist in den Wohnungen und Büros ständig an Gadgets und digitale Geräte angeschlossen, hauptsächlich in der Funktion, sich selbst und andere dafür fit zu machen, die algorithmische Metrik erfolgreich zu bedienen.) Am besten natürlich durch sich selbst das Selbst zu steigern, wie es jener verbissene Jogger tut, der sich durch die dreckige Stadtluft quält und seine Leistungsaffinität bis zum Kotzen übersteigern will.

Selbst noch die Reste der Waren-Ästhetik sind heute auf die Performanz der pseudoästhetischen Verwandlungen der Erfolgreichen ausgerichtet und auf deren Flexibilität, die sich daran zeigt, dass man durchaus auch einmal Objekte tragen darf, die trashig und hochpreisig zugleich sind (verwaschene und mit popkulturellem Trash und Emblemen aufgepeppte Jeans, die am besten von einem weltbekannten Designer als Unikate geschaffen werden); das Ding muss sich an das scheinbar polyfunktionale Ich anpassen, das in seiner Vielfältigkeit und Diversität aber eine erstaunliche Hartnäckigkeit und zugleich Eindimensionalität zu Tage treten lässt, weil es nämlich ganz der Kapitalisierung des kleinen Kapitals x geschuldet ist. Dann kommt der berüchtigte homo oeconomicus für einen Moment doch wieder zum Vorschein und das Spielerische der Performance von angeblich individuellen Wahnaggregaten erleidet unter Umständen Schiffbruch.

Dann mutiert beispielsweise die Yacht als der Spielort diverser Party-Happenings der Bunker-Eliten, die sich als eine Mischung von Kindergeburtstag, Smalltalk, Luxuspornographie und verblödeter Angeberei erweisen, schnell zum militärisch-logistischen Zentrum. Die Kultur der Superreichen und die Gangsterkultur, die schon im klassischen Kapitalismus, nachzulesen bei Chandler und Hammett, ein komplexes Spiel miteinander pflegten, sind heute oft ganz miteinander verschmolzen. Vorausgesetzt bleibt also das offene Geheimnis, dass sich bei den Reichen oft genug Kriminalität, Unverschämtheit und Vulgarität mischen, ohne dass es ansatzweise noch einen bahnbrechenden ästhetischen Stil gäbe, der die Vulgarität des Reichtums übertünchen könnte, und nur die sophiscated Kunst kann noch mit Mühe überdecken, dass der Reichtum der Superreichen so vulgär ist wie die Ein-Euro-Ware bei Kick. Die monströse Luxusvilla kommt erst dann zu sich selbst, wenn die vom Luxus Ausgeschlossenen sie im Magazin anglotzen dürfen. Und jeder im Fernsehen ausgestrahlte Life-Event der Eliten unterbietet das Trash-Fernsehen für die Abgehängten nicht nur an Obszönität, sondern auch an Einfallslosigkeit, sodass das letzte, wahre Event der Superreichen vielleicht im Genuss einer temporären Freizeitobdachlosigkeit auf der Straße besteht, wie sie Chuck Palahniuk in aller Ausführlichkeit beschrieben hat.

Als ob das einfache Glück, als ein erfolgreicher Lebensinvestor zu leben, nicht genug wäre, muss es noch ein zusätzliches Vergnügen geben – die Erlaubnis, den Underdogs beim Leiden zuzuschauen, weil damit die Reichen sich umso mehr ihrer eigenen Überlegenheit erfreuen können. Sie wollen natürlich in den Slums oder Plattenbauten nicht leben, und genau die Gewissheit, dass sie dies nicht müssen, lässt sie über die Welt der Unerdogs phantasieren. Genießend malen sie sich ein schreckliches Detail nach dem anderen aus, zeichnen sie die Katastrophen, die auch schmerzen, also ein schmerzhaftes Genießen. Das Beobachten des Leids von Dritten ist dann der Grund dafür, dass man überhaupt noch Freude empfinden kann., und wenn das Leid entfernt ist, dann erscheint das Glück des Narzissten in einer sterilen Dummheit.

Dies gilt zumindest für die privilegierten Bevölkerungsteile in den Wohlfühloasen der Metropolen, die es vor allem gewohnt sind den Globus unentwegt zu bewohnen und zu bereisen, während große Teile des dahin vegetierenden Proletariats in den Peripherien, aber zum Teil auch schon in den Kernzonen des Kapitals, gnadenlos an ihren Plätzen – Wohnungen ausgestattet mit digitalen Konsolen, welche am Flachbildschirm einen Blick auf die Welt ermöglichen – gefesselt sind. Und gleichzeitig sucht Tag und Nacht ein Heer von Spürhunden, das heißt, die Analysten der Versicherungen, Banken und anderen privaten Unternehmen weltweit nach verborgenen Quellen, die auf die zukünftige Vermehrung von verschiedenen Aspekten des Lebens verweisen könnten und die bisher in dem Derivatwert einer Person noch nicht reflektiert sind.[6]

Dabei muss, um die Differenzen im sozialen Feld zu visualisieren, eine mediale Verachtungsmaschinerie in Gang gesetzt werden, die auf die Verarmten, die Prolls, die Migranten und Flüchtlinge abzielt, sie als Ungeziefer und Abgehängte zuallererst konstruiert. Der funktionelle Psychopath, der von den sozial Abgehängten gar noch bewundert wird, weil er über deren Leichen geht, benötigt die Ausgestoßenen als ein Opfer, das möglichst keinen Widerstand leistet, sondern das Unwohlsein allenfalls als eine Art Gekränktsein pflegt. Ein großer Teil der Menschheit, die man als Surplus-Bevölkerung klassifiziert und die man mit Günther Anders auch »Vegetier-Proletarier« nennen könnte, wird von der Vermehrung des kleinen Kapitals x definitiv ausgeschlossen bleiben. Es gibt hier eine »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen«, oder eine »Glokalität« der Globalisierung zu vermelden. Die Surplus-Bevölkerung ist ganz und gar unfähig, die Beschränkungen des Raums zu annullieren und bleibt damit im verelendeten und durch den Klimawandel zerstörten Raum zurück, wird auf die Müllhalden geworfen oder in Schattenzonen abgestellt, sie ist zeitlich zwangsentschleunigt und hinkt den dynamischen Hipster-Subjekten, welche meistens die Wohlfühloasen des Westens bewohnen, nur noch hinterher, um im stagnierenden »Zeitbrei« der eigenen Überflüssigkeit auf den Tod zu warten. »Einige bewohnen den Globus, andere sind an ihren Platz gefesselt« heißt es entsprechend bei Zygmunt  Bauman. Dabei definieren die Ersteren ihre Wohlfühl-Subjektivität auch durch ihre wuchtige Verfügung über Kaufkraft, während für die Surplus-Bevölkerung schon die Säuglinge von vornherein als Menschenmüll gelten, da diese in Zukunft keine zahlungskräftige Nachfrage generieren werden. Man wird in Zukunft den armen Produzenten von Säuglingen vorschlagen, diese besser nicht mehr zu produzieren. Das nennt man dann Geburtenkontrolle.


[1] Die Kapitalisierung inhäriert den berechneten (diskontierten) gegenwärtigen Wert der in der Zukunft zu erwartenden, risikobereinigten Gewinne einer ökonomischen Einheit. Die Preise von Derivaten basieren auf den Marktkalkulationen zukünftiger monetärer und volatiler Gewinnströme, die aufgrund von Marktzinsraten und den Erwartungen der Marktakteure diskontiert werden. Oder, um es anders zu sagen, sie resultieren aus der Diskontierung der zukünftig erwarteten Gewinne mit dem aktuellen Marktzins und einem von der Qualität des Wertpapiers sowie der konjunkturellen Situation abhängigen Risikoaufschlag oder -abschlag (gewichteter Zins). Spekulation und Messung im ökonomischen Bereich vollziehen sich heute am effektivsten durch das Schreiben und Auspreisen von Derivaten. Die Standardauffassung der Finanzökonomie definiert den Derivatvertrag als ein Asset (Vermögenswert oder spekulatives »Investment«), dessen Wert von etwas anderem, das als Basiswert bezeichnet wird, abhängig ist, wobei mit dem möglichen zukünftigen Wert des Underlyings spekuliert wird. Das Derivat ist also kein Ding, das man wie ein Buch in den Händen hält. Es ist essenziell relational, ja es ist eine Relation von Relationen. Dabei ist es die Aufgabe des Spekulanten, die Volatilität des Derivats in Relation zur Volatilität des Underlyings im Lauf der Zeit einzuschätzen. Bei Derivatvertrag »wetten« also zwei Kontrahenten darauf, was mit der Relation zwischen dem unterliegenden Asset und dem Derivat in der Zukunft passieren wird.  In gewisser Weise wird auf die Relation selbst gewettet und ein Tango mit der Zeit gespielt. Das ist aber nur insoweit wahr, als auch die Prinzipien der euklidischen Geometrie nicht immer falsch, aber eben nur manchmal wahr sind. Es wird nämlich auch mit dem zukünftigen Wert des Assets selbst spekuliert, das heißt es gibt einen Bezug des Derivats auf sich selbst, und nicht nur auf das Underlying. Das Entscheidende der Replikation des Derivats ist seine Größe und die Geschwindigkeit der Volatilität.

[2] Wenn in der selbstreferenziellen Bewegung des Geldes eine doppelte Bewegung am Werk ist, dann nicht die zwischen fundamentalen Werten und spekulativen Impulsen, vielmehr insistiert in ihr die konstante Notwendigkeit, produktiv auf spekulative Provokationen zu antworten, um die Realität mittels neuer Relationen zu rekonstruieren. In diesem Zusammenhang ist dann auch das Leverage zu sehen, das Akteure, die in höheren sozialen Positionen angesiedelt sind, verpflichtet, ihre Aktivitäten zu hebeln, das heißt, sie richten ihr Beziehungen zu anderen so ein, dass sie den höchsten Gewinn, den größten Output für einen gegebenen Input ziehen können. Das Konzept des Leverage funktioniert auf der individuellen Ebene immanent, relational und performativ, und zwar durch die rekursive Aktivierung von Konnektionen und Operationen, die es komponieren. Es zeigt, dass die relationalen Formen immanent und konstitutiv zugleich sind, um neue Normen zu schaffen. Leverage ist die Art und Weise, wie man seinen fiktiven Projektionen eine sich selbst erfüllende, performative Qualität x gibt, indem man erzwingt, dass die Welt affirmativ auf die eigenen spekulativen Forderungen antwortet. Insofern die Spekulation mehr als nur »Wetten« bedeutet, involviert sie das Leveraging. Das Leveraging beinhaltet nicht einfach nur die Verbesserung der ökonomischen Position des Spekulanten, sondern gestaltet dessen Konfiguration der Realität.

Die Mainstream-Wirtschaftswissenschaften begreifen die Spekulation lediglich als ein nicht-performatives Risikomanagement, das die Unsicherheit eliminiert und darauf besteht, dass die Zukunft kalkulierbar ist, wenn nur die richtigen Daten und Methoden zur Verfügung stehen. Da davon ausgegangen wird, dass keine signifikanten Unterschiede zwischen der Vergangenheit und der Zukunft bestehen, kann letztere aufgrund der Kenntnis der ersteren mittels eines perfekten wahrscheinlichkeitstheoretischen Wissens kalkuliert werden. Es geht hier dann tatsächlich zu wie in einer Lotterie: Da die Randomness systemisch produziert und der Einfluss des Subjekts isoliert werden kann, erhalten wir vollständiges Wissen. Aber die Unsicherheit ist vom kalkulierbaren Risiko so einfach gar nicht zu trennen, und es stellt sich die Frage, wie man die Unsicherheit der Zukunft benutzt, um sie auszubeuten ohne von ihr paralysiert zu werden.

Das Leverage im Rahmen der Spekulation besitzt hier dann eine präemptive Qualität, es antwortet auf das Fakt, dass wir niemals die Zukunft vollkommen wissen können und deshalb Strategien benötigen, die permanent das Moment der Unsicherheit bearbeiten. Leverage bedeutet dann, sich selbst als einen nodalen Punkt innerhalb einer interaktiven Logik der Spekulation zu begreifen, als ein Attraktor im sozialen Feld. Die Art, wie man die Unsicherheit der anderen hebelt, besteht dann darin, dass man sie dazu bringt, in die Versprechungen des anderen (als eine Art, die Unsicherheit zu hedgen, der sie ausgesetzt sind) zu investieren. Das Leveraging verschiebt die Emphase, die auf die Möglichkeit, die Risiken korrekt zu kalkulieren, bezogen ist, hin zur Art und Weise, wie Akteure ihre Versprechen als relevante Einheiten der Kalkulation zu institutionalisieren versuchen. Die ökonomische Macht besteht nicht nur im Wissen, sondern darin, dass man selbst im Kontext einer grassierenden Unsicherheit (an)erkannt wird. Damit lässt sich das Leveraging als ein säkulare Form der Souveränität verstehen, mit der man das Feld der Risiken zwar nicht transzendiert, aber die Möglichkeit besitzt, die eigenen Risiken in Gefahren für andere zu transformieren.

[3]Bares Geld zum Beispiel verbucht man, indem man sich zum Gläubiger und die Kasse zum Schuldner macht; Waren, die man einkaufen will, macht man zur Schuldnerin, und die Kasse zur Gläubigerin.

[4] Ein derartig monetarisiertes Leben vollzieht sich stets im Modus der Prävention und des Risikomanagements, das aber ständig in die Gefahr läuft, ins Irrationale abzugleiten. Luhmann verdanken wir in diesem Kontext die Einsicht: »Bei einer rationalen Einstellung zu Risiken ist es oft richtiger, den Schadenseintritt abzuwarten, als viel in (wahrscheinlich unnötige) Vorbeugung zu investieren. Ja, in dem Maße als ein System Schäden verkraften und ausgleichen kann, wird es rationaler, auf diese Fähigkeit zu setzen, statt zu versuchen, alles nur Denkbare zu verhindern. (Das muß nicht unbedingt gegen Zähneputzen sprechen).«

[5] Das Kadaver-Subjekt kondoliert eindeutig einer psychotischen Struktur, wie sie von Deleuze/Guattari ausführlich beschrieben wird. Die beiden Autoren schreiben, dass die Deterritorialisierungen (Teilungen, Verflüssigungen etc.) stets von Reterritorialisierungen (Narzissmus, Individualisierung etc.) begleitet sind.

[6] Der Lebenswert schmiegt sich eng an den Logos des Derivats an, das man auf die Umgebung der Person und auf diese selbst bezieht. Dabei wird der Unterschied zwischen kleinem Kapital x und der Person zunehmend ausgelöscht, insofern das Leben insgesamt auf die Monetarisierung ausgerichtet wird, auf die Transformation einer kleinen sozialen Angelegenheit in eine Maschine zur Vermehrung des kleinen Kapitals x. Der Lebensprofit wird nun direkt an die derivative Profitlogik des Kapitals gebunden.

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