Die Re-Regulierung des internationalen Kapitals seit den 1970er Jahren

Als historischer Ausgangspunkt für die neue Epoche der umfassenden Finanzialisierung wird vielfach das Ende des Fordismus Anfang der 1970er Jahre angegeben. Der Fordismus als ein spezifisch kapitalistisches Akkumulationsregime, das ein dynamisches und zugleich gleichgewichtiges Wachstum im harmonischen Zusammenspiel von Produktivität, Reallöhnen und Profiten ermöglichte. Seit Anfang der 1960er Jahre korrespondierte der (qualitativen) Erweiterung des Warenangebots ein Einsatz neuer (tayloristischer) Produktionsmethoden in sämtlichen Fertigungszweigen, was gleichzeitig eine starke Erhöhung der Produktivität sowie der Kapitalintensität nach sich zog. Gerade in der Anfangsphase des Fordismus kam es zu einer nachhaltigen Steigerung der Produktinnovation (Haushaltswaren, Unterhaltungselektronik, Automobil etc.), die für einen gewissen Zeitraum die sog. Prozessinnovation in der industriellen Produktion dominierte (tayloristische Verfahren zur Neuverteilung und Verdichtung der Produktionsprozesse), sodass eine Reihe von neuen Industriezweigen entstanden, die zunächst die Effekte der durch neue Produktionsmethoden induzierten Verdrängung lebendiger Arbeit überkompensierten und somit die Basis für den Anstieg der absoluten Profitmasse schufen. (Vgl. Lohoff/Trenkle 2012: 34f.) Allerdings kehrte sich noch in den 1960er Jahren dieser Trend um. Mit den ersten Sättigungstendenzen in den neuen Industrien und der Reduktion der lebendigen Arbeit in den alten und neuen industriellen Branchen begann sukzessive die Prozessinnovation die Produktinnovation zu dominieren, d. h., die arbeitskräftesparenden Rationalisierungsinvestitionen überstiegen die sog. Erweiterungsinvestitionen. (Ebd.: 52f.) Zwar kam es infolge von mehreren Rationalisierungsschüben zu einem weiteren Anstieg der Mehrwertrate, aber zugleich verlangsamte sich infolge der Dominanz der Prozessinnovation gegenüber der Produktinnovation der Anstieg der absoluten Wertmasse, was sich in einem Sinken der Profitrate äußern kann, aber nicht muss. (Ebd.: 190) Tatsächlich scheint es für einen starken Fall der Profitraten im Fordismus keine strukturellen Faktoren zu geben, vielmehr ist anzunehmen, dass die tayloristische Transformation der Produktionsprozesse mit ihrer Neuverteilung der Arbeit und Löhne, der bürokratischen Kontrollen und der strengen Befehlshierarchien an interne Grenzen der betrieblichen Organisation stieß und damit die betriebswirtschaftlichen Produktivitätsreserven der standardisierten tayloristischen Massenproduktion sich langsam erschöpften, sodass schließlich die Produktivitätssteigerung gegenüber dem Anstieg der technischen und in geringerem Ausmaß auch der Wertzusammensetzung des Kapitals hinterher hinkte – der Kapitaleinsatz pro Arbeiter schneller als die Produktivität anstieg, während gleichzeitig massive Arbeitskämpfe in Europa für die Anhebung der Löhne und die Ausweitung der staatlichen Sozialleistungen sorgten, womit auch die Kosten zur Finanzierung der öffentlichen Infrastruktur immer weiter anstiegen. Die prozessinnovative Komponente mit ihren negativen Auswirkungen auf die Profitrate dominierte ab einem gewissen Punkt faktisch das produktinnovative Element, womit die Eliminierung lebendiger Arbeit in den hochindustrialisierten Branchen zunehmend stärker ausfiel als die Neueingliederung lebendiger Arbeit in neu entstehende Branchen. (Ebd.: 201)

Die Mehrheit von linken Ökonomen sieht in Faktoren wie der Verlagerung der hochindustrialisierten Produktion in die kapitalistischen Peripherien, direkte Angriffe auf die Rechte der Arbeiterklassen in den kapitalistischen Metropolen (Massenentlassungen, Schwächung der Gewerkschaften, Senkung der Löhne, Abbau der Sozialleistungen, Prekarisierung etc.), der Schaffung neuer Anlagemöglichkeiten für das wachsende fiktive Kapital aufgrund der neuen Regulierung der transnationalen Finanzmärkte sowie in der Privatisierung öffentlichen Eigentums die wichtigsten Strategien des neoliberalistischen Modells, dem wir uns nun etwas genauer zuwenden wollen. Neoliberalismus verwenden wir hier als Begriff, der die Konstruktion neuer Steuerungs- und Regierungstechniken bzw. die »positive« Deregulierung der Arbeits- und vor allem der Finanzmärkte anzeigt, und dies u. a. als Resultat eines staatlichen Interventionismus, der den ökonomischen Wettbewerb performativ für das Soziale setzt und gleichzeitig die Konzentrationsprozesse des transnationalen Kapitals unterstützt. Eine prägnante Definition des »Neoliberalismus« schließt den Begriff aber nicht nur mit ökonomischen oder politischen Strategien kurz, sondern eben auch mit konstruktiven Technologien, die die widersprüchliche Forderung in sich aufnehmen, dass der Staat seine relative Trennung von der Ökonomie beibehalten oder sich ganz aus der Ökonomie herauszuhalten habe, aber gleichzeitig sämtliche Felder der staatlichen »Interventionen« sich auf die Stärkung der Dispositive der Finanz-Ökonomie beziehen mögen.

Es gilt hier ganz kurz einige wichtige Kennzeichen des neoliberalen Modells aufzuzeigen: Der internationale Handel und die ihn begleitenden diversen Outsourcingstrategien der Konzerne beschleunigte in den kapitalistischen Metropolen den Abbau von ineffizient kapitalisierten Bereichen in der Wirtschaft, was mit einem schleichenden Machtverlust der nationalen Gewerkschaften und der Deregulierung der Arbeitsmärkte einherging. Die Privatisierung staatlicher Sektoren sowie eine Veränderung in der Komposition der staatlichen Aktivitäten führten im gleichen Atemzug zu neuen Investitionsmöglichkeiten für das private Kapital und zu einer Ausweitung der Aktivitäten des finanziellen Kapitals. Nun konnten endlich neue Waren generiert werden, die bisher vom Staat zur freien Verfügung bereitgestellt worden waren, was wiederum zu einer Erhöhung der Schulden privater Haushalte führte, falls diese Zugang zum Bankensystem und damit zu Konsumentenkrediten besaßen, während sich für die Banken umgekehrt neue Märkte eröffneten, z. B. der Markt für Studentendarlehen. Gleichzeitig wurden die Steuern für die Gruppen höherer Einkommen reduziert und dies perpetuierte u. a. die hohen Levels der Staatsverschuldung. Der Konsens von breiten Bevölkerungsschichten hinsichtlich des neoliberalen Modells wurde also von Anfang an durch die Möglichkeit an billige Konsumentenkredite zu gelangen unterstrichen, während Lohnabhängige als Aktienbesitzer zu einem allerdings eher geringen Anteil an der globalisierten Jagd nach Profit partizipieren konnten, sodass ihnen zeitweise auch ein höheres Einkommen zu Verfügung stand, was wiederum dem Staat die Möglichkeit bot, sich von der Bereitstellung aus universellen Versicherungssystemen wie Gesundheit, Bildung und soziale Einrichtungen immer weiter zurückzuziehen. Dabei ist die Eingliederung von bestimmten Bevölkerungsschichten in das universelle Kreditsystem weniger als ein Resultat der Gier der Banken zu begreifen, sondern als Teil einer radikal neuen Anordnung des Sozialen, die der neoliberalen Regulation selbst angehört. Das eigene Haus, das durch die neoliberale Finanzialisierungspolitiken erlangt werden konnte, war ein erklärtes ideologisches Ziel aller Repräsentanten des neoliberalen Modells. Und insgesamt wurde es möglich die Märkte mit zahllosen neuen Playern anzureichern und neue Geldkapitalsummen zu mobilisieren, die allerdings nicht alle in die Produktion geleitet wurden, stattdessen viel stärker an einer futurisierten Kapitalisierung in den Fiinanzsektoren partizipierten. Als eines der wichtigsten Kennzeichen des neuen regulatorischen Regimes der Finanzindustrie darf im Neoliberalismus das Modell des nicht-traditionellen Bankings oder der Extra-Banken gelten, die bis heute die öffentlichen Schulden sowie die der industriellen Unternehmen an den internationalen Märkten mitfinanzieren (Fonds, Versicherungen etc.). Mit den Regimen der Finanzialisierung wird die permanente Versicherung der Schulden sowie die internationale Mobilität des Kapitals massiv vorangetrieben, u. a., um einen international strukturierten Raum für das multiple Investment der Einzelkapitale zu generieren, was heißt, dass die Finanzmärkte in ihrer Funktion als komplexe multidimensionale Systeme (Geld-, Bond-, Aktien-, Währungs-, Copyright-Märkte etc.) die hegemoniale Rolle in der neoliberalen Governance übernehmen, sie gleichen die Mobilitäten der Einzelkapitale untereinander an und etablieren neue Bedingungen für den ubiquitären Wettbewerb.

Vor allem während der Regierungszeiten von Thatcher und Reagan kam es seit Anfang der 1980er Jahre zu einer explosionsartigen Vermehrung des fiktiven Kapitals, vor allem in der Form der Emission von Staatsanleihen und Wertpapieren, und dies ging wiederum mit einer starken Tendenz zur Oligopolisierung der dominanten (finanziellen) Kapitale auf globalem Maßstab einher und je nach Weltmarkt- und Wettbewerbsposition der einzelnen Industrieländer mit einer umfassenden Rationalisierung der Fertigungsbetriebe durch die Anwendung neuer mikroelektronischer Technologien bzw. mit einer zunehmenden Automatisierung/Robotisierung der Produktionsverfahren in den großen Industriebetrieben. (Ebd.: 209ff.) Dies beschleunigte seinerseits die macht-ökonomischen Konzentrationsprozesse in den hyperproduktiven Sektoren, während gleichzeitig die Verlagerung von Branchen, deren komplette Automatisierung sich in den Industriemetropolen auf betriebswirtschaftlicher Ebene bis dahin noch nicht rechnete, in die Niedriglohnländer des globalen Südens stattfand. Permanente Angriffe auf die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklassen sowie die umfassende Umstrukturierung der Produktionssysteme und Produktionsmethoden kennzeichneten also die differenziellen Akkumulationsprozesse in den 1980er Jahren und führten aufgrund konjunktureller und betriebsinterner Faktoren (just-in-time production, Toyotismus, vertikale Desintegration der transnationalen Konzerne, Flexibilisierung, Mobilität, projektbezogene und vernetzte Leitung, gleitende Arbeitszeiten, Automatisierung etc.) zu leicht steigenden Profitraten im industriellen Sektor. Dabei blieben nationalstaatliche Differenzierungen innerhalb der differenziellen Kapitalakkumulation virulent, sodass die technologischen Vorteile der produktiveren Länder von den weniger produktiven Ländern bisweilen durch niedrigere Lohnkosten kompensiert werden konnten. (Es muss davon ausgegangen werden, dass die neoliberalen Politiken und Strategien im Kontext diverser Klassenantagonismen nur ungleichzeitig griffen. Während in Großbritannien die Finanzmärkte schon seit circa 1960 liberalisiert worden waren, um aber gerade auch am Sozialstaat festzuhalten, mussten sich in den USA die exportorientierten Unternehmen zu dieser Zeit gegen die auf den Binnenmarkt ausgerichteten »konservativen« Kapitalfraktionen durchsetzen. Auch in einigen Ländern Europas wie z. B. Frankreich kam die sog. neoliberale Liberalisierung erst nach dem Scheitern des Keynesianismus ab Mitte der 1980er so richtig in Schwung, wobei dort das neoliberale Projekt für eine gewisse Phase mit einem neomerkantilistischen Projekt konkurrieren musste.) Weiterhin lieferte die Überschreibung von staatlichen Infrastrukturprojekten und öffentlichen Institutionen der Daseinsvorsorge in privates Kapital Teile des staatlichen Sektors und seiner Apparate direkt der privaten Kapitalakkumulation aus. Damit wurde gleichzeitig die Masse der Verkäufer von Wertpapieren erweitert, denn diese neuen privaten Unternehmen emittierten entweder Aktien oder nahmen Unternehmensanleihen auf und schufen damit erweiterte Anlagemöglichkeiten für das fiktive Kapital. Dabei stärkte die neoliberale Regulierung der Finanzmärkte ganz entschieden sowohl den strategischen Spielraum der Geschäftsbanken als auch den der neuen Finanzunternehmen, die von nun an eine enorme Vielfalt von Finanzinstrumenten zu schaffen begannen, die vor allem auf sog. OTC-Märkten gehandelt wurden, sog. Sekundärmärkten, die bis heute keinerlei Kontrollen seitens staatlicher Aufsichtsbehörden oder internationaler Organisationen unterliegen. Die in allen Industrieländern praktizierte Politik der Steuersenkung für höhere Einkommensschichten heizte darüber hinaus die Nachfrage nach synthetischen Wertpapieren an, eine Politik, die parallel zur Privatisierung der Sozial- und Rentenversicherungen verlief, deren Investmentfonds von nun an Milliardenbeträge in die Finanzmärkte einspeisen konnten. Die Finanzindustrie wurde somit zur Basisindustrie für die Akkumulation des Kapitals auf der Gesamtebene.

Seit Mitte der 1980er Jahre blieben die industriellen Akkumulationsraten in den führenden Industriestaaten hinter den (objektiven) Unternehmenserwartungen zurück, die ja stets steigende oder zumindest konstante Profitraten inkludieren, und das trotz der breiten Implementierung der Mikroelektronik in die diversen Produktionssektoren, der räumlichen Verschiebung von bestimmten Branchen und Abteilungen des industriellen Kapitals im transnationalen Rahmen und der Erschließung neuer Märkte vor allem in China und Südostasien. (Vgl. Marazzi 2012: 30) Manche marxistische Positionen gehen jedoch davon aus, dass die Mikroelektronik, die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien ab den 1980er Jahren sowohl zu einer deutlichen Erhöhung der Produktivität als auch zu einer deutlichen Verbilligung der Elemente des konstanten Kapitals und damit zu einer sinkenden Wertzusammensetzung des Kapitals und zumindest phasenweise zu steigenden Profitraten geführt hätten. Meistens werden dabei die Bestimmungsfaktoren, die dem Fall der Profitrate entgegenlaufen, mit Marx als sog. Gegentendenzen erfasst, und hier wird vor allem auf die Verbilligung des konstanten Kapitals durch den Einsatz neuer Technologien bzw. den permanenten Fall der Preise für Computersoftware und -hardware hingewiesen, während zur gleichen Zeit die Mehrwertrate sich erhöht hätte. Meistens unbeantwortet bleibt aber in den bisherigen Debatten marxistischer Ökonomen die Frage, wie und warum es seit den 1970er Jahren zur Verknappung der rentablen Anlagemöglichkeiten in den industriellen Branchen kam, d. h., zur Stagnation oder zum Fall der Investitions- bzw. Akkumulationsraten bei stagnierender oder leicht steigender Profitrate. Dieser Sachverhalt führte gleichzeitig zur Transformation des industriellen Profits in fiktives Kapital. In diesem Kontext schreibt der französische Ökonom Michel Husson, dass die Argumentationslinie, nach der die Entwicklung der Akkumulationsrate in den hochindustrialisierten Ländern ab Mitte der 1970er Jahre schwach geblieben sei, weil die Renditen im Finanzsektor höher als die industriellen Profitraten gewesen seien und (industrielle) Investoren deshalb begonnen hätten an den Finanzmärkten zu spekulieren, anstatt in den Realsektor zu investieren – dass diese Argumentation viel zu formalistisch sei. Husson selbst kann aber das tendenzielle Ansteigen der nicht akkumulierten Profitmassen, die schließlich in die finanzialisierten Sekundärmärkte wanderten, auch nicht zufriedenstellend erklären. Er konstatiert lediglich ein Sinken des allgemeinen Lohnniveaus seit den 1980er Jahren, das zu stabilen Profitraten und gleichzeitig doch zu einem Sinken der Akkumulationsrate bei steigender Finanzialisierung geführt habe: »Die Hauptquelle der Finanzblase (ist) die tendenzielle Ansteigen nicht akkumulierten Profits, der sich selbst wiederum einer doppelten Bewegung verdankt: zum einem dem allgemeinen Sinken des Lohnniveaus und zum anderen der Stagnation – also dem Sinken – der Akkumulationsrate, ungeachtet der Wiederherstellung der Profitrate.«1 Letztendlich waren Husson zufolge die mit der Etablierung der Computer-, Kommunikations- und Informationsindustrie verbundenen Produktivitätssteigerungen, die eine höhere Effizienz in der Anwendung des konstanten Kapitals nach sich zogen, nicht von entsprechenden Lohnzuwächsen und damit einer ausreichenden Steigerung der effektiven Nachfrage begleitet. Die aus der Steigerung der Produktivität und der wachsenden Effizienz der Anwendung des konstanten Kapitals resultierende ansteigende Warenmasse muss natürlich auch realisiert werden. (Vgl. Zeller 2004: 127f.) Dabei korrelieren direkte und indirekte Lohneinkommen bei gegebenem Sozialprodukt negativ mit der Profitrate, d. h., sinkende Löhne als Kostenfaktor erhöhen die Profitrate und dies auf der Ebene des Einzelkapitals, andererseits wird aber dadurch die Realisierung des Profits auf der Ebene des Gesamtkapitals erschwert, weil eben die effektive Nachfrage nach Waren sich verringert. Investitionen haben nämlich immer Kapazitätseffekte, sie steigern das Angebot an Waren und Dienstleistungen und sie sollten zumindest nach keynesianischen Denkmustern auch Einkommenseffekte besitzen. Laut Husson sind an dieser Stelle noch zusätzliche Faktoren, wie die wachsende Transformation der Dienstleistungen in Waren, zu berücksichtigen, die angeblich die Produktivität verlangsamten und damit die lang anhaltenden Akkumulationsstaus in den industriellen Branchen indirekt beeinflussten. (Husson 2004: 142f.) Die Theorie, die an dieser Stelle von einer Umverteilung des produktiven Kapitals in Richtung unproduktive Dienstleistungen spricht, kann aber die Frage nicht klären, warum ausgerechnet deshalb das Wirtschaftswachstum gebremst worden sei, man könnte im Gegenteil natürlich auch folgern, dass diese Umverteilung nur deswegen erfolgte, weil eine höhere Produktivität im industriellen Sektor auch einen höheren Anteil an (produktiven) Dienstleistungen erfordert hatte. Und man sollte in diesem Zusammenhang untersuchen, ob mit der Inwertsetzung der Dienstleistung auch eine Rationalisierung der Warenproduktion einhergeht, die zu einer Senkung des Wertes der Arbeitskraft führt, oder ob nicht umgekehrt mit der schrittweisen Inkorporation neuer Waren und Dienstleistungen in die jeweils aktuellen Konsumnormen eine Verteuerung der Arbeitskraft und damit eine Erhöhung der Nachfrage erfolgt.2 Ungeklärt bleibt aber weiterhin das Problem der Stagnation der Akkumulationsraten und die damit einhergehende Verschiebung der Profite in den Finanzsektor.

Wir werden an dieser Stelle zunächst drei marxistische Positionen darstellen, die auf Basis ihrer empirischen Untersuchungen vor allem der Profitratenentwicklung in den USA eine eindeutig produktionsorientierte, d. h., auf die Industriesektoren bezogene Argumentationslinie hinsichtlich der Akkumulationstendenzen im postfordistischen Kapitalismus verfolgen, wobei sie sich trotz gegenseitiger Differenzen zumindest einhellig gegenüber anderen marxistischen Positionen absetzen, die auf Grundlage bestimmter Krisentheorien wie der profit squeeze theory oder der Unterkonsumtionstheorie hauptsächlich die Nachfrageseite betonen. Im Gleichklang sprechen allerdings beide Richtungen von einem sog. finanzgetriebenen Kapitalismus in seiner Entkopplung von der »Realwirtschaft«, von einer Durchsetzung der Finanzialisierung als bloßer Anomalie der kapitalistischen Produktionsweise, ja von einer ultimativ nutzlosen Abweichung und fortschreitenden Untergrabung der Wertproduktion, deren sinkender Verwertungsgrad durch die Anhäufung von fiktivem Kapital eben nur aufgeschoben würde. In diesen beiden Denkweisen gründet der Kapitalismus rein auf der Produktion von Waren und der Ausbeutung der Arbeitskraft.

1) Der marxistische Ökonom Michael Roberts (vgl. Roberts 2013) schreibt, dass Marx das Gesetz des tendenziellen Falls der allgemeinen Profitrate als den wesentlichen Faktor, der die krisenhafte Dynamik der Akkumulation des Kapitalismus bedinge, begreife, obwohl allein der Fall der Profitrate niemals zu einem automatischen Zusammenbruch des Kapitalismus führen könne, im Gegenteil würde der Kapitalismus durch eine Krise gerade zu neuen Phasen des Wachstums ansetzen, sodass man zumindest kurzfristig immer wieder einen starken Anstieg der Profitrate feststellen könne, was wiederum einer vorhergehenden massiven Entwertung von Kapital zu verdanken sei. Dies wäre immer mit einer Offensive der Unternehmen und des Staates verbunden, die darin bestünde, in der Krise die Reallöhne zu senken und damit eine Neuzusammensetzung der Arbeit zu erreichen, indem gleichzeitig staatliche Transferleistungen gekürzt würden. Das Zusammenwirken all dieser Faktoren führte laut Michael Roberts Anfang der 1980er Jahre (insbesondere in den USA) zu einem erneuten, aber nur kurzfristigen Anstieg der Profitrate, wobei es aufgrund von drastischen Rationalisierungsprozessen in der Produktion von Gütern und Dienstleistungen zu einer Steigerung der Produktivität und damit (aufgrund der Verbilligung der Reproduktionskosten der Lohnabhängigen) zu einer Erhöhung der Mehrwertrate gekommen sei. Insolvenzen im industriellen Sektor sowie die neuen Formen der Finanzialisierung hätten gleichzeitig zum Verschwinden der nicht effizienten industriellen Sektoren geführt, wobei die Produktion in manchen Industrien wie z. B. der Stahlindustrie zurückgefahren und die der Ölindustrie hochgefahren worden sei, während der Ausbau der globalen Produktionsketten die Verschiebung von arbeitsintensiven Industrien in die Niedriglohnländer des globalen Südens erlaubt hätte. Die neoliberal orientierte staatliche Politik zielte ganz auf die Forcierung dieser Art von Restrukturierungsprozessen des Kapitals, was vor allem eine neue Regulierung der Kapital- und Arbeitsmärkte kombiniert mit einer deflationären Fiskalpolitik nach sich zog, und dies setzte die kapitalistischen Unternehmen kurzfristig in die Lage neue Investitionen in Betriebsstätten, Produktionsmittel und Equipment vorzunehmen, im speziellen in der Computerindustrie und Mikroelektronik, wobei dies auch zu einer Neuzusammensetzung der lebendigen Arbeit entlang den Vorgaben der Produktivitätssteigerung führte. Roberts geht nun davon aus, dass die Elastizität der Profitrate höher als die der Löhne oder der Investitionen ist, womit die Bewegung des Profits eine gewisse Volatilität besitzt. Roberts nimmt an, dass in der langen Expansion der 1990er Jahre die Profite schon vor den Rückgängen der Investments fielen, genauer, die Profite fielen ab 1997, während die Investments bis zum Jahr 2000 leicht anstiegen. Wenn man nun die Verfahren der Regressionsanalyse heranzieht, dann kann man davon ausgehen, dass der Faktor Profit vor Steuer ca. 50 % aller Investments erklärt, während es umgekehrt keinerlei Evidenz gibt, dass man mit dem Parameter Investment die Veränderungen der Profitrate bestimmen kann. (Ebd.) Und wenn die Profitrate ansteigt, dann führt dies in der Tendenz zu beschleunigter Akkumulation, zum Anstieg von Beschäftigung und Einkommen. Wenn aber die Profitrate so stark fällt, dass sie einen Fall der absoluten Masse des Profits hervorruft, dann wird mit dem parallelen Abfall der Investitionen eine ökonomische Krise folgen, die erst dann beendet sein wird, wenn die Profitabilität durch die Entwertung von Kapitalwerten (Insolvenzen, Bankenkollaps, Fabrikschließungen, Freisetzung von Arbeit, Abschreibung von Schulden etc.) wieder ausreichend hergestellt ist, denn erst dann werden in großem Ausmaß neue Investitionen erfolgen. Roberts geht davon aus, dass das Marx’sche Gesetz des tendenziellen Falls der allgemeinen Profitrate für alle US-Unternehmen in den letzten sechs Jahrzehnten vor der letzten großen Krise Geltung besaß und dies auch hinsichtlich des scharfen Falls der Akkumulationsrate seit den 1970er Jahren, der für ihn der eigentliche Grund für das chronischen Nachlassen des wirtschaftlichen Wachstums in den USA ist. Ausschlaggebend für die heutigen hohen Verschuldungen war also der generelle Niedergang des wirtschaftlichen Wachstums in den klassischen Sektoren der kapitalistischen Wirtschaft. Die Welle der letzten Expansion, die nach den empirischen Untersuchungen von Roberts Mitte der 1980er Jahre begann, konnte nicht andauern, sondern führte nach kurzen Aufwärtsbewegungen erneut zu sinkenden Profitraten und auch zur Stagnation der Profitmassen, womit der US-Kapitalismus gegen 1997 in eine neue lange Phase der Stagnation mit relativ niedrigen Profitraten eintrat, und dies aufgrund von Überkapazitäten, die wiederum die Prägnanz und Gefährlichkeit der finanziellen Krise verschärften. Sind die Konditionen für Profitabilität und Akkumulation des Kapitals so ungünstig wie heute, dann trägt die finanzielle Krise viel größere Risiken in sich, womit gegenwärtige staatliche Bailouts, die eine partielle Nationalisierung der Banken inkludieren, zu einem Kollaps des Finanzialisierungsregimes selbst führen können oder zumindest zu einer langanhaltenden stagnativen Phase ähnlich der großen Depression in den 1930er Jahren. 2) Die meisten traditionellen Marxisten setzen den historischen Turning Point, der für die letzte große Aufschwungphase des Kapitalismus verantwortlich zeichnet, Anfang der 1980er Jahre an, wobei er angeblich ein neues Stadium der kapitalistischen Expansion mithilfe des Einsatzes sog. neoliberalistischer Regierungstechniken eingeleitet hätte. Es ist eine häufig vorzufindende Argumentation, dass der Neoliberalismus vor allem wegen der Erhöhung der Ausbeutungsrate so erfolgreich gewesen sei, weil die inflationsbereinigten Reallöhne gefallen wären und dies hätte zumindest eine leichte Umkehr in der Bewegung der Profitrate (nach oben) verursacht. In der Folge hätte die globale iÖkonomie auch real rapide wachsen können, wären die Profite umfassend in die industrielle Produktion geflossen, aber gerade dies sei aufgrund der Finanzialisierung eben nicht der Fall gewesen. Stattdessen wurden die Profitmassen immer stärker vom produktiven Investment in die Sektoren der finanziellen Spekulation transferiert, was einen Rückgang der industriellen Investitionen und damit vermittelt einen Rückgang des Einkommenswachstums der unteren Schichten nach sich gezogen hätte. Da die Stagnation der Einkommen es wesentlich schwieriger machte, private Schulden zurückzuzahlen, geriet schließlich der Aufbau einer umfassenden Schuldenspirale nur zu einer Frage der Zeit. Diese Kette von Ereignissen zeichneten schließlich für die Finanzkrise verantwortlich und am Ende für die gegenwärtige große Rezession. Der amerikanische Ökonom Andrew Kliman (vgl. http://akliman.squarespace.com/) führt aber aufgrund seiner eigenen Untersuchungen (auf Grundlage der Auswertung von Daten der US-Regierung und anderer offizieller Datenquellen) einige empirische Fakten an, die dieser Interpretation eindeutig widersprechen.4 Hierzu Folgendes: a) Der sog. Turning Point lasse sich laut Kliman schon in den 1970er Jahren ansetzen, also eindeutig vor dem steilen Aufstieg des Neoliberalismus. Außerdem sei die neoliberale Periode keine wirklich expansive Phase gewesen, sondern habe sich durch eine langanhaltende (industrielle) Stagnation ausgezeichnet. Man könne sogar konstatieren, so Kliman, dass die US-Ökonomie sich niemals in vollem Maße von den Einbrüchen der Rezession zu Beginn der 1970er Jahre erholt habe (der langfristige Anstieg der Einkommensungleichheit sowie die Stagnation des Wachstums der Infrastrukturausgaben begann für Kliman schon im Jahr 1969), während gleichzeitig der langfristige Anstieg der Staatsverschuldung und die starke Aufnahme von Immobilienkrediten durch Haushalte schon circa ab dem Jahr 1970 einsetzte. Und schließlich kollabierte das Bretton Woods System im Jahr 1971 und dies beschleunigte auch die Schuldenkrisen in der dritten Welt und führte von da an zu einer permanenten Instabilität der Finanzmärkten. Die stagnative Entwicklung, die sich im Fall der Wachstumsraten der industriellen Produktion, dem Rückgang der Reallöhne und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit etc. ausdrückte, begann also noch während der Phase eines allerdings schon abflauenden Keynesianismus. b) Die Profitraten der US-Unternehmen erholten sich niemals anhaltend während der sog. neoliberalistischen Phase des Kapitalismus. Wenn man den Profit sehr weit fasst, und zwar als Netto-Output der Unternehmen, den die Arbeiter und Angestellten nicht erhalten, so besaß die Entwicklung der Profitraten auch im Neoliberalismus einen kontinuierlichen Abwärtstrend. Selbst die Renditen der multinationalen Konzerne und ihrer auswärtigen Direktinvestitionen tendierten laut Kliman mittelfristig nach unten. c) Der Hauptgrund für der Rückgang der produktiven Investitionen besteht für Kliman eindeutig im Fall der Profitrate und eben nicht in sog. Hyperobjekten wie der Finanzialisierung oder dem Neoliberalismus. So wären zwischen den Jahren 1970 und 2009 die Veränderungen der Profitrate (auf der weiten Auffassung basierend) zu 83 % für die Veränderungen in der Akkumulationsrate verantwortlich gewesen, wobei dies für Kliman eine kausale Begründung impliziert. Er widerspricht damit eindeutig der Behauptung, dass die stagnierende Akkumulation ein Resultat der Diversifikation der Profite vom produktiven Investment hin zur Finanzialisierung gewesen sei. d) Den neoliberalen Strategien und Hegemonialpolitiken gelang es, entgegen weit verbreiteter Annahmen, nicht, den Anteil der Löhne am Nationaleinkommen der USA dauerhaft zu verringern. Während die Lohnzahlungen als Teil des Outputs der Unternehmen keinem eindeutigen Trend folgten, stiegen seit Mitte der 1980er Jahre die Managergehälter weitaus stärker als der Durchschnitt an, wobei man die Einkommen der Arbeiterklasse plus Sozialtransfers in den letzten 40 Jahren als konstant ansehen kann. Sie waren im Jahr 2007 so hoch wie 1970 und sie waren viel höher als in den frühen 1960er Jahren, sodass man den Versuch, die Unterkonsumtionstheorie zur Erklärung der gegenwärtigen Rezession heranzuziehen, von vornherein zurückweisen darf. (Ebd.) 3) Anwar Shaikh ist wohl derjenige marxistische Ökonom, der in seinen Schriften vielleicht stärker als alle anderen Ökonomen die zentrale Bedeutung der Entwicklung der Profitrate bzw. des Verhältnisses von Zins- und Profitrate für die Dynamik des kapitalistischen Wirtschaftssystems hervorgehoben hat. Für ihn stellt die ökonomische Entwicklung der USA seit den 1970er Jahren eine Periode dar, in der die absoluten Profitmassen enorm angewachsen, aber die Profitraten nicht in dem gleichen Maße angestiegen sind. Und Shaikh bemerkt, dass es notwendig sei, neben den langfristigen Veränderungen der Profitraten immer auch die eher kurzfristigen Bewegung der Zinsraten zu untersuchen, um die Bewegungen der differenzielle Kapitalakkumulation in den letzten Dekaden besser verstehen zu können. Shaikh schreibt: »What stimulates accumulation is not the profit rate but the profit rate net of the cost of borrowing capital, ie the interest rate. If the profit rate is flat and interest rates are falling, the incentive to accumulate is kept alive, though it’s kept alive artificially.«5 Die Zinsrate (in ihrer Relation zur Profitrate), für die das kapitalistische Business sich hauptsächlich interessiert, tendierte seit dem Ende des zweiten Weltkrieges zumindest in den USA dazu, immer weiter zu steigen, und zwar mit einem starken Anstieg am Ende der 1970er Jahre, bevor schließlich eine Stagnation und dann ein langfristiges Absinken der Zinsrate festzustellen war. Diese Konstellation sei, so Shaikh, in erster Linie für den »falschen Boom« verantwortlich gewesen, der zu steigenden Unternehmensgewinnen führte, ein Term, den Marx im dritten Band des Kapital zur Kennzeichnung eines Teils der Nettoprofite benutzt. (Shaikh definiert mit Marx den Unternehmensgewinn als Profit minus Zins.) Während sich die Profitrate als Rendite eines aktiven Investments verstehen lässt (das nicht nur durch den Verkauf von Waren und Dienstleistungen, sondern auch durch den Kredit eingeleitet werden kann), repräsentiert die Zinsrate die Rendite eines passiven Investments, sozusagen die sichere Alternative zum aktiven Investment. Bezüglich der Investitionsproblematik sollte man hinzufügen, dass für das industrielle Einzelkapital a) der Vergleich zwischen der vergangenen durchschnittlichen Profitrate und der erwarteten Profitrate wichtig ist, damit überhaupt Zusatzinvestitionen getätigt werden; b) es werden Nettoinvestitionen im Durchschnitt nur dann vorgenommen, wenn die erwartete Profitrate für neu getätigte Investitionen in den Kapitalstock höher liegt als die durchschnittliche Zinsrate am Markt. (Vgl. Shaikh 2006) Vermutet das Unternehmen, dass die künftige Profitrate nicht erheblich über der Zinsrate liegt, so werden größere Teile des Profits an den Geldmärkten angelegt. Die determinierende Größe für die Investitionstätigkeit der Unternehmen ist also letztendlich die Profitrate in ihrem Verhältnis zur Zinsrate, die anzeigt, wie viel gespart wird, d. h., wahrscheinlich auf den Geldmärkten angelegt wird. Und das auf der Ebene des Einzelkapitals. Schließlich geht Shaikh mit Marx davon aus, dass es auf der Ebene des Gesamtkapitals nicht die industrielle Akkumulation ist, die die Variation der Zinsraten bestimmt, sondern vor allem das Verhältnis von Angebot und Nachfrage nach Vermögenstiteln.

In diesem Zusammenhang hat Potts behauptet, dass spekulative Blasen sich genau dann bilden, wenn die Investitionen in finanzielle Instrumente dazu tendieren exponentiell zu steigen, während gleichzeitig ein Fall der Profitrate das produktive Investment drückt.6 Es gibt jedoch laut Shaikh zwei Fehler bei dieser Lesart: Zum Ersten ist eine negative Korrelation zwischen den Preisen für Aktienkapital und Zinsraten die Norm und kann keinesfalls eine negative Korrelation zwischen Aktienkursen und gegenwärtigen Profiten erklären. Man kann stattdessen von einer negativen Korrelation zwischen gegenwärtigen Profitraten und Zinsraten ausgehen. Zum Zweiten gibt es keine kausale Verbindung zwischen der Bewegung der gegenwärtigen Profite und der Aktienkurse, gegenwärtige Profite sind eher negativ mit der Zinsrate korreliert. Wenn Zinsraten fallen (steigen), dann tendieren die Aktienkurse dazu, zu steigen (zu fallen). Wenn gegenwärtige Profite negativ mit Zinsraten korreliert sind, dann werden sie fallen (steigen), wenn Zinsraten steigen (fallen). Da hier Aktienpreise und gegenwärtige Profite beide fallen (steigen), wenn Zinsraten steigen (fallen), sind sie positiv korreliert, aber es gibt keine Kausalität zwischen den Größen. Das Profitmotiv, das den Kapitalismus vorantreibt, ergibt also eine ganz eigene Dynamik. (Ebd.) Der Exzess der Profitrate, der diese je schon über die Zinsrate hinaus treibt, ist hierin wesentlich. Und nur in Bezug auf den Verlauf der Profitrate im langfristigen Trend sind für Shaikh strukturelle Faktoren wie die steigende Kapitalintensität aufgrund von Produktivitätssteigerungen und die Reduktion der Lohnkosten entscheidend. Dies führe dann, so die These Shaikhs, zu einem tendenziellen Abwärtstrend der allgemeinen Profitrate. (Vgl. Shaikh 1992) Aber eine stagnierende oder fallende Profitrate kann für Shaikh zumindest, was die kurzfristige oder mittelfristige Betrachtung der Kapitalakkumulation angeht, nicht allein ausschlaggebend für die Erklärung des Verlaufs eines Booms oder einer Depression sein. Dabei stützt sich Shaikhs Begründung für den längeren Boom in den USA von 1982 bis 1997 einerseits auf den durch neoliberale Strategien produzierten Rückgang der Reallöhne (entgegen der Annahme von Kliman) sowie auf den scharfen Fall der Zinsraten – Faktoren, die beide zu einer Erhöhung der Unternehmensgewinne geführt hätten. Hinzu kommt allerdings der Fall der organischen Zusammensetzung des Kapitals, vor allem für diejenige Periode, in der die neuen Mikrotechnologien den Wert des konstanten Kapitals massiv senkten. Der moderate Anstieg der Profitrate zwischen den Jahren 1982 bis 1997 ist also auch bei Shaikh längst nicht nur auf die Erhöhung der Mehrwertrate zurückzuführen, sondern auch auf den zeitweiligen Fall der organischen Zusammensetzung des Kapitals, während seiner Ansicht nach allerdings erst die niedrigen Zinsraten den flachen Boom der Netto-Profitraten und eine relativ konstante Akkumulationsrate ermöglicht hätten. Was also den Boom in den 1980er Jahren in den USA wirklich motivierte bzw. vorantrieb, ist laut Shaikh effektiv der dramatische Fall der allgemeinen Zinsrate gewesen, die von 14 % im Jahr 1981 auf über kaum 1 % im Jahr 2003 fiel. (Shaikh 2009) Und exakt dies führte zum Anstieg der Nettoprofitrate, der das kapitalistische Wachstum in den zwei Dekaden nach dem Jahr 1982 wesentlich beschleunigte. (Ebd.) Zugleich begünstigten die fallenden Zinsraten u. a. den Anstieg der schuldenfinanzierten Ausgaben der privaten Haushalte, womit das industrielle Wachstum mit den Aufwärtsbewegungen bzw. Blasenbildungen an den Immobilien- und Finanzmärkten parallel lief. Die Zinsraten fielen aber auch in anderen Teilen der Welt, manchmal sogar schneller als in den USA, und dies führte wiederum zu einem internationalen Boom der industriellen Akkumulation und der Finanzialisierung, vor allem in den sog. Schwellenländern. Es war also der Fall der Zinsraten, der u. a. ganz wesentlich für den Anstieg der privaten Verschuldung verantwortlich zeichnete, ohne dabei zumindest phasenweise die Schuldenrückzahlungen der Lohnabhängigen drastisch zu erhöhen.

Wenn, wie wir zu Anfang des Kapitels anhand der Ausführungen von Stamatis gesehen haben, die Akkumulationsrate aus strukturellen Gründen sinkt, die Wachstumsrate der Produktionsmittelproduktion hinter der allgemeinen Wachstumsrate der Produktivität zurückbleibt, so kann deswegen bei u. U. konstanter Profitrate die Wachstumsrate einer wie immer gearteten Surplusproduktion ansteigen. (Aufgrund des höheren Zuwachses der Produktivität gegenüber dem Anstieg der Kapitalintensität steigt zwar die Wachstumsrate der technischen Zusammensetzung, aber eben nicht im gleichen Maß wie die Produktivitätsrate, womit die Akkumulationsrate tendenziell fällt.) Es wäre z. B. denkbar, dass aufgrund einer Steigerung der Profitmassen ein Wachstum der Gesamtkapitalakkumulation qua reiner Anhäufung und Verwertung von Geldkapital stattfindet, das weder von der Lohngüter- noch der Produktionsmittelproduktion absorbiert wird.7

Marazzi geht in leichter Abweichung zu Stamatis davon aus, dass aufgrund der Überakkumulation von Kapital (und tendenziell fallenden Profitraten) in den westlichen Industrieländern seit den 1970er Jahren Geldkapital bzw. fiktives Kapital stetig und verstärkt vom industriellen Sektor in den Finanzsektor geflossen sei. (Vgl. Marazzi 2011: 30f.) Trotz der leicht steigenden Profitraten in den industriellen Sektoren ungefähr ab den 1980er Jahren sei es für das industrielle Kapital nach wie vor unattraktiv gewesen, in Geldform realisiertes Kapital in Erweiterungsinvestitionen anzulegen, stattdessen hätten die Einzelkapitale weiterhin verstärkt an den Finanzmärkten nach neuen Anlagemöglichkeiten gesucht, eine sog. Ausweichbewegung, die gerade durch die keynesianische Politik des deficit spending in den 1960er Jahren eingeleitet worden sei, und dies auf zweierlei Weise: Zum einen wurden durch das staatliche deficit spending die Entwertungen im industriellen Sektor aufgeschoben (und damit Neuinvestitionen verhindert), zum anderen konnten sich die Geschäftsbanken zunehmend günstiger bei den nationalen Notenbanken refinanzieren, sodass die Expansion fiktiven Kapitals in allen Dimensionen angeschoben wurde. Ausweichbewegungen des industriellen Kapitals an die Finanzmärkte waren im Kapitalismus bis dahin eher kurzfristiger Natur gewesen und wurden meistens durch die Entwertungsprozesse des Kapitals im industriellen Sektor gestoppt. (Lohoff/Trenkle 2012: 217) Die von Shaikh angesprochene Tendenz, dass während eines langen Booms die Investitionsrate langsamer als die Profitrate fallen kann, mit dem Resultat, dass die absolute Masse des Profits kontinuierlich weiter ansteigt, sodass wir es mit einer kurzfristig steigenden Profitrate (die tendenziell weiterhin fällt) in Bezug auf die neuesten Investitionen des Kapitals zu tun haben, findet hier gerade aufgrund aufgeschobener Entwertungsprozesse nicht mehr in ausreichendem Maße statt, sodass schließlich Investitionsrate und Akkumulationsrate hinter der Entwicklung der Profitrate zurückbleiben. Die oben angesprochenen strukturellen Gründe für das Sinken der Akkumulationsrate, wie sie von Stamatis entwickelt wurden, stehen also durchaus in einem synchronen Verhältnis zu Faktoren wie dem staatlichen deficit spending, das den Fluss der industriellen Akkumulation ab einem gewissen Zeitpunkt eher behinderte als förderte. Und daran anschließend lässt sich sagen, dass in den neuen Finanzialisierungsregimen Geld- und Zeitverhältnisse derart produktiv werden, dass die Wertschöpfung qua Beleihung und Bewertung der Zukunft selbst zum wichtigsten geschäftlichen Modus wird, der von nun an die relative Selbständigkeit des finanziellen Kapitals auszeichnet, das mit seinem scheinbar schier unendlichen Potenzial hauptsächlich die eigenen Sektoren, aber auch die industriellen Branchen mit Zahlungsmitteln und Finanzinstrumenten auf Schuldenbasis versorgt, womit vor allem die Akkumulation des Geldkapitals ständig angeschoben wird, was eben die relative Autonomie des finanziellen Kapitals bedeutet. Man sollte daher das neue Finanzialisierungsregime als ein sich selbst verzeitlichendes System verstehen, indem es im Wesentlichen die Gesamtkapitalakkumulation nicht nur modifiziert, sondern auch steuert und reguliert. Das Finanzialisierungsregime und seine Dispositive stellen damit eine »systemische« Funktion und Operation schlechthin dar.8

Marazzi verfolgt gegenüber den diversen hier nur kurz rezipierten marxistischen Positionen wie bspw. denen von Husson einen differenten theoretischen Ansatz, er betont zwar auch das Auseinanderklaffen von Profitrate und Akkumulationsrate seit den 1980er Jahren, aber eben mit einigen wichtigen Verschiebungen in der Argumentation. Zunächst argumentiert er auf empirischer Basis und konstatiert seit den 1980er Jahren einen moderaten Anstieg der Profitraten im globalen Maßstab (und in weitaus geringerem Maß auch der Akkumulationsraten), und dies vor allem in den sog. Schwellenländern, die mit ihrer wirtschaftlichen Dynamik die Stagnation der Profitraten in den hochindustrialisierten Ländern auf transnationaler Ebene kompensierten. (Marazzi 2011: 85ff.) Dafür seien teilweise die Finanzierungsstrategien der transnationalen Konzerne verantwortlich gewesen, die dann jedoch ihre Profite, die z. T. aus den Direktinvestitionen in den Schwellenländern stammten, immer stärker den internationalen Finanzmärkten zuführten. Hinsichtlich der Finanzialisierung handelt es sich für Marazzi um einen Prozess, bei dem die Wiederherstellung sowie die Steigerung mittelfristig gesunkener Profitraten im Vordergrund steht, und zwar mittels eines finanziellen Dispositivs, das sich nur noch indirekt auf industrielle Produktionsprozesse bezieht. Es geht Marazzi hinsichtlich der Beschreibung des neuen neoliberalen Finanzialisierungsregimes nicht darum, etwa mit Hilferding eine zunehmende Abhängigkeit oder gar Verschmelzung des industriellen Kapitals mit dem finanziellen Kapital im Zuge einer allgemeinen Monopolisierung der kapitalistischen Wirtschaft nachzuweisen, vielmehr gilt es hier eine massive Ausdifferenzierung zwischen Geldkapital und fungierendem Kapital zu konstatieren, wobei das Letztere zunehmend zu einer abhängigen Variablen des Geldkapitals gerinnt, dessen finanzwirtschaftliches Regime seit Mitte der 1980er Jahre mehr und mehr Ton und Takt auf globaler Ebene angibt. Gleichzeitig kann man jedoch aufgrund des hohen Anteils der Selbstfinanzierung der großen industriellen Konzerne eine Stagnation der Emission von neuen Wertpapieren feststellen, d. h., die Ausgabe von neuen Aktien verliert an Gewicht wie auch die Neugründungen von Aktiengesellschaften zurückgehen. (Ebd.: 31) Es scheint ab den 1980er Jahren u. a. der sog. Shareholder Value der großen Aktienunternehmen mit dafür verantwortlich zu sein – u. a. Transfer von Mehrwert in Zins und Dividenden –, dass eine Tendenz zur Stärkung des finanziellen Kapitals befördert und zugleich das Auseinanderdriften von Profit- und (industriellen) Akkumulationsraten forciert wird. (Ebd.: 33f.) Die Externalisierung ganzer Produktionsbereiche, die Verlagerung von Unternehmen oder Unternehmensteilen aus den hochindustrialisierten Ländern in die sog. Schwellenländer und Peripherien, begleiten in jener Zeit die Tendenz einer steigenden Externalisierung der Mehrwertproduktion (in den Metropolen), die nun endgültig den unmittelbaren Produktionsprozess verlässt. Dies führt einerseits zu einer Masse von Konsumenten, die man bis heute Tag für Tag zur Verrichtung unbezahlter Dienste in informationellen Sektoren wie dem Internet stimuliert, andererseits in zunehmendem Maß zu Strategien der Effizienzsteigerung im Rahmen der außerbetrieblichen Organisation, bspw. durch Crowdsourcing; diese Prozesse der »Entmaterialisierung« (Verfahren, die hauptsächlich auf Sprache, Kommunikation und Mobilität beruhen) begleiten die Prozesse der Finanzialisierung selbst. Und nicht zuletzt sind es die großen Nicht-Finanzunternehmen gewesen, die seit den 1970er Jahren ihre Spekulationstätigkeit an den Finanzmärkten drastisch steigerten und damit graduell höhere Renditen aus Finanz- Versicherungs- und Immobiliengeschäften erzielten, als dies mit Investitionen in die industrielle Produktion je möglich gewesen wäre, damit aber auch ihre Abhängigkeit vom finanziellen Kapital ständig erhöhten. Marazzi schreibt: »Die Finanzialisierung ist die Kehrseite der Entmaterialisierung des fixen Kapitals und der gestiegenen Bedeutung der Wissensarbeit, wie sie den neuen Kapitalismus charakterisieren. Die Freisetzung enormer Mengen Liquidität, Folge der neuen Leichtigkeit der Maschinerie ebenso wie des sinkenden Preises der neuen Technologien, wird für das Kapital zum Ausgangspunkt, um im Rekurs auf die Finanzmärkte der fallenden Profitrate die Stirn zu bieten und der Aktienentwicklung den Vorzug vor der Entwicklung der Produktion zu geben oder vielmehr: die Finanzialisierung als ein Dispositiv zu nutzen, um die Seele des Arbeiters zu mobilisieren.« (Marazzi 2012: 57) Für Marazzi führten einerseits der Sachverhalt der Überakkumulation des Kapitals im industriellen Sektor ab den 1970er Jahren, andererseits die sinkenden Preise für Mikrotechnologien, mit denen nun Prozesse außerhalb der Fabrik kapitalisiert werden können, zu einem steigenden Fluss der nichtakkumulierten Geldvermögen in den Finanzsektor. (Marazzi 2011: 32) Der zweite Aspekt korrespondiert mit der oben vorgetragenen These einer gegenüber der organischen Zusammensetzung des Kapitals höheren Produktivitätsentwicklung, die zu einem Aufschub von industriellen Entwertungsprozessen führt, was gleichzeitig den Zustrom von Geldkapital in den finanziellen Sektor begünstigt. Dabei stellt das Auseinanderlaufen von Profitrate (in Preisen ausgedrückt durch die Parameter Kapitalrentabilität mit den Komponenten Kapitalintensität, Produktivität und Lohnquote) und Akkumulationsrate (das Verhältnis von Investition und Kapitalstock bzw. Wachstumsrate des Nettokapitalvolumens) einen wichtigen Indikator für die steigende Finanzialisierung dar, und das will heißen, dass der Anteil des industriellen Gewinns, der nicht mehr in die Investition neuer Produktionsmittel fließt, zu einer wichtigen Quelle der spekulativen Geschäfte wird. Diese Entwicklung wurde ab den 1970er Jahren von der einsetzenden Ausweitung der Gewinne/Lizenzen aus Direktinvestitionen, der Extragewinne aus Rohstoffgeschäften und der Expansion der Finanzinvestitionen aus den Töpfen der Pensionsfonds und Investmentfonds begleitet. (Ebd.: 30ff.) Die Zinserträge aus internationalen Kreditgeschäften, die akkumulierten Vermögen der sog. High Net Worth Individuals sowie die transversalen Kapitalflüsse der internationalen Konzerne bildeten weitere wichtige Quellen der Finanzialisierung. Schließlich sieht Marazzi in der Finanzialisierung diejenige Form der Geldkapitalakkumulation, die den neuen »leichten« Produktions- und Wertschöpfungsprozessen des globalisierten Kapitalismus vollkommen entspricht. (Ebd.: 45ff.) Somit wird der Gesamtumfang der Akkumulation weniger von der direkten Extraktion des Mehrwerts im industriellen Sektor, sondern von der Expansion des Geldkapitals oder, wie Marazzi das bezeichnet, von der Erzielung von Renten (Profit wird zur Rente) abhängig. Der Erfolg der Gesamtkapitalakkumulation hängt natürlich auch von dem in die »Realwirtschaft« eingeschleusten fiktiven und spekulativen Kapital ab, das dort Dynamik und Wachstumsprozesse steuert, womit die Fließrichtung der Geldkapitalströme von nun an überproportional vom Finanzsektor in die sog. Realwirtschaft erfolgt. »Der zur Realisierung älterer Eigentumstitel abgezogene monetäre Reichtum steht in keinem Verhältnis zu dem Gesamtvolumen zugeflossenen Geldkapitals«, konstatieren Lohoff/Trenkle. (Lohoff/Trenkle 2012: 232) Marazzi geht noch einen Schritt weiter und spricht in seinem Buch Verbranntes Geld ausdrücklich von einer qualitativ neuen Wesensgleichheit von Finanz- und Realökonomie, von der vollständigen Durchdringung sämtlicher Reproduktionsketten des Kapitals durch die Finanzökonomie.9 Finanzialisierung erweise sich somit als die Kehrseite der Externalisierung der Wertproduktion, die mit einem Bedeutungs- und Wertverlust der klassischen Produktionsmittel (Maschinen, fixes Kapital) sowie der Aufwertung des Wissens, der Sprache und der Invention einhergehe. Sie schaffe generell die effektive Nachfrage, die notwendig sei, um Profite zu realisieren, sie führe zum Rente-Werden des Profits und zur Verschuldung zugleich. (Marazzi 2011: 45ff.) Nun inkludiere das Rente-Werden des Profits aber nicht – weder logisch noch politisch –, dass das Finanzkapital vollkommen parasitär geworden sei, sondern verweise auf eine vollkommen neue Konfiguration der gegenwärtigen Formen der Kapitalisierung, der Regulierung der Kapitalströme durch das finanzielle neoliberale Regime, der Valorisierung des Wissens, des Lebens und der Sprache. (Selbst die vorgefundene Naturresource Boden mutiert im Kapitalismus zu einer Ware, die eine preisliche Eigenbewegung vollzieht.) Dabei lassen die umfassenden Formen der Finanzialisierung jede Unterscheidung zwischen produktiv produzierenden und unproduktiven immateriellen Sektoren nutzlos werden, vor allem auch in Hinsicht auf eine wie auch immer geartete »grüne« Reindustrialisierung. Marazzi fasst den Prozess der Finanzialisierung folgendermaßen zusammen: »Um der Sackgasse zu entkommen und die Krise des Finanzkapitalismus kritisch untersuchen zu können, scheint es angebracht, ganz von vorne anzufangen und die Ausgangssituation der Finanzialisierung zu analysieren, den Punkt, an dem die Profite begannen, ohne Akkumulation anzuwachsen. Es ist mit anderen Worten notwendig, die Finanzialisierung als die Kehrseite einer Entwicklung der Produktionsweise zu begreifen, deren Durchsetzung in der Krise des Fordismus ihren Anfang nimmt, in einer Situation also, in der das Kapital nicht mehr in der Lage ist, der lebendigen Arbeit, der Lohnarbeit in der Fabrik, unmittelbar Mehrwert abzupressen. Die These, die hier entwickelt werden soll, lautet also: Die Finanzialisierung ist kein unproduktiver und/oder parasitärer Umweg zu wachsenden Anteilen des Mehrwerts und der kollektiven Rücklagen, sondern vielmehr die Form der Akkumulation des Kapitals, die den neuen Produktions- und Wertschöpfungsprozessen entspricht. Die aktuelle Finanzkrise ist insofern nicht so sehr die Implosion eines ausbleibenden Akkumulationsprozesses, sondern vielmehr als ein Infarkt der Kapitalakkumulation zu interpretieren.« (Marazzi 2011: 49) Ein Infarkt, so sollte man hinzufügen, der heute längst mit heftigen Vertrauenskrisen an den Finanzmärkten einhergeht, die selbst den Handel mit Risiken phasenweise erlahmen lassen (Stagnation des Interbankenhandels, der als der Kreuzpunkt der kurzfristigen Kreditgeschäfte an den Geldmärkten zu gelten hat). Im Gegensatz zu Autoren wie Kroker oder Baudrillard geht aber Marazzi davon aus, dass die neue finanzielle Transökonomie sich gegenüber der Realökonomie nicht gänzlich entflochten hat, um jetzt vielleicht als Satellitenmasse auf ganz eigenen Umlaufbahnen über der globalen Ökonomie zu kreisen. Wir hätten es im Gegenteil mit neuen Verflechtungen der beiden Ökonomien zu tun. Damit ist allerdings auch die traditionell-marxistische Annahme, dass die Finanzialisierung als eine vollkommen unproduktive »Governance of externalities« vonstatten geht, vollkommen irrig, vielmehr sollte man laut Marazzi die Finanzialisierung als die spezifische Form der Kapitalakkumulation im Rahmen einer neuen kognitiv orientierten Wertproduktion begreifen, die durch ein gouvernementales Regime gestützt wird, welches wiederum an das Dispositiv eines Econotainments angekoppelt ist, das Finanzindustrie und Kulturindustrie kurzschließt, um sich als unabdingbare Wahrheit zu setzen.

Vor allem traditionelle marxistische Positionen fokussieren nach wie vor auf die Trennung zwischen finanzieller und »realer« Ökonomie und bestimmen folgerichtig die heutigen Krisenprozesse vor allem als industrielle Überproduktionskrise und/oder Unterkonsumtionskrise (wahlweise im Rahmen der sog. Profit Squeeze Theorie). Andere etwas originellere Lesarten stellen die massive Verschuldung der Lohnabhängigen, insbesondere in den USA, ins Zentrum ihrer Überlegungen, wobei man die Lohnabhängigen nicht nur als Schuldner, sondern auch als Sparer (u. a. mithilfe der Pensionsfonds) zunehmend in das Finanzsystem integriert/involviert sieht, sodass die massiven Zuflüsse von Geld in das Finanzsystem u. a. auch auf die gestiegenen Löhne während der fordistischen Phase des Kapitalismus zurückzuführen wären, in der es Teilen von Lohnabhängigen erstmals ermöglicht wurde, in größerem Umfang Ersparnisse zu bilden. Selbst die zunehmende Prekarisierung und die permanent drohende Arbeitslosigkeit dürfte man dann getrost noch als eine Triebfeder zur Bildung von Ersparnissen bezeichnen, zumal die neoliberalen Politikstrategien und Regierungstechniken schon seit Jahren die Privatisierung der sozialen Sicherung vorantreiben. Deshalb könnte man durchaus von einer allgegenwärtigen, einer zunehmend intensiveren ökonomischen, sozialen und politischen Unterwerfung der Lohnabhängigen unter das neue Finanzialisierungsregime sprechen, das die Individuen rein als Variablen betrachtet, die einerseits immer stärker durch zunehmende Verschuldung definiert sind, andererseits durch die Umleitung von Lohnbestandteilen an die Finanzmärkte bzw. der Umwandlung von Lohn in zinstragendes, fiktives und derivatives Kapital in das finanzielle System integriert werden.

Im Großen und Ganzen sollte man mit Marazzi auch an dieser Stelle eine durchdringende Dynamik zwischen Finanzökonomie und sog. Realwirtschaft im Rahmen eines erneuerten kognitiven Kapitalismus konstatieren, der durch die Dominanz des finanziellen Kapitals gekennzeichnet ist, die eben mit einer Transformation der Valorisation selbst einhergeht, der Verschiebung der Akkumulation von der Produktion in die Sphäre der Distribution, des Tauschs und der Reproduktion. Die Kodifizierung der affektiven, kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten, die man unaufhörlich in ein neues fixes Kapital transformiert, das Faktum der Nichtunterscheidbarkeit von industriellen und finanziellen Profiten in den Konzernen, die Übersetzung des täglichen Lebens in finanzielle Vermittlungen und Prozeduren sowie die Valorisierung des Profits als Rente qua kognitiver Maschinen (Monopolisierung der Eigentumsrechte durch künstliche und rechtliche Verknappung) etc. – all das sind Ressourcen der Finanzialisierung. (Ebd.: 51) Letztendlich bedeutet für Marazzi Finanzialisierung so etwas wie die allumfassende Bewegung einer kapitalistischen Megamaschine, um schließlich den Mehrwert, als dessen Quelle Marazzi allerdings nach wie vor einzig und allein die lebendige Arbeitskraft begreift, immer stärker außerhalb der unmittelbaren Produktion zu extrahieren, wobei die kognitive Arbeit Teil und Ausdruck einer neuen Zusammensetzung des Arbeitskörpers wird. Allerdings vernachlässigt Marazzi an dieser Stelle das schlichte Faktum, dass man heute Wissen, Affekte und Intuition auf allen Ebenen durch Software nachbildet. Statistik, Optimierungs- und Wahrscheinlichkeitsrechnung substituieren zunehmend die oft eher unscharf begründeten Entscheidungsprozesse humaner Aktanten. Durch Horiziontalisierung der betrieblichen Prozesse bzw. durch Reduktion der Fertigungstiefen – vor allem innerhalb der IT- und Telekommunikationsindustrie – entstehen heute fabriklose Unternehmen, die sich mittels Strategien der Verknappung (Patente und Copyright) die Kontrolle über Innovation, Produktdesign und Marketing sichern, um ganze Wertschöpfungsketten zu dominieren. Schließlich geht es hier nicht mehr um eine Realisierung von Mehrwert, sondern um das Rente-Werden des Profits (Informationsrente). (Lohoff/Trenkle 2012: 245) Gleichzeitig gilt nach wie vor Folgendes: Der Begriff der Kapitalakkumulation inkludiert sui generis Wachstum – Ausdehnung der Produktionskapazitäten durch Investitionen plus die Ausweitung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse qua eines Spatio-terminal-fix-Verhältnisses (David Harvey) – überschüssiges Kapital erschließt hier neue Absatzmärkte durch raum-zeitliche Verlagerung und führt gleichzeitig zur Integration nicht-warenförmiger Tätigkeiten in die Sphäre der kapitalistischen Verwertung (Hausarbeit, Patentierung intellektueller Eigentumsrechte sowie weltweite Enteignungsprozesse und Landraub im Rahmen der Globalisierung). Selbst die Lebenszeit und deren soziale Relationen gerinnen tendenziell zu einem Teil der Arbeitszeit oder bilden zumindest eine konstitutive Bedingung für die Arbeitszeit, und dies wiederum in Begleitung der Ko-Kreation von Wert in Prozessen der »Open Innovation« und des Crowdsourcing. (Marazzi 2011: 53) Die Integration des sog. Users in Innovations- und Inventionsprozesse, mit denen man versucht, Konsumenten als freiwillig und kostenlos agierende Ko-Produzenten für das Produkt zu gewinnen, das sie dann selbst konsumieren – auch das sind Strategien eines wissens- und servicebasierten Kapitalismus auf Grundlage digitaler Technologien und flexibler globaler Netzwerke. Und auf der Seite des finanzialisierten Kapitals beinhalten Prozesse wie das sog. Overtrading die Realisierung virtueller Einkommen, noch bevor sie als reale Einkommen überhaupt produziert worden sind. (Ebd.: 74) Mit den Ketten der Verbriefungen werden verstärkt virtuelle Einkommen geschaffen, deren wirkliche Realisierung in naher Zukunft nicht stattfindet oder vielleicht niemals stattfinden wird. Unter dem zeitlichen Aspekt hat man dann Elena Esposito zufolge Zukunft schon in der Gegenwart genutzt und damit virtuelle Einkommen im Jetzt geschaffen bzw. künftige Einkommen in gegenwärtige Verfügbarkeiten übersetzt. Zu fragen bleibt allerdings weiterhin, wie diese Beleihung der Zukunft durch eine entsprechende Verwertung in Zukunft in Wert gesetzt und damit auch gedeckt werden kann oder ob sie überhaupt gedeckt werden muss. Wird der gegenwärtige Kapitalismus diese beliehene Zeit tatsächlich wieder einholen müssen?

Einen weiteren Punkt sollt man hinsichtlich der neoliberalen Finanzialisierungsstrategien noch hinzufügen: Hedgefonds kaufen sog. Equity-Unternehmen vielfach auf Kredit, um diese, nachdem man sie mit dem aufgenommenen Kredit belastet und fachgerecht zergliedert hat, an die Börse zu führen, mit dem Ziel einen hohen Wertpapiererlös einzustreichen und sich dann dem nächsten Geschäft derselben Art zuzuwenden. Es kommt damit zur Desintegration von Unternehmen, zur Fragmentierung und dem Split von Wertschöpfungsketten, wobei gleichzeitig die Reduktion der Bedeutung des fixen Kapitals auf der Ebene des Einzelkapitals weiter vorangetrieben wird, indem man die Bedienung der maschinellen Kapazitäten teilweise auf externe Kapazitäten abschiebt oder das fixe Kapital einfach least. (Vgl. Rifkin 2000: 59) Mit der schwindenden Bedeutung des fixen Kapitals sowohl im physisch-materiellen als auch im ökonomischen Sinn, da Unternehmen sich eine große Anzahl von Produktionsmitteln eben nur noch leihen, kann allerdings auch wieder eine stärkere Bedeutung des fixen Kapitals auf der Ebene des (ideellen) Gesamtkapitals einhergehen, wenn das fixe Kapital, das in seiner physischen Form für längere Perioden im Produktionsprozess gebunden bleibt, bei großen staatlichen Infrastrukturprojekten die Funktion besitzt, die Umschichtung von überakkumuliertem privatem Kapital voranzutreiben, womit zukünftige Kapitalakkumulation erst in Gang gesetzt wird und darauf basierende Steuereinnahmen die Staatsschulden eben langfristig auch verringern können.10

1Husson zitiert n. Marazzi 2011: 30.

2Gleichzeitig wäre noch auf Folgendes hinzuweisen: Stoßen die Methoden der relativen Mehrwertproduktion qua technologischem Fortschritt sowie die damit u. U. steigende organische Zusammensetzung des Kapitals an Grenzen, dann muss wieder auf Methoden der absoluten Mehrwertproduktion (Verlängerung der Arbeitszeit, Erhöhung der Arbeitsintensität, Senkung der Lohnnebenkosten etc.) zurückgegriffen werden, Parameter, die Marx als entgegenwirkende Faktoren zum tendenziellen Fall der Profitrate beschreibt, die in ihrer Negativität eine Tendenz begleiten, wobei der Term Tendenz die Akkumulationsdynamik in ihrer Abhängigkeit von der Struktur bezeichnet. Tatsächlich kann die seit Mitte der 1980er Jahre empirisch feststellbare moderate Steigerung der Profitabilität des Kapitals nicht alleine auf eine Erhöhung der Produktivität, sondern muss auch auf Faktoren wie Ausdehnung der Maschinenlaufzeiten, Verhinderung von Lohnzuwächsen und Steigerung der Umschlagsgeschwindigkeit des Kapitals zurückgeführt werden. Darüber hinaus sind neue Enteignungsformen bzw. die Privatisierung von öffentlichen Gütern zu berücksichtigen, staatliche Umverteilungspolitiken, die nur an politische Grenzen der Durchsetzbarkeit stoßen. Marx erwähnt als Gegenwirkung gegen das Gesetz des tendenziellen Falls der allgemeinen Profitrate im Übrigen auch die Zunahme des Aktienkapitals im 19. Jahrhundert. Der sog. Leverage Effekt bestand im 19. Jahrhundert im Gegensatz zu demjenigen in der Phase finanzialisierter Akkumulationsregime darin, dass durch Verschuldung und Fremdkapitalaufnahme vor allem die Hebelwirkung des Eigenkapitals erhöht wurde, wobei mit der Gründung von Aktiengesellschaften auch verstärkt Geldkapital an die Börse floss, das sich dort mit Zinsraten begnügte, die niedriger als die industriellen Profitraten waren.

4 Vgl. Andrew Kliman: http://akliman.squarespace.com/

5 Anwar Shaikh zitiert n. International Socialism. Marxist accounts of the current crisis. In: http://www.isj.org.uk/?id=557

7 Für eine strukturelle Akkumulationsschwäche des industriellen Kapitals, welche die sog. Finanzialisierung vorantreibt, sprechen zunächst Indikatoren wie die Kapitalproduktivität (real output/capital ratio), die laut Marazzi in der USA seit 1965 von 1,64 auf 0,81 im Jahr 2007 fiel. Diesen Faktor müsste man allerdings zur Kapitalintensität in Beziehung setzen, um wirkliche Aufschlüsse über den Verlauf der Akkumulationsrate zu bekommen. Marazzi bemerkt, dass in den USA der Anteil der industriellen Profite am Gesamtergebnis aller Unternehmen in den 1970er Jahren von 24 % auf 17 % gefallen ist und danach die 15 % Marke nie mehr überschritten hat. Gleichzeitig ist der Anteil der Profite der Kapitalgesellschaften des Finanzsektors an den Profiten aller Kapitalgesellschaften (in den USA) zwischen den Jahren 1947 und 2010 von 8 % auf 35 % gestiegen. (Marazzi: 2011: 32)

8Für den französischen Ökonomen Aglietta stellen »die Vorherrschaft der Konkurrenz, die Unternehmenskontrolle durch die institutionellen Anleger, das bestimmende Kriterium des Profits und die Kapitalisierung an der Börse« wesentliche Kennzeichen des neuen Akkumulationsregimes dar. (Vgl. Aglietta 2000)

9Das Beispiel des ubiquitären Zahlens mit Kreditkarte, das Marazzi erwähnt, um die totale Involviertheit aller Akteure in die Dispositive des Finanzsektors zu veranschaulichen, zeigt darüber hinaus, dass die Kontrolle der Kreditwürdigkeit des Individuums heute durch eine digitale Lesetechnik, eine binäre Maschinensprache, geleistet wird, welche die universelle Austauschbarkeit der Waren, Informationen und Dienstleistungen garantiert.

10Mit den Analysen des neokeynesianischen Ökonomen Minsky (Vgl. Minsky 2011) könnte man zeigen, dass neben der Existenz von Spekulationsblasen an den Finanzmärkten (Phasen der Euphorie inkludieren Phasen radikaler Nachahmung und der Hyperspekulation, darauf Panikphasen, Konsolidierungsphasen und Phasen der Neuordnung, siehe Kindleberger 1978) unbedingt weitere Faktoren hinzutreten müssen, damit Krisenprozesse auf der Ebene des Gesamtkapitals ausgelöst werden, die nicht nur die Schulden- und Kreditökonomie, sondern die je schon unsicheren Stabilitätsbedingungen der kapitalistischen Ökonomie insgesamt beeinträchtigen, stören und hemmen, und dies ganz entgegen der Annahmen der neoklassischen Ökonomen, denen zufolge vor allem das Spiel von Angebot und Nachfrage an den Märkten die zur Bildung von Gleichgewichten notwendigen Preissignale setzt und steuert oder etwa über kybernetische Feedbackschleifen sich selbst organisierende Systeme dem optimalen Gleichgewichtszustand zustreben. So lässt sich der Zyklus der erweiterten Reproduktion des Kapitals nach Minsky folgendermaßen darstellen: In stabilen Produktionsperioden, die positive Langzeiterwartungen der Unternehmen inkludieren, steigt sowohl deren Finanzierungsnachfrage nach Fremdkapital als auch deren Investitionsvolumen, und dies bis zu jenem Punkt, an dem die Unternehmen ihre Risikoscheu vollkommen ablegen und zugleich ihre Bereitschaft steigt, immer neue Schulden aufzunehmen, wobei die in den Unternehmen abgeschöpften Gewinne, die aus Neuinvestitionen resultieren, weniger der Kredittilgung, sondern vor allem der Reinvestition dienen, und u. U. werden fällige Kredite sogar mit neuen Kreditaufnahmen finanziert. Auch die schleichende Verschiebung des Schwankungszentrums der Marktpreise bzw. die Zeitdauer, innerhalb derer sich diese Prozesse durchsetzen (die Dauer eines Konjunkturzyklus, der selbst zu einer allgemeinen Bestimmungsgröße der Beziehung zwischen Produktionspreisen und Marktpreisen wird), ist Teil des sog. Aufschwungs, wobei es in sämtlichen Produktionssektoren zu einer Verschiebung des Gravitationszentrums der Marktpreisbewegung kommt, bis dieses Gravitationszentrum schließlich auch die Angebotspreise bestimmt, mit denen die Einzelkapitale zueinander in Konkurrenz treten. Es ist der Komplex aus zahlungsfähiger Nachfrage, Preiselastizität und Fremdfinanzierungspotenzial, der die Profitraten und -massen definiert und der über die Kapazitätsauslastung und Investition in den diversen Branchen sowie den einzelnen Unternehmen entscheidet, wobei im Laufe des Booms die Kostpreise aufgrund von Faktoren wie steigende Löhne, erhöhte Preise für Rohstoffe sowie wachsende Zinssätze deutlich anschwellen können. (Sraffa hat in diesem Zusammenhang auf das Problem hingewiesen, dass man Profitraten benötigt, um die Preise zu bestimmen, und umgekehrt wiederum Preise, um die Profitraten festzulegen, ein Problem, das sich bei Marx neu stellt.)

Im Boom kreieren Banken, Hedgefonds und andere Finanzinstitutionen ständig neue Finanzinstrumente bzw. synthetische Wertpapiere, während zugleich die Verschuldung der Unternehmen wächst, aber auch im schon eskalierenden Aufschwung führen höhere Investitionen immer noch zu steigenden Gewinnen, die freilich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr ausreichen, um den fälligen Teil der Gesamtschuld des Unternehmens abzutragen. Und schließlich wächst die effektive Geldmenge an, während die steigenden Preise des fiktiven und spekulativen Kapitals die Nachfrage nach Wertpapieranlagen weiter erhöhen, die von den Banken auch bedient wird, womit das Geldangebot weiter wächst und der Schuldenumlauf anschwellt, was den Versuch der Unternehmen, Schulden durch riskante Investitionen auszugleichen, immer noch weiter anheizt und den Anstieg der Fremdfinanzierung der Unternehmen forciert. Ab einem gewissen Zeitpunkt stellt die Refinanzierung der Unternehmen tatsächlich ein Problem dar, denn das kybernetische Feedbacksystem der Ökonomie bleibt trotz des hohen Wachstums der Fremdfinanzierung in den Unternehmen extrem euphorisiert, bis zu eben zu jenem kritischen Punkt, den Minsky als Ponzi-Moment definiert hat, an dem jede weitere Kreditaufnahme eines Unternehmens mit derart hohen Zinszahlungen belastet wird, dass diese aus den Cash-Flow-Gewinnen des Unternehmens nicht mehr bedient werden können, so dass es schließlich zum Verkauf von Vermögenswerten kommt oder neues Fremdkapital aufgenommen werden muss, um rein die Schulden zu bedienen, womit man weitere kaskadenartige Verflechtungen von Verschuldungsketten in Gang setzt. So erscheint die Relation von (erwarteten) Renditen und terminierten Kreditverpflichtungen ab einem bestimmten Punkt wesentlich prekär; sie erfordert entweder die Aufnahme neuer Kredite oder den weiteren Verkauf von Vermögenswerten, weil auch die Banken ihre Liquidität ständig verringern, u. a. wegen der fallenden Preise von Wertpapieren plus der steigenden Kosten ihrer eigenen Fremdfinanzierung. Zwar können Zentralbanken die instabilen & ungleichgewichtigen Märkte weiterhin mit neuer Liquidität versorgen, aber aufgrund der generell begrenzten Wirkung ihrer Geldpolitik kann Minsky zufolge nur noch über das staatliche deficit spending eine Unterstützung und Stabilisierung der effektive Nachfrage erfolgen, was wiederum auch die Unternehmenssituationen entscheidend verbessert. Es ist der »plötzliche Zusammenbruch der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals« (Keynes), der zu einem Stau der Kapitalakkumulation führt, und dies umso mehr, als es in der Boomphase durch die exorbitante Steigerung der Spekulationsgeschäfte und der Fremdfinanzierung zu einer künstlich Aufheizung des Wirtschaftswachstums gekommen ist, während im Abschwung dann massive Kapitalentwertungen anstehen, welche vor allem die Umschlagszeiten von Unternehmen mit sog. produktivitätssensiblen Bestandteilen des fixen Kapitals stark beeinflussen, aber gleichzeitig auch die neuen und wichtigen Rationalisierungsprozesse des gesamtwirtschaftlichen Produktionsapparates vorbereiten. Neuralgische Punkte der Theorie Minskys betreffen u. a. die vage Bestimmung des Verhältnisses von Eigen- und Fremdfinanzierung, die starke Konzentration Minskys auf Sachinvestitionen sowie die von ihm unbeachtete, seit den 1990er Jahren jedoch zunehmend stärker realisierte Möglichkeit des Kapitals, die Abhängigkeit der effektiven Nachfrage von Investitionen und dem staatlichen deficit spending durch die Ausweitung des Konsumentenkredites zu umgehen. Letztendlich stellen Minskys unbändiger Glaube an die finanzielle Souveränität des Staates sowie der Verzicht, die Einbindung des Geldkapitals in die strukturelle Bewegung der differenziellen Kapitalakkumulation stärker zu untersuchen, weitere Probleme für diesen Theorieansatz dar.

Foto: Bernhard Weber

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