Die Welt als Vernichtungslager

Eine kritische Theorie der Moderne im Anschluss an Günther Anders, Hannah Arendt und Hans Jonas

Inspiriert von Günther Anders’ Diktum, die Atombombe verwandele die Welt in ein ausfluchtloses Konzentrationslager, entwickelt Christian Dries im Rekurs auf Anders, Hannah Arendt und Hans Jonas eine kritisch-philosophische Theorie der Moderne und bringt diese Modernisierungsphilosophie mit der soziologischen Modernisierungstheorie ins Gespräch.

Im Zentrum seiner Studie steht das sogenannte »Pandynatos-Prinzip« der Moderne. Es bezeichnet die idée fixe des Homo faber, dass schlechterdings alles möglich sei und dass, was möglich ist, schließlich auch gemacht werde – und sei es um den Preis totaler Konformierung und Vernichtung von Mensch und Welt.

 

Weltzustand Lager

In diesem Sinn bedeutet »Welt als Vernichtungslager«: Die Welt nähert sich, aus verschiedenen Richtungen und in unterschiedlichem Tempo getrieben, sukzessive einem Zustand an, den wir – in Abgrenzung vom System der NS Konzentrations- und Vernichtungslager – als Weltzustand Lager beschreiben können. Es handelt sich dabei um eine größtenteils ungeplante, nicht intendierte schrittweise Entwicklung, in deren Verlauf die Welt so eingerichtet wird, dass sie den Charakter eines den ganzen Erdball umfassenden Vernichtungslagers annimmt; dass die alles entscheidende Grenze zwischen Innen und Außen, die für das NS-Lager wie das Lager an sich konstitutiv ist, in sich zusammenfällt – das Lager, paradox formuliert, keine Umwelt mehr hat – und die Welt zu einem unvorstellbaren »›Ab-ort‹«, einer »Kloake des Menschen«, einer »Wegwerf-Welt« wird,108 in der wahrhaft menschliches Leben schlechterdings nicht mehr möglich ist, weil Personen in ihr nicht mehr das auffinden, was sie brauchen, um Personen sein zu können. Das Weltlager ist jener globale Raum, in dem die Bedingungen der Möglichkeit echten menschlichen Lebens systematisch vernichtet werden. Es steht im Gegensatz zu dem, was in der Umweltdebatte mit Sustainable Development gemeint ist. Es handelt sich im wahrsten Sinn des Wortes um Devastating Development.

Die Gabe der menschlichen Freiheit kann zerstört werden, obwohl sie ontologisch dauerhaft verbürgt scheint. Das ist nach Arendt die Lektion über das Wesen des Politischen, die der Totalitarismus gelehrt hat. Sie enthüllt im Rahmen der Theorie von der Welt als Vernichtungslager die Pointe der Moderne, nämlich dass die Schreckensfiktion des Naturzustands, des Hobbesschen bellum omnium contra omnes, den die bürgerliche Philosophie in der Neuzeit als imaginären vorzivilisatorischen, prähistorischen Anfang ihrer staatstheoretischen Reflexionen gesetzt hatte, sich möglicherweise als Endpunkt herausstellt; dass nicht die Absenz ordnender Kräfte, sondern ihre volle Entwicklungsstufe, die in der Fähigkeit zur Selbstauslöschung gipfelt, die Moderne realiter zu ihrem bloß fiktiven theoretischen Ursprung zurückbringt, der sich als doppelte Fiktion erweist: als eine Einbildung der Theorie und als weit harmloser als das, was seit der Neuzeit auf ihn folgte und womöglich noch folgen wird …

 

pdf here: Dries_2012_Die_Welt_als_Vernichtungslage

 

 

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