Die Zeitmodalitäten des Kapitals und Postones Fehlinterpretation

Man sollte die abstrakte Zeit des Kapitals auf gar keinen Fall mit einer linearen und homogenen Zeitordnung identifizieren, bei der in einem kontinuierlichen Fluss einer auf dem Zeitstrahl voranlaufenden Zeit zugleich jede Zeitstufedie andere ausschließt (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft), ergo mit einer linearen Zeit, die in der Form der Differenz das Vorher/Nachher prozessiert und die,nimmt man denn die Unterscheidung des Unterschieds vor, die Gegenwart sowie (von der Unterscheidung her gesehen) das Zuvor und Danach andauernd ausstreut; eine linear-homogene Zeit, mit der man die qualifizierten Arbeitsprozesse in Tagen, Stunden, Minuten und Sekunden misst. Daher haben  wir  es   hinsichtlich der Zeit des Kapitals mindestens mit zwei Zeitbegriffen und Zeitmodalitäten zu tun, a) der homogenen, linearen und messbaren Zeitder konkreten Produktionsprozesse und b) der nicht-messbaren und abstrakten Zeit des Kapitals, die stets aber abhängig von Faktoren wie Produktivitätsentwicklung,Kapitalisierung und differenzielle Akkumulation bleibt. Weiterhinist die abstrakte Zeit auch als eine nicht-physikalische Zeit zu verstehen, weil esfür den klassischen Physiker Zeit nur gibt, wenn sie gemessen werden kann, und das im Raum, der nur existiert, wenn es Masse gibt. Das Kapital konstituiert sich hingegen mindestens über ein zweiteiliges Zeitmanagement, über die Zeit als Differenzial.

Es war der amerikanische Gesellschaftswissenschaftler Moishe Postone, der die   beiden Zeitauffassungen in seinem Buch Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft in den 1990er Jahren explizit ins Spiel gebracht hat, » um zu betonen, dass wir es mit zwei verschiedenen Arten von Zeit zu tun haben«, der linearen Zeit, die den sog. konkreten Arbeitsprozessen korrespondiert, i. e. demjenigen Zeitquantum, das immer als eine abhängige Variable (von Praktiken, Er eignissenund Events) gilt, und der abstrakten Zeit, die Postone als eine absolute Zeit definiert, welche von jedweden Praktiken und Ereignissen unabhängig geworden ist, seien diese nun individuell, gesellschaftlich oder rein von der Natur ausbestimmt. (Vgl. Postone 2003) Man könne die abstrakte Zeit in »konstanten, kontinuierlichen,vergleichbaren und austauschbaren, per Konvention festgelegtenEinheiten (Stunden, Minuten, Sekunden), die als absoluter Maßstab von Bewegungnd Arbeit qua Verausgabung dienen« (ebd.: 372), messen, so behauptet jedenfalls Postone, bei dem bezüglich der Dimension der abstrakten Zeit eine  Art historischer Stillstand herrscht. Als Inhalt dieser Dimension bringt die sog.sozial notwendige Arbeitszeit, die in abstrakter Zeit gemessen wird, eine generelle gesellschaftliche Norm zum Ausdruck. (Ebd.) Obwohl man von einer Konstanz des abstrakt-zeitlichen Wertmaßes ausgehen müsse, habe diese Maßart also einensich wandelnden gesellschaftlichen Inhalt zur Folge, korreliere einer stets wandelbarentemporalen Norm, die jedoch empirisch nicht nachvollziehbar sei bzw. unsichtbar bleibe. Dies würde bedeuten, dass man die abstrakt-zeitliche Konstantein gewisser Weise gleichzeitig als konstant und nicht konstant betrachten müsse. Während die gesellschaftliche Arbeitsstunde als Maß der in einer gegebenen Produktionsperiode produzierten Gesamtwertmasse in ihrer abstraktenDimension konstant bleibt, kann damit nicht schon automatisch jede Stunde konkret verausgabter Arbeitszeit als eine die Gesamtwertgröße mitbestimmende gesellschaftliche Arbeitsstunde gelten, weil sich diese gesellschaftliche Arbeitszeitals temporale Norm entsprechend den Veränderungen der Produktivität permanent verschiebt. Eine Steigerung der Produktivität, die die in einer Zeiteinheitproduzierte Warenmenge erhöht, was sich wiederum in der proportionalen Wertabnahme der einzelnen Ware ausdrückt, steigert Postone zufolge keineswegs den pro Stunde produzierten Gesamtwert.

Kommt es im Prozess der differenziellen Gesamtkapitalakkumulation im Endeffekt immer wieder zu Durchschnittsbildungen bzw. Ausgleichsbewegungen der Produktivität der einzelnen Kapitale, indem die   weniger produktiven zu den produktiveren Kapitalen aufschließen, so muss die in  einer Zeitperiode erzielte Wertgröße wegen ihrer abstrakten Bestimmungals Konstanz durch die Prozesse der Konkurrenz hindurch immer wieder auf ein sog. Basisniveau zurückfallen, wobei es jedoch zu einer Neubestimmungder gesellschaftlichen Arbeitsstunde als temporaler Norm gekommen ist, die sichmit einer Ten denz zur stetigen Beschleunigung  der konkreten Arbeitsprozesse durchsetzt . (Ebd.: 436) Postone schreibt hierzu: »Ist das abstrakte zeitliche Wertmaßgegeben, dann verändert diese Neubestimmung gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit die Wertgröße der einzelnen produzierten Waren, nicht jedoch den pro Zeiteinheit produzierten Gesamtwert. Dieser bleibt konstant und teiltsich, wenn die Produktivität zunimmt, lediglich unter einer größeren Menge von Produkten auf. Dies aber impliziert, daß im Ko ntext eines durch eine abstraktezeitliche Form des Reichtums charakterisierten Systems die Reduktion gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit die normative gesellschaftliche Arbeitsstunden eu bestimmt. « (ebd.: 434) Daran anschließend, will Postone ein Paradox aufspüren,das einfach darin bestehen soll, dass einerseits die Wertgröße eine Funktion der durch die  unabhängige Variable (abstrakte Zeit) gemessenen Verausgabung von Arbeit ist, während andererseits die Wertgröße als inhaltliche Zeiteinheit als eine abhängige Variable durch Veränderungen der Produktivität auf Gesamtkapitaleben ein quantitativer Hinsicht stets neu festgelegt wird, insofern das,  was eine  gesellschaftliche Arbeitsstunde konstituiert, von sich in den Produktionsprozessenwandelnden Produktivitätsniveaus mit ihren stofflichen Dimensionen abhängt. Obwohl die gesellschaftliche Arbeitsstunde in quantitativer Dimensionständig neu definiert wird, bleibt sie als Einheit abstrakter Zeit dennoch konstant. (Ebd.: 335) Das Problem oder Paradoxon, das sich im Abgleich der konstanten abstrakten Zeiteinheit mit ihrem stets fluktuierenden Inhalt herstellt , wird bei  Postone  dadurch gelöst, dass abstrakte Zeit sich selbst in der Zeit verschiebt; Postone lässt die abstrakte Zeit in ihrer Konstanz sich selbst bewegen, und dies paradoxerweise mittels einer von ihm als historisch bezeichneten Zeit, die einerseits das Resultat der dynamischen Relation von abstrakter und konkreter Zeit sein soll, welche die Herstellung der temporalen Norm impliziert, andererseits aber auch gerade eine konkrete Zeit manifestiert, die immer von Ereignissen und Praktiken abhängig bleibt, welche zuallererst eine Veränderung derProduktivitätsniveaus bewirken. Mit der Herrschaft des Werts normiert immer schon  vergangene, konkrete Arbeitszeit, die im Produkt materialisiert ist, nochzu verausgabende, konkrete Arbeitszeit, ein Prozess, der wiederum über die Messung abstrkter Zeit, einer unbewussten gesellschaftlichen Regulation, geschehen soll,  die den Prozess von privater Verausgabung von Arbeit und gesellschaftlicher Wertschöpfung vermittelt, und dies eben über den Mechanismus des sog. Tretmühleneffekts. (Ebd.: 46f.) Dieser zeigt die zeitliche Dimension der Wertform als wechselseitige Veranlassung der Zeitdimensionen abstrakter und konkreter Arbeit an, d. h., durch diesen Effekt hindurch artikuliert sich die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als eine allgemein gültige zeitliche Norm, die einerseitsaus den Praktiken der Produzenten resultieren und andererseits diese auch definieren soll. Und hiermit bringt die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit eine quasi-objektive Notwendigkeit des abstrakten Wertmaßes/der abstrakten Zeit zum Ausdruck, die Postone an den Begriff der Totalität bindet.

Damit handelt sich Postone gleich mehrere Probleme ein: Man sollte abstrakte Arbeit nicht einfach als die Konstruktion »konkrete Arbeit gemessen in homogenerZeit« auffassen, denn beide Arbeiten zeichnen sich ja durch ihre jeweils spezifischen messbaren (konkrete Arbeit) und nicht-messbaren »Zeiten« aus (abstrakte Arbeit  ).   Und wenn Postone schreibt, dass man die abstrakte Zeit als unabhängige Variable und als Absolutum aufgrund ihrer formalen Charakteristika mathematisch erfassen könne, da sie sich stets in Stunden, Minuten etc. als messbare Teile (Arbeitszeit) einer abstrakt homogenen Substanz (abstrakte Arbeit) ausmachen ließe (ebd.: 271), dann ist dieser Argumentation schlichtweg entgegenzuhalten, dass man eben nur aufgrund einer theoretischen Entscheidung das Absolute/die abstrakte Zeit als homogene, messbare Substanz wirklich anzunehmen vermag.

Für Postone gerinnt abstrakte Arbeitszeit tatsächlich zur Substanz, die im Kapitalismus für abstrakt objektiven Reichtum und für das gesellschaftliche Verhältnisselbst verantwortlich zeichnet; aber dem wäre sofort wieder zu entgegnen,  dass abstrakte Arbeit viel eher auf eine entscheidend andere, eine  virtuelle und nicht quantitative Dimension des Werts verweist, die wiederum der Aktualisierungbedarf, in und mit der es gerade auch zu einer Löschung von wirklich messbaren Zeiten und ihren notwendigen Stauchungen in der Gegenwart kommt. So haben wir es bei der abstrakten Zeit des Kapitals mit einer nicht messbaren Verschaltungvon Prozessen der Virtualisierung/Aktualisierung zu tun [Virtualität der Zeit, die durch das Apriori der Quasi-Transzendentalität des Kapitals an die Kette gelegt wird.  Wir erinnern uns an unsere obige Strukturdefinition: Transzendentale Strukturenließen sich als autoreferenzielle, komplexe und zugleich problematische Systeme beschreiben, indem sie den ideellen Faktor Zeit (besser Virtualisierung der Zeit als reines Verhältnis, Zeitigung der Zeit) als wesentliches Moment ihrer Strukturierungintegrieren]. Diese verschalteten Prozesse werden nur messbar, wenn
die Semiosen des Geldes bzw. die ökonomischen Matheme sie vertreten. Mit der Hypothese vom Absoluten und der damit zusammenhängenden Einführung desBegriffes der Totalität kann Postone hingegen die Festlegung einer unhistorischen und unspezifischen Konstanz von Wertgröße und Gesamtarbeitszeit vornehmen (ebd.: 4 40);  es handelt sich dann in der Tat um rein fixe Größen, die  eben nicht erstals virtuelle »Größen« durch die realen Prozesse der differenziellen Akkumulation im Rahmen einer je schon vorausgesetzten strukturellen Quasi-Transzendentalität des Kapitals als Gesamtkomplexion aktualisiert werden.

Postone, Moishe (2003): Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx. Freiburg.

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