Digitale Arbeit und Dividuum

Man muss heute nicht allzu lange rästeln, um das spekulative Geldkapital und die moderne Finance als ökonomische Maschinen auszumachen, welche die soziale Materie insbesondere durch den Einsatz von Algorithmen und Diagrammen unablässig formieren. So wird der Trading-Raum einer großen Bank von digitalen Maschinen beherrscht, er wird durch Bildschirmwände trassiert, die allesamt an globale Computernetzwerke angeschlossen sind und in Realtime die Bewegungen der Preise, Charts und Tabellen visualisieren. Dafür muss man ganz verschiedene Semiotiken mobilisieren: 1) Quasi impotente Zeichen, die nur die historischen Preisbewegungen dokumentieren. 2) Macht-Zeichen, welche nichts repräsentieren, sondern etwas antizipieren, erschaffen und gestalten. 3) Diagramatische Zeichen, welche die Realität transformieren. Mathematische Systeme, Datenbanken, Netzwerke etc. sind als Operatoren, Teile und Funktionen eines ökonomischen Systems zu verstehen, welche die Subjektivität des Traders konstituieren, regeln und navigieren. Und ihre Verkettungen verlaufen entlang von Linien, die über beschleunigende Algorhythmen1 (Miyazaki) prozessieren und die bearbeitet werden, indem man sie verbessert, erweitert und ihnen permanent etwas hinzuzufügt, sodass sie bei den Arbeitenden immer öfters spasmische Rhythmen und infolgedessen einen insistierenden Stress erzeugen, wobei sich die verschiedenen Formen des Wettbewerbs zwischen den Arbeitenden und die Beschleunigung der Geldkapitalströme gegenseitig hochschaukeln können. Ist das Verhältnis zwischen Arbeitenden und Maschinen durch die Relation der umkehrbaren Kommunikation gekennzeichnet, dann sprechen wir von den Arbeitenden als Dividuen. Diese Art der Verkopplung zwischen Maschine und Mensch bezieht sich auf die kybernetische Figur der Kommunikation, die den Verkehr zwischen Organismen und Maschinen regelt. Die Maschinen der Kybernetik dienen Deleuze/Guattari zufolge einem System, »das ein Regime allgemeiner Unterjochung wiederherstellt: rückläufige und umkehrbare ›Menschen-Maschinen-Systeme‹ ersetzen die alten, nicht rückläufigen und nicht umkehrbaren Beziehungen zwischen den beiden Teilen. Die Beziehung zwischen Mensch und Maschine beruht auf wechselseitiger, innerer Kommunikation, und nicht mehr auf Benutzung oder Tätigkeit.«2 Nicht zufälligerweise verwenden Deleuze/Guattari hier den Begriff »Kommunikation«, und dies lässt sich zunächst in den Kontext dessen stellen, was man in der Systemtheorie als »strukturelle Kopplung« oder als »Interpenetration« bezeichnet. Für Deleuze/Guattari geht es jedoch nicht um die Interaktion von separat determinierten Systemen, sondern um die Ko-Existenz, die Ko-Produktion und die Ko-Variation von Menschen-Maschinen Komplexen und von Praktiken und semiotisch-materiellen Apparaten, ja es geht um heterogene und prozessuale Mischungen, gegenseitige Durchdringungen und konkrete Symbiosen. (Die Apparate bestehen aus spezifischen Anordnungen, die aus Einfaltungen, Schnitten und Ausschlüssen resultieren und zugleich »Intraaktionen« sind, die bestimmte Phänomene erzeugen.3) Das Ko verunmöglicht hier den Verweis auf den Ursprung, auf das Zuvor und auf die einseitige Voraussetzung, insofern selbst noch die die technischen Maschinen überformende »Gesellschaftsmaschine« (Deleuze/Guattari aus maschinellen Mischungen konstruiert ist. Damit bleibt die Frage der Determination ungeklärt, sodass hier die Gefahr einer zirkulären Konzeption nicht gebannt ist. (Unter ökonomischen Gesichtspunkten wäre an dieser Stelle die Spezifizierung der Relation zwischen variablem und konstantem Kapital zu untersuchen, inklusive des Surplus, dessen Produktion in der Tendenz mit der Erhöhung der Kapitalintensität oder der organischen Zusammensetzung des Kapitals einhergeht. Der konstante Anteil nimmt gegenüber dem variablen Anteil zu.) War das Fließband, an dem die Arbeiter sich enlang einer Linie integrieren mussten, der Ausgangspunkt für die Entstehung des Operations Managements, so bekommen wir es bei den kybernetischen Maschinen mit den maschinischen Relationen zwischen Menschen-Maschinen und Maschinen-Maschinen Komplexen zu tun, die ein noch wesentlich flexibleres Management erfordern. Innerhalb dieser Relationen findet das bewegliche Entwerfen von Linien statt, wobei jede Kompomente des Systems (inklusive des humanen Agenten) für die Optimierung der Prozesse der Kapitalisierung indienstgenommen wird, und dies nicht in Hinsicht auf ein statisches Produkt, sondern auf die unaufhörliche Optimierung der Linien selbst.4 Dieses maschinische Environment ist nicht nur eines der Ankopplung oder der Interpenetration zwischen technischen Maschinen und Dividuen, sondern die Maschinen ubernehmen zudem die Funktion der Umhüllung oder Kokonisierung der Dividuen.

Dividuen sind je schon geteilte Existenzen, die heute insbesondere passiv, aber auch aktiv in maschinelle Intra-Verhältnisse eingebunden sind, das heißt an ökonomische, technologische, biologische, politische und soziale Komplexe affektiv und kognitiv angeschlossen und in sie integriert sind, aber durch »Vielfachteilhaben«5 in den sozialen Medien und durch Aufteilungen und Streuungen ihrer mentalen Kapazitäten bestimmte Subjektivierungen, die allerdings meistens unter keinem guten Stern stehen, auch aktiv hervorbringen können. Das Dividuum kennzeichnet eine von vielfältigen Strömungen durchlaufene Geteiltheit, die in spezifische Raumzeitdynamiken von maschinellen Konfigurationen integriert ist. Die maschinische Indienstnahme, ein Begriff, den Deleuze/Guattari zur Kennzeichnung dieser Relation benutzen, ist als ein Modus der Verschränkung, des Anschlusses und der Kopplung, ja sogar des Verschmelzens von je schon biologisch geteilten Dividuen mit geteilten Maschinenkomplexen, die die Kontrolle und Regulation von Dividuen operationalisieren, zu verstehen, wobei diese Art der Kopplung in der Tendenz ohne Repression oder Ideologie funktioniert, vielmehr der Techniken der Modulation und des Modellierens bedarf, um die funktionsfähige Interpenetration zwischen Menschen und Maschinen zu garantieren.6 Im Modus der maschinischen Indienstnahme fungiert die Person nicht länger als ein unternehmerisches Subjekt (Humankapital oder Unternehmensform), sondern sie ko-existiert mit den Maschinen als deren funktionales Teil, oder sie ko-variiert mit den Maschinen als eine variable Komponente der noch weitaus variableren maschinellen Gefüge. Diese Gefüge muss man also als Subjektivierungsmaschinen auffassen, welche die interpersonalen Beziehungen der Subjekte untereinander, die Familienkomplexe und die Teilhabeformen an den digitalen Medien funktionalisieren. Guattari verwies in diesem Kontext schon früh auf die Funktionsweisen der modernen Finance, auf Massenmedien und computergestützte Dispositive, aber auch auf die Referenzuniversen der Musik und auf Universen, die sich im Augenblick des Schaffens jenseits der chronologischen Zeit ausdrücken, und zwar als Singularitäten – es geht hier immer schon um technisierte Komplexe, die man als nicht-menschlich bezeichnen kann und die das Menschliche an maschinelle Semiosen ankoppeln, an Ritornelle.7

In den kapitalistischen Arbeitsverhältnissen gilt es von vornherein die zeitlichen Normierungen des Arbeitstages zu beachten. Schon in den 1960er Jahren gab ein französischer Arbeiter in irgendeiner einer linken Zeitung in einem Interview zu bedenken, dass man in der Fabrik nicht unbedingt isst, wenn man mal gerade hungrig ist, sondern, wenn das elektronische Gehirn eine Lücke in der Produktion entdeckt und den Arbeiter auffordert, gefälligst zu essen. Die (zwangsweise) Delegation der eigenen Bedürfnisse an die Maschinen, die die Kapitalisierung exekutieren, ist Teil einer symbolischen/semiotischen Repräsentation im Kontext der maschinellen Codes. Dabei prozessieren die Produktionsprozesse mit einer Sprache/Semiotik, die nicht nur den Arbeiter, sondern längst auch den Programmierer oder kognitiven Arbeiter codiert. Und es sind längst nicht mehr die von der Uhr gemessenen Sekunden und Minuten, in denen sich der Wettbewerb zwischen zwei kognitiven Arbeitern anzeigt (als ob es sich, wie Marx schreibt, bei ihrer Arbeitsleistung um die Geschwindigkeiten von zwei Lokomotiven handelt), sondern es sind heute schon Millisekunden, Zeiten des digitalen Codes, die in den Produktionsräumen des finanziellen Kapitals die Operationen der Angestellten triggern und teilweise auch entscheiden. Diese Prozesse erzeugen zunehmend gerade bei den Büroarbeitern der mittleren Ebene eine systematische Müdigkeit, deren landläufige Symptome Depressionen und Burnouts sind, in der Baudrillard aber auch eine letzte Form der widerständischen Aktivität erkennen will, während die Leader und Manager die wahren passiven Agenten sid, die eine »frischfröhliche Konformität mit dem System« betreiben.8

Es gilt an dieser Stelle zwei Fragen zu stellen: Auf den ersten Blick scheint die Arbeit am PC im positiven Sinne verwirrend, ist sie deshalb aber gegenüber der Arbeit am Fließband befreit? Vielleicht, aber besitzt der Arbeitende am PC auch die Macht, um im Kollektiv die Arbeit niederzulegen und etwa mit dem Management zu verhandeln? Dies natürlich nicht. Denn die Arbeiter stehen sich heute in den dezentralisierten Produktionsräumen meistens nicht mehr face to face gegenüber, sie nehmen ihre Stimmen nicht wahr, höchstens vielleicht noch kennen sie ihre Email Adressen.

Infolge der neoliberalen Kapitalisierung und der damit zusammenhängenden Entwicklung des Technologischen kommt es zu einer permanenten Umstrukturierung der Arbeitsmärkte, ihrer Agenten und deren verschiedenen Qualifikationstypologien. Auf weitgehend internationalisierten Arbeitsmärkten ist das Humanmaterial in gegliederte Arbeitskräfte (zerstreute Konsumenten von Arbeit) aufgeteilt, wobei sämtliche historische Exploitationsmethoden gleichzeitig Anwendung finden. Es kommt zur Liquidation von veralteten Berufsidentitäten, während bestimmte Berufsstände wie Rechtsanwälte, Ärzte und Lehrer quasi als Relikte bürgerlicher Produktionsverhältnisse überleben, gleichzeitig aber auch zunehmend in die postindustriell-maschinellen Systeme und deren Konkurrenzmechanismen eingebunden werden. Man denke nur an den Arzt und den Reparturbetrieb Medizin, der mit immer stärker aufgerüsteten Apparaten die mechanischen und psychischen Dysfunktionalitäten der kranken Massen zu regulieren und korrigieren versucht. Parallel zur apparativen Medizin wird die Evaluierung von Eignungen und Fähigkeiten der Arbeitenden mit Hilfe von Psycho-Tests, Coaching und Casting vorangetrieben, um die Nutzbarkeiten von Körpern, Psychen und Kognitionen zu überwachen und zugleich anzuheizen. Für Adorno werden die abgestorbenen Zellen des Religiösen und des Spirituellen zum Gift. Das Gift ist noch jene therapeutische Energie, die das Coaching und die Castingshows, die heute zunehmend auch die Matrize für Bewerbungsgespräche liefern, unter Strom setzt und den Boom der Produktion der Psychowaren und einer Metaphysik für die Volkshochschule am Laufen hält. Wie die spirituelle Energie des Therapeuten oder des Leaders im Team den Kunden beseelt, so verleiht dessen Gutgläubigkeit dem Okkulten Glanz.

Gleichzeitig entstehen neue Kreativindustrien und die dazugehörige internationale meritokratische Mittelklasse, die – online- und konsumgetrieben – ihr intellektuelles und symbolisches Kapital einzusetzen versucht, um sich an den Arbeitsmärkten in der Hierarchie weit oben zu halten. Aber auch hier bedeutet die maschinische Indienstnahme, dass im Zuge der fortschreitenden Automatisierung die bisherigen beruflichen Qualifikationen und ihre identifikatorischen Muster dem ständigen Wandel unterworfen sind, der durch die statistischen Verfahren zur Evaluation der arbeitstechnischen Fähigkeiten, die das Können, Geschicklichkeit und Kenntnisse betreffen, überwacht, kontrolliert und reguliert wird. Diese Überwachungsprozeduren finden in Netzwerken statt, in denen das Humane als chemoelektrisch-endokrine Schaltstelle oft nur noch die Vermittlung maschineller Funktionen übernimmt. Transnationale Konzerne erzeugen heute im Rahmen der innerbetrieblichen Arbeitsteilung eine profitable Dividualität, wenn sie aus Kostengründen ihre Unternehmen in die Bereiche Marketing, Produktion, Finanzen, Logistik und Dienstleistung unterteilen und die verschiedenen Sektoren auf verschiedene Länder oder Kontingente verstreuen. Es bedarf dazu der Herstellung und Anpassung von Industrienormen bzw. standardisierten Produkten oder Produktteilen und der geschmeidigen Modularisierung der Produktionsprozesse, sodass z.B. Automobile heute in bis zu zwanzig Ländern quasi-simultan zusammengebaut werden.

Jede mediale Maschine, die mit Übertragungen von Informationen beschäftigt ist, setzt sich aus Kombinatoriken zusammen, mit denen zeiträumliche Differenzen in diskreten Schritten eines digitalisierten Maschinenkörpers prozessieren. Wie Michel Ser­res sagt, hat das Faktum Konnektivität längst die Kollektivität ersetzt.9 Es kommt schließlich zu einer Multiplizierung und Vermehrung von digitalen Automaten aller Art, selbstreferenziellen Maschinen, die bestimmte Funktionen mehr oder weniger gleichförmig wiederholen und von den humanen Agenten, die neben der Maschine stehen, schließlich nur noch überwacht werden. Längst besteht heute eine weit verbreitete Form der Arbeit in der des Arbeitsmannequins (Baudrillard), das in bestimmten Zyklen die Tätigkeit des Wartens oder des getakteten Tastendrucks ausführt, der in Abhängigkeit von der anderswo programmierten Abfolge des maschinellen Feedback-Sytems erfolgt. So besteht die Wendigkeit, Cleverness und Schnelligkeit des heutigen Dividuums, oft schon ein Prozak und Ritalin-Mutant, vielfach auch im niederschmetternden Warten, im Warten darauf, den roten Knopf drücken zu dürfen, während die Entscheidung anderswo längst schon abläuft oder gefallen ist, nämlich in den rekursiven Schleifen des maschinellen System selbst. Industriesoziologen stellen hier die Substitution der kognitiven Arbeit durch die Maschinen in den Vordergrund. Dabei bleibt die Aktivität der Automaten nicht auf die Produktion beschränkt, stattdessen haben wir es längst mit selbstreferenziellen Verkehrs-, Konsumtions- und Lichtautomaten und Kriegsmaschinen aller Art in den Weltinnenräumen des Kapitals (Sloterdijk) zu tun. Automatisierung bedeutet in diesem Kontext die Vermehrung der Maschinen und die Adaption der Menschen an sie, wobei die dem Automaten gemäße soziale Konfiguration heute das technische Team ist, das keineswegs nur durch Kreativität und flache Hierarchien, sondern auch durch Typisierung, Normalisierung und vertikale Standardisierung geprägt ist. Im Rahmen der technowissenschaftlichen und psychologistischen Dispositive, Programmierungen und Konstruktionsprinzipien gibt es heute kaum noch einen Arbeitsplatz, der nicht permanent auf Evaluierung gestellt und nicht auf das kreative Potenzial von Dividuen und Projektgruppen hinterfragt würde, um dann abermals evaluiert, das heißt auf neue Performance-Potenziale hin untersucht zu werden, aber dies eben nicht allein aufgrund des totalitären Drucks eines Leaders, sondern die Evaluation, die der Leader begleitet, bleibt meistens eingebunden in das Team; und kein Team, das nicht nach Aussprachen, Ansprachen und Absprachen qua anglizierter Sprachspiele verlangt, von denen Wittgenstein nicht im Schlaf geträumt hätte. Konnte Marx noch trocken konstatieren, dass der Arbeiter nicht für sich, sondern für das Kapital produziert, um damit wirklich jede Apotheose, welche die Arbeit zum Idol erhebt, auszuschließen, so wird mit der kreativen Selbstkonfiguration durch den Kauf von Arbeit, die von der beständigen Konsumtion von Enhancement-Programmen stilvoll begleitet wird, eine wirklich unheimliche Genussfreude an der (digitalisierten) Arbeit wiederentdeckt, deren Propagandisten beständig ausposaunen, es handele sich bei den in informierende Netzwerke integrierten Dividuen tatsächlich um die Verkörperung kreativer Mit-Teilungen, anstatt um reine Befehlsempfänger, die natürlich unter Umständen im Team sich gegenseitig die Befehle geben.

Die gegenwärtige Organisation der Arbeit lässt sich ohne den Einsatz der a-signifikanten Semiotiken im Kontext von diagrammtischen Pragmatiken (Guattari) längst nicht mehr verstehen. Dabei werden die linguistischen Imperative, – Management-Kontrollen, Marketingkampagnen und Sprechhandlungen – durch a-signifikante Semiotiken, die nicht sprechen, sondern funktionieren, nicht nur supplementiert, sondern oft genug schon determiniert: Computerprogramme und -netzwerke, Statistiken, Charts, Datenbanken, Bilanzierung etc. bilden heute konstitutive Teile der betrieblichen Aussagesysteme. Über die a-signifikanten Logiken bzw. die maschinische Indienstnahme bemächtigt sich heute das Kapital selbst noch der Wünsche und der Begehrensaufladungen. Gleichzeitig kommt es parallel zu den vielfältigsten non-linearen Prozessen der eskalierenden Deteritorialisierung von Geschwindigkeit und Raum, die von a-signifikanten Maschinen prozessiert werden, zur reterritorialisierten Reproduktion des Kapitals. Of course kann das Kapital auf die entsprechenden Reterritorialisierungen (Staat, Quasi-Ödipalisierung, Celebrity-Kulturen etc.) eben gerade nicht verzichten.

Am Ende der 1980er Jahre gewann die fraktale Geometrie eines Benoît Mandelbrot mit ihren Übergängen von Mikro- zu Makroscales zunehmend an Bedeutung. Sie wurde von Deleuze/Guattari in ihrem Buch Tausend Plateaus zur Charakterisierung der glatten Räume benutzt und sie wurde von den Tradern gewissermaßen adoptiert, um die Konturen der Turbulenzen der computerisierten finanziellen Netzwerke zu prozessieren. Chaos- und Komplexitätstheorien begannen als eine neue Form der gouvernementalen Logik spätestens in den herrschenden Diskursen der 1990er Jahre zu zirkulieren. Guattari beobachtete damals, dass die Kontrollgesellschaften zunehmend durch eine Art des kollektiven deterministischen Drives dominiert werden, der von der Affirmation minimaler Freiheitsgrade, Kreativitätsforen und Inventionen abhängig bleibt, die sich insbesondere in den Bereichen von Wissenschaft, Technologie und Kunst finden lassen und ohne die das System in einer Art entropischer Trägheit kollabieren würde. Und damit erfolgt die Kommunikation in den Betrieben vor allem durch Ansteckungen, welche von den a-signifikanten Semiotiken andauernd initiiert werden. Die digitale Arbeit ist fragmentiert; das Dividuum – selbst eine zelluläre Form – erfährt in den digitalisierten Produktionsprozessen eine rekombinante Fragmentierung in zellulären und zugleich rekombinierbaren Segmenten, die sich unter den Gesichtspunkten des finanziellen Kapitals als ein kontinuierlicher Flow von Geldkapitalströmen darstellen. Es geht hier nicht nur darum, dass die Arbeitsbeziehungen selbst prekär werden, sondern es kommt in ihnen selbst fortwährend zu Teilungen, unter Umständen sogar zur Auflösung der Person als unifizierter produktiver Agent, als Arbeitskraft. Es ist ganz klar, als Zellen der produktiven Zeit können die Dividuen in punktuellen und fragmentierten Formen der Arbeitsprozesse ständig neu mobilisiert und rekombiniert werden. Wir haben es mit einem immensen Anwachsen einer depersonalisierten Arbeitszeit zu tun, insofern das Kapital immer stärker dazu übergeht, anstatt den Arbeiter, der acht Stunden am Stück arbeitet, verschiedene Zeitpakete zu mieten, um sie dann zu rekombinieren (Out- und Crowdsourcing) – und dies eben unabhängig von ihrem austauschbaren und damit mehr oder weniger zufälligen Träger. Das »Selbst« fluktuiert als fluides Rest-Ego und wird in immer neuen Relationen rekombiniert, und diese Formierung gleicht einem Kaleidoskop, »das bei jedem Schütteln ein neues Muster zeigt.«10 Diese Art der weit über die Arbeitsbeziehungen hinausreichenden spasmischen Rekombination wird heute in den diversen Netzwerken geleistet.

Konnektivität und Prekariat sind heute als zwei Seiten derselben Medaille zu verstehen: Die Geldkapitalströme der semiokapitalistischen Produktion vereinnahmen und verbinden zelluläre Fragmente einer depersonalisierten Zeit, und dies impliziert zunehmende Unsicherheit für die unter diesen prekären Bedingungen Arbeitenden. Die sog. Zeitkristallationsmaschinen, welche nicht nur die Zeit, sondern selbst noch die individuellen Perzeptionsweisen und das Denken kristallisieren, wenn sie ihre eigenen Rhythmologien erzeugen, haben längst die Arbeitsplätze verlassen und dringen in die verschiedenen alltäglichen sozialen und institutionellen Räume ein – Medien, soziale Netzwerke, Gemeinschaftseinrichtungen etc. Im Rahmen einer statistisch qualifizierten Biopolitik wird auch die Lebenszeit in die ökonomischen Prozesse der Kapitalisierung hineingezogen, i.e. die mentalen und affektiven Kapazitäten der Dividuen unterliegen im Zuge einer statistisch ausgewiesenen Normalisierung der Ökonomisierung. Wir bekommen es mit der Kinematik der digitalen Mobilisierung eines teilweise schon pharmazeutisch stimulierten Wunsches zu tun, seiner Beschleunigung in der Infosphäre, die wiederum den Gebrauch der psychopharmazeutischen Stimulanzien als psychische Trigger benötigt, um die Flows der kognitiven Arbeit, die allerdings ohne Depotenzierung der Qualifikationen nicht zu haben sind, weiter anzuheizen. Die Figur des Wettbewerbs, der durch Ansteckung und nicht durch Kognition prozessiert, hat längst die Kompetenz ersetzt. Das souveräne und rationale Handeln, das durch die digitalisierte Arbeit in der Tendenz zerstört wird, muss ständig rekonstruiert werden, indem es simuliert wird, und zwar durch das Zusammenspiel zwischen signifikanten Semiologien, ansteckender Kommunikation und der sie ergänzenden Kognition, wobei dieses Spiel sich im Modus der Endlosschleife vollzieht, die Kroker/Weinstein schon früh als Teil der postmodernen Ideologie folgendermaßen beschrieben haben: »›Ich könnte für immer hier bleiben und mit dir weiter reden.‹ Das ist die Einstellung jener Leute, die bei MC Donald`s herumhängen: die ideale Sprechgemeinschaft, die es bereits gibt, aber von der ›Kritischen Theorie‹ übersehen wurde.«11 Von daher verbirgt der neoliberale Refrain (Kommuniziere! Verhalte dich als Unternehrmer! Werde ein Asset! Trage ein Risiko!) keine Realität, sondern er stattet die digitalen Arbeiter mit einer funktionalen, effizienten Endlosqualifikation aus, um in den kapitalisierten Raumzeiten und im Wettbewerb mit den anderen Mitspielern zu bestehen. Dieser Refrain befiehlt auf subtilste Weise, jede Art der Subjektivierung, die stets im Kontext kapitalistischer De- und Reterritorialisierung zu lesen ist, in den Dienst der effizienten feingesteuerten Operativität, die passive und aktive Aspekte besitzt, zu stellen. Damit hat Adornos Abneigung gegenüber der Ideologie von Kompetenz und Leistung an Relevanz nicht verloren. Er schreibt. »Es ist eine armselige Ideologie, daß zur Verwaltung eines Trusts unter den gegenwärtigen Bedingungen irgend mehr Intelligenz, Erfahrung, selbst Vorbildung gehört als dazu, einen Manometer abzulesen.«12 Der Verlust der Kompetenz hängt als ein Damoklesschwert noch über den hochqualifizierten Fachkräften, insofern in Zukunft auch ihre Kognitionsleistungen durch Maschinen weitgehend überflüssig gemacht werden könnten.
Indem das Kapital sich der Lebenszeit von Dividuen zu bemächtigt, bilden Arbeit und Leben potenziell eine, wenn auch zerrissene Einheit, die durch den kontinuierlichen Kauf von Beratungsprogrammen jedweder Art sowie der Konsumtion der allgegenwärtigen Fortbildungsmaßnahmen, Castingevents und Coachingprogramme garantiert wird, andererseits wird diese Art der Vollzeitaktivität für weite Teile der Bevölkerung durch eine Verschuldung auf Lebenszeit im doppelten Sinne des Wortes erkauft. Diese schrecklich neue, potenzielle Einheit war in der von Adorno gegeißelten Trennung der Lebenszeit in Arbeit und Freizeit im fordistischen Kapitalismus längst schon angelegt, und zwar unter der eindeutigen Dominanz der kapitalistischen Arbeit (und ihrem Vernichtungspotenzial): »Der starr prüfende, bannende und gebannte Blick, der allen Führern des Entsetzens eigen ist, hat sein Modell im abschätzenden des Managers, der den Stellenbewerber Platz nehmen heißt und sein Gesicht so beleuchtet, daß es ins Helle der Verwendbarkeit und ins Dunkle, Anrüchige des Unqualifizierten erbarmungslos zerfällt. Das Ende ist die medizinische Untersuchung nach der Alternative: Arbeitseinsatz oder Liquidation.«13 Und wenn es schließlich dazu käme, dass die Zeit der Arbeit und die der Nichtarbeit durch keine wohldefinierte Grenze mehr getrennt wären, dann bestünde auch zwischen Beschäftigung und Nichtbeschäftigung kein wesentlicher Unterschied mehr. Deswegen kann Paolo Virno mit aller rhetorischen Überspitztheit formulieren: »Die Arbeitslosigkeit ist unbezahlte Arbeit; die Arbeit ist dann ihrerseits bezahlte Arbeitslosigkeit. Mit gutem Grund lässt sich also genauso gut behaupten, dass man nie zu arbeiten aufhört, wie man sagen kann, dass immer weniger gearbeitet wird.«14 Virno weist damit auf den Sachverhalt hin, dass der Kunde der »Modernen Dienstleistung am Arbeitsmarkt« längst schon dem von Baudrillard beschriebenen »Arbeitsmannequin« oder dem von Günther Anders als »Automationsdiener« titulierten Subjekt gleicht, das die nicht mehr vorhandene Arbeit simuliert, als ob sie vorhanden wäre, oder umgekehrt die zu viel vorhandene Arbeit simuliert, als ob sie gar nicht vorhanden wäre. Diese Art von Grundlosigkeit der Beschäftigungen bedarf seltsamerweise einer ganzen Reihe von Bedingungen hinsichtlich ihrer Entlohnung, sei es die individuelle Führung von Zeitkonten, die Protokollierung der Länge von Telefonaten, die penible Aufzeichnung von Meetings in den Unternehmen oder das ausführliche Studium von Compliance-, Sustainability- und Controll-Kompendien. Man simuliert die Arbeit vermittels der Erzeugung ihres Anscheins, und schließlich gerinnt heutzutage der soziale Sinn dieser Art von Semiosen zu derselben wie ihre Definition: Die durch Verträge fixierte circa 40 Stunden-Ausführung, welche im Endeffekt wiederum diese Simulation selbst ist (Implosion), und das in rigider Verbindung zu der permanent praktizierten Optimierung der Modi der Selbststeigerung durch den pardoxalen libidinös- nihilistischen Gebrauch von Beratungs-, Fitness-, Lifestyle- und Sinnstiftungs-Programmen (die unter Umständen auf Pump gekauft werden) sowie der ständigen Kontrolle dieser Operationen durch soziale und staatliche Institutionen und Organisationen im Rahmen einer Anwesenheitspflicht.

Im Arbeitsprozess wird heute vielfach rein abstrakte Zeit konsumiert, was die schlichte Anwesenheit auf einer Position unter Abwesenheit der Arbeit einschließt, oder den an- und ausdauernden ADHS erzeugenden Konsum der abstrakten Zeit, zu deren »armseligem Residuum« die Arbeit gerinnt, besonders, wenn die moderne Arbeit eine residuale Untereinheit der digitalen Maschinenarbeit selbst darstellt. Gleichzeitig erscheint die residuale menschliche Geste nur noch als eine rein fragmentarische Geste, als das sog. Anhängsel einer Subjektivierung, die von den Diagrammen der Maschinen gesteuert, integriert und ausgeschieden wird. Es scheint, als wäre die (technologische) Maschine selbst noch ins Herz des Wunsches eingedrungen, womit die residuale menschliche Geste rein als der Fleck der Markierung durch die Maschine inmitten der imaginären Totalität des Individuums aufscheint (das heißt der Funktion des [i – a] bei Lacan), und womit, so lässt sich folgerichtig mit Baudrillard schließen, Arbeit nur noch »bekundet wird, so wie man Untertänigkeit bekundet«.15 Das die Arbeit bekundende Arbeitsmannequin gibt Kunde von einer weitgehend automatisierten und damit vernichteten menschlichen Arbeit, und das am effizientesten, wenn es heutzutage wie in der Finanzindustrie Eigentumstitel und Finanzderivate als Ware bewirtschaftet, wozu das Internet wiederum entscheidend beigetragen hat, und so wird der Bildschirm/Interface zum ständigen Begleiter des Brokers, dessen Körper und Hirn selbst zum 24 Stunden Monitor gerinnt, der Informationen, Marktgerüchte und Nachrichten in der Form pulsierender Datenpakete absorbiert oder wahlweise verbreitet, um hierin mit dem Hyperpuls der trotz des permanenten Einsatzes der Wahrscheinlichkeitskalküle weiterhin unvorhersehbaren Marktbewegungen verschaltet zu bleiben, bis schließlich der Broker zu dem wird, was er in beschleunigter und getakteter Permanenz bearbeitet und studiert: zu einem »pulsierenden und fibrillierenden Leuchtpunkt des Geldes.«16 Und wirklich seltsam korrespondiert das Baudrillardsche Arbeitsmannequin mit der »Industriesklavin« von Pierre Klossowski, der in ihr einen neuen Typus von Arbeitskraft sieht, der u.a. Prostituierte, Models, Film- und Popstars umfasst, und der den Verkauf der heute häufig mittels plastischer Chirurgie hergestellten eigenen Reize zu einer neuen Lebens- und Daseinsform macht.

1) Miyazaki, Shintaro: Algorhythmisiert. Eine Medienarchäologie digitaler Signale und (un)erhörter Zeiteffekte. Berlin 2013.

2) Deleuze, Gilles/Guattari, Félix:Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1992, S.635.

3) Barad, Karen: Verschränkungen. Berlin 2015, S.92.

4) Raunig, Gerald: Dividuum. Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution Bd.1. Wien, Linz, Berlin, London, Zürich 2015, S.87ff.

5 Ott, Michaela: Dividuationen. Theorien der Teilhabe. Berlin 2015.

6 Lazzarato, Maurizio: Signs and Machines. Capitalism and the Production of Subjectivity. Los Angeles, S.55f

7 Guattari, Félix: Chaosmose. Wien 2014, S. 18.

8 Baudrillard, Jean: Die Konsumgesellschaft. Ihre Mythen, ihre Strukturen. Berlin 2015, S.269.

9 Serres, Michel: Erfindet euch neu! – Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Berlin 2013.

10 Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst — Soziologie einer Subjektivierungsform.
Frankfurt/Main 2007, S.278.

11 Kroker, Arthur/Weinstein, Michael A.: Datenmüll. Theorie der virtuellen Klasse. Wien1997, S 65.

12 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Frankfurt/Main 1979, S.146.

13 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Frankfurt/Main 1979, S.85.

14 Virno, Paolo: Grammatik der Multitude/Die Engel und der General Intellect.
Berlin/Wien 2008, S.145-146.

15 Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. München 1983,S.33.

16 Kroker, Arthur/Kroker, Marilouise/Cook, Davis (1999): Panik-Enzyklopädie.
Wien, S.105.

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