Ein Dezember zum Erinnern, um ihn (damit) zu Vergessen

Der griechische Aufstand von 2008 war ein “Bild aus der Zukunft”. Lag diese Zukunft in der Vergangenheit oder wird sie noch kommen?

Guy Debord schrieb, dass das Erscheinen von Ereignissen, die nicht von uns verursacht wurden, uns zwingt, uns des Vergehens der Zeit bewusst zu werden. Aber was ist mit dem Verhältnis zwischen dem Lauf der Zeit und den Ereignissen, die wir tatsächlich geschaffen haben? Ich bin versucht zu sagen, dass dies uns stärker belastet. Wie sonst kann man dieses prägnante Gefühl des Unbehagens erklären, wenn ich merke, dass bereits zehn Jahre seit der Revolte vom Dezember 2008 in Griechenland vergangen sind? Ein ganzes Jahrzehnt ist seit dem schicksalhaften Samstagnachmittag vergangen, als ich bei einem Kaffee und Cognac mit einem alten Freund diesen Anruf erhielt: “Ein Kind wurde gerade in Mesologgiou erschossen.”

Ausgerechnet in der Mesologgiou Straße. Diese kleine Fußgängerzone wurde kürzlich von einem beliebigen Ort in der Stadt in einen lebendigen Treffpunkt für Jugendliche verwandelt, die aus Gründen der Haltung oder des „Lifestyles“ nicht bereit oder in der Lage oder willens waren, von den öffentlichen Straßen in die privatisierten, schick eingerichteten Bars und Cafés überzusiedeln. Die Mesologgiou Straße war ein Zeugnis dafür, dass öffentliche Räume, frei von kalkulierten Angebot und Nachfrage, noch existieren konnten. Man sollte daraus aber nicht ableiten, dass ihre Präsenz automatisch den Interessen der Kleinunternehmer dieser Gegend entgegengesetzt war: Wo immer sich junge Menschen treffen, generieren benachbarte Räume immer auch einen Gewinn aus der Leidenschaft, der Vitalität und vor allem dem Geld der Jugendlichen. Alles in allem hatte sich also nicht viel verändert, seit einige Radikale in den späten 1970er Jahren als Reaktion auf die Kommerzialisierung abgelegener griechischer Strände erklärten, dass “Freaks den Weg weisen und Geschäftsleute folgen”. Als ich in einem Café auf dieser Straße arbeitete und in meiner Freizeit auch auf den Bänken in der Straße herum hing, konnte ich die Überschneidungen zwischen den beiden Welten beobachten. Gegenkultur nährt immer auch das Geschäftsleben.

Dennoch war die Mesologgiou Straße für kurze Zeit zum schlagenden Herzen eines Areals geworden: Exarchia – einzigartig in ganz Griechenland. Diese Spezifität hatte weniger mit den Studenten, Radikalen, Alkoholikern, Bohemiens, Künstlern und Junkies zu tun, die dort lebten und sich trafen. Es gibt zahlreiche Räume auf der ganzen Welt, die solche unproduktiven Charaktere anziehen. Der Hauptunterschied war, dass Exarchia ein Ort war, an dem die Polizei nicht zugelassen wurde. Genauer gesagt, sobald sie in Exarchia Fuß zu fassen versuchte, wurde sie angegriffen. Die Bullen wussten es, die Einheimischen wussten es und dank der furchterregenden Berichte in den Medien über diesen Teil von Athen taten es auch alle anderen in Griechenland.

Was viele Menschen jedoch nicht wussten, war, dass Exarchia die niedrigsten Kriminalitätsrate in ganz Griechenland vorzuweisen hatte. Dies wurde vom Polizeipräsidenten unbeabsichtigt und mit anschließender Verlegenheit während einer TV-Talkshow in diesen unruhigen Tagen im Dezember zugegeben. Obwohl in den Medien häufig als Ort der Kriminalität dargestellt, waren die dort begangenen Verbrechen auf zwei sehr spezifische Kategorien beschränkt: Angriffe auf Eigentum (meist das Anzünden von teuren Autos, da es in Exarchia keine Banken oder gar Geldautomaten gab) und Angriffe auf die Polizei. Diese Vorfälle wurden nur von denen als antisoziale Kriminalität eingestuft, die Unterdrückung und Eigentum über alle sozialen Beziehungen stellen.War es ein lang ansammelnder Widerwille über diesen Tatbestand, der den Bullen Epaminondas Korkoneas dazu brachte, Alexis Grigoropoulos in dieser Nacht zu erschießen? Oder war es einfach nur die Arroganz, die die Bullen allerorten haben, in dem Bewusstsein, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes mit Mord davonkommen können, ohne ernsthaft sanktioniert zu werden? Wir werden es wahrscheinlich nie erfahren, denn dazu müsste der Mörder selbst aufdecken, welche verinnerlichte Misanthropie ihn dazu gebracht hatte, den Abzug zu drücken. Was wir wissen, ist, dass Korkoneas und sein Partner in ihrem Streifenwagen eine von Exarchias Straßen entlang fuhren – eine provokante Geste an sich – und dass Alexis und seine Freunde auf ihren Anblick so reagierten, wie die meisten Menschen in Exarchia reagieren würden: Indem sie sie anschrieen, aus dem Viertel zu verschwinden. Aus irgendeinem Grund passte dieses fast ritualisierte Verhalten am 6. Dezember 2008 den beiden Polizisten nicht, die beschlossen, diesen Kindern – und sie waren Kinder, erinnern wir uns – eine Lektion zu erteilen. Also parkten sie ihr Auto, stiegen aus, gingen auf sie zu und Korkoneas nahm im Handumdrehen seine Waffe heraus und schoss auf Alexis zweimal. Das Letzte, was die Leute vor den Schüssen hörten, war eine jugendliche und trotzige Stimme: “Was wirst du tun? Uns erschießen?

Direkt im Zentrum von Athen und nur einen Steinwurf von Kolonaki, einem der reichsten Viertel, entfernt, war Exarchia nicht nur symbolisch, sondern auch ganz konkret ein separater Raum. Da Polizisten hier unwillkommen waren, sorgten sie dafür, dass sie an den Grenzen sichtbar waren. So stationierten sie ihre Truppen an den Rändern und schufen so einen regelrechten Belagerungszustand. In den frühen 90er Jahren bedeutete der Weg dorthin (Exarchia) die Passagen von Polizeiabsperrungen zu überwinden und die damit verbundenen Schikanen, die all diese Absperrungen mit sich bringen, zu ertragen. Ob sie es nun darauf angelegt hatten oder nicht, ihre tyrannischen Verhaltensweisen trugen wesentlich dazu bei, eine ganze Reihe von Menschen zu radikalisieren, die die Rolle der Polizei in der modernen Gesellschaft sehr gut und recht früh verstanden.

“Tagelang wurden die Barrikaden um Exarchia von Leuten verteidigt, die nicht die gleiche Sprache sprachen, sich aber trotzdem perfekt verstanden.”

Dasselbe kann jedoch nicht über die “schwereren Geschütze”, die der Welt der Waren, gesagt werden. Vor allem in den Jahren nach der Aufnahme Griechenlands in die Währungsunion der Eurozone und der anschließenden Überflutung mit billigen Krediten, die vor allem von französischen und deutschen Banken orchestriert wurden, wurde das belagerte Gebiet Exarchia von etwas anderem als von Bereitschaftspolizisten überrannt: Neuen Cafés und Bars, Tavernen und schicken Restaurants, Musikläden und anderen ähnlichen Einrichtungen, die ein Wohnviertel in eine Ansammlung von Unterhaltungsangeboten umwandelten. Aber auch hier gab es einen interessanten Unterschied. Griechenland war immer ein Land mit einer sehr geringen Kapitalkonzentration, d.h. es war immer in erster Linie kleinbürgerlich, mit mehr Ladenbesitzern als Industriellen. Zusammen mit der anarchistischen Ablehnung von Chefs führte dies dazu, dass viele dieser neuen Geschäfte in Exarchia von den gleichen Radikalen eröffnet wurden, die an der Gestaltung des antiautoritären Ambientes des Viertels beteiligt waren. Raoul Vaneigem behauptete zu Recht, dass “alles, was dich zum Besitzer macht, dich an die Ordnung der Dinge anpasst”, aber die spezifischen Umstände dieser temporären Gentrifizierung haben den Anti-Polizei-Charakter der Nachbarschaft nicht ernsthaft geändert. Mein Chef im Café, ein im Exil lebender türkischer Anarchist, hat nie Einwände erhoben, als wir den von der Bereitschaftspolizei Verfolgten Schutz boten.

Als ich in dieser Nacht in Exarchia ankam, kurz nachdem Alexis’ Tod bestätigt worden war, kam ich sofort in eine ungewöhnliche Situation. Wie erwartet, waren die Einheimischen und Nachbarn da und sprachen endlos über das, was sie gesehen oder gehört hatten. Wie erwartet, waren da die wütenden Anarchisten, brachen in Tränen aus und verkündeten Rache. Neu war jedoch eine stetig wachsende Menge, die weder aus Einheimischen noch aus Radikalen bestand. Groß und entschlossen, diese Menge sprach nicht, als ob sie bereits wusste, dass es nichts mehr zu sagen gäbe. Diese stille, entschlossene und doch undefinierte Menge würde sich in der Dezemberrevolte der folgenden Wochen einnisten und sie mit einigen ihrer beständigsten Eigenschaften versehen.

Ein paar Wochen. “Wie können wir nach all dem wieder zur Arbeit gehen?” schrieb jemand in den Straßen von Athen, in einer erschütternden Zusammenfassung des Augenblicks. Und doch kehrten wir zurück – zur Arbeit, zur Normalität. Mit diesen Worten, die die Situation auf den Punkt gebracht hatten, war nicht nur die unerbittliche Rückkehr der normalen Zeit nach einer Revolte, sondern auch der Bruch, der vollzogen worden war, aufs Trefflichste beschrieben. In einer Revolte bemerkt man nur die Abwesenheit von Zeit: Die ersten vier Tage vergingen ohne Schlaf, und doch war niemand müde.


In Griechenland waren zwei oder drei Tage mit Demonstrationen und Unruhen vielleicht nicht besonders häufig, aber auch nicht selten. Aber in diesen Wochen, immer wenn man das Gefühl hatte, dass es vorbei war, brach ein neuer Aufstand aus. Nach den ersten 48 Stunden intensiver Unruhen rund um Exarchia und das Zentrum von Athen zum Beispiel erwachten wir mit der Nachricht, dass Schüler auf die Straße gegangen waren und Polizeiwachen im ganzen Land gestürmt hatten. Etwa zur gleichen Zeit riefen die Lehrergewerkschaften zu einem dreitägigen Streik auf und organisierten die erste offizielle Demonstration. Es gab, um ehrlich zu sein, nichts Offizielles daran. Von Anfang an, wie entsetzte Journalisten beschrieben, stank die versammelte Menge geradezu nach Benzingemischen. Zum ersten Mal jedoch schreckte das niemanden ab. Als die Polizisten die Demonstranten zurück nach Exarchia verfolgten, warfen die Bewohner Blumentöpfe und Wasser von ihren Balkonen auf sie. Als der Bürgermeister von Athen einige Tage später die Menschen aufforderte, nicht mehr zu protestieren und ihre Weihnachtseinkäufe wieder aufzunehmen, reagierten die Demonstranten mit dem Abbrennen des Weihnachtsbaums, der vor dem Parlament stand. Während Alexis’ Beerdigung brachen heftige Unruhen direkt vor dem Friedhof aus, auf die die Polizei mit Schüssen in die Luft reagierte. Die Intensität war jedoch nicht auf die Gewalt beschränkt. Auch der öffentliche Raum wurde neu gestaltet, um Taten mit Worten zu verbinden. Nachdem die ersten Universitäten um Exarchia besetzt waren, um als sichere Räume vor Polizeiangriffen zu dienen (eher eine instinktive erste Entscheidung, da die Unruhestifter tagelang ganze Blöcke kontrollierten), verbreitete sich die Botschaft. Und obwohl das Bildungsministerium schnell die Schließung der Schulen an einem staatlich genehmigten Trauertag ankündigte, waren die widerspenstige Besetzer viel schneller: Die meisten Schulen und Universitäten in Athen waren bereits besetzt. Innerhalb einer Woche wurden mehr als 600 Schulen und 150 Universitäten in die Liste der Besetzungen aufgenommen. Die Demonstrationen, Besetzungen und Unruhen hörten erst in der ersten Januarwoche 2009 auf.


Unsere Erinnerungen täuschen manchmal und zufällige Überschneidungen machen es noch schwieriger, Ereignisse voneinander zu trennen, die in Verbindung zu stehen scheinen. Die Tatsache, dass beispielsweise der Aufstand vom Dezember 2008 nur zwei Monate nach dem Zusammenbruch von ‘Lehmann Brothers’ stattfand, veranlasste viele, den Aufstand als eine weitere Folge der ein Jahr zuvor begonnenen globalen Krise zu sehen. Aber Griechenland war damals nicht von der globalen Krise betroffen. Griechische Banken waren ein unbedeutender Teil des globalen Finanzsystems und waren nur minimal (wenn überhaupt) vom Kollaps der Finanzgeschäften betroffen. Sie waren zwar fest mit dem europäischen Bankensystem verbunden, was dazu führen würde, dass Griechenland anderthalb Jahre später für die so genannte Eurozonenkrise zum Nullpunkt wird. Aber nichts davon war im Jahr 2008 vorhanden.

Vielleicht erklärt dies, warum es so vielen angemessen erschien, die Revolte als “ein Bild aus der Zukunft” zu bezeichnen, da sie tatsächlich eine Reihe ähnlicher Revolten voraussah, die die Welt für mindestens ein halbes Jahrzehnt erschüttern würden – in Ägypten, in London, in Griechenland selbst. Die Zusammensetzung der Menge wäre ein naheliegender Anhaltspunkt für ein solches Argument. Denn es handelte sich um eine Menschenmenge, die weder mit der offiziellen Linken und ihren Gewerkschaften oder Parteien vereinbar war, noch mit der neoliberalen Vorstellung von isolierten, vereinzelten Konsumenten übereinstimmte, deren einzige gemeinsame Erfahrung darin bestand, dass sie sich an die Preismechanismen des Marktes anpassten. Sie bestand aus Arbeitern, die wussten, dass die dünne Linie, die “sichere” von “prekärer” Beschäftigung trennte, im Grunde genommen bedeutungslos war; Arbeitslosen, die sich des dauerhaften Charakters ihrer nur scheinbar temporären Zwangslage voll bewusst schienen; Facharbeitern, die vielleicht (oder auch nicht) verschuldet waren; Eltern, die die Zwänge des Rückzugs auf familiäre Sicherungssysteme ablehnten; Schüler, die sich sofort mit Alexis und den Reaktionen auf seinen Tod identifizierten; und eine ganze Reihe Anderer, vereint durch die zunehmende Unzufriedenheit mit einer Welt, die bereits zu unerträglich war, um ihr den Mord an einem 15-Jährigen unbeantwortet durchgehen zu lassen. Noch beeindruckender war vielleicht die äußerst signifikante Beteiligung von Migranten, die nicht mehr isoliert in ihrer Nachbarschaft, sondern nun inmitten der Ereignisse zu finden waren. Obwohl diese Aspekte der Revolte in den meisten Berichten ignoriert wurden, wurden die Barrikaden um Exarchia tagelang von Menschen verteidigt, die nicht die gleiche Sprache sprachen, sich aber dennoch perfekt verstanden

Die Anzahl dieser Ansammlungen von Kämpfenden, die den nationalen und internationalen Beobachter den Atem raubten, war im Vergleich zu anderen Geschehnissen eher gering. Die größte Demonstration umfasste nicht mehr als 35-40.000 Menschen, während die sozialen Bewegungen, die einige Jahre später gegen die Sparpolitik kämpften, immer wieder mehr als 200.000 Menschen auf die Straße brachten. Aber auch wenn ein quantitativer Vergleich ins Leere greift, so gilt dies nicht für den qualitativen Aspekt. Diese Menschenmengen zum Beispiel stellten keine konkreten Forderungen. Dies ist ein weiteres Merkmal, auf das man heute überall trifft und das die politische Entscheidungsträger vor Angst schaudern lässt. Aber welche Art von “Forderungen” kann man auch als Reaktion auf ein Ereignis artikulieren, das von allen als ein Charakteristikum und nicht als ein Defekt des heutigen Herrschaftssystems verstanden wird?

Die Rechte war gezwungen, einzugestehen, dass eine Tragödie stattgefunden hatte, wobei sie schnell betonte, dass es sich bei dem Vorfall um einen Einzelfall handelte. Gleichzeitig stellte sie öffentlich die Frage, was ein 15-Jähriger überhaupt um diese Zeit an diesem Ort zu suchen habe. Ihr Hauptanliegen war wie immer die Wiederherstellung der Ordnung. Da die Situation zunehmend außer Kontrolle geriet, zögerten einige Mitglieder der rechten Partei Neue Demokratie nicht, die Intervention des Militärs vorzuschlagen. Aber die Linke befand sich in einer ebenso misslichen Lage: Ihr Weltbild (und ihre Rolle darin) hinderte sie daran, mehr zu verkünden als das peinliche Versprechen, die Polizei “zu demokratisieren”.

Diese recht zeitgemäße Art des politischen Bankrotts ließ einen Raum für die Intervention von weniger “geachteten” Subjekten offen. Dies führte zu einer besonderen Lesart der Dezemberrevolte, die sie als Bestätigung der anarchistischen Grundidee sah. Es ist nicht zu leugnen, dass das eindeutige Verhältnis der Anarchisten zur Gewalt gegen die Polizei, ihre Fähigkeit zu strategischen Straßenkämpfen und ihre Erfahrung mit der Besetzung und Einberufung von Versammlungen entscheidend waren. Sie drückten nicht nur die Stimmung jener Tage aus, sondern halfen auch, Strukturen und Ereignisse (besetzte Räume, tägliche Versammlungen, Unruhen) zu schaffen, die die Zeit und den Raum der Revolte erweiterten. Zum ersten Mal stand die griechische anarchistische Szene wirklich im Rampenlicht.

Diese plötzliche Exposition veranschaulichte aber auch die Grenzen des Milieus. Gewohnheitsmäßig an ihre gesellschaftliche Marginalität gebunden, erwies sich eine bedeutende Anzahl anarchistischer Militanter als sehr feindselig gegenüber Menschen, die nicht in den gleichen Milieus verkehrten. Als einige Arbeiter, die polizeiliche Warnungen und massenmediale Beschreibungen der totalen Kriegsführung ignorierten und nach Exarchia gingen, um an der Versammlung des besetzten Gebäudes des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes teilzunehmen, wurden sie mit abschreckendem Argwohn behandelt. In den ersten beiden Vollversammlungen des besetzten Gebäudes hörte man Kommentare wie: “Wer bist du?” und “Ich habe dich noch nie zuvor gesehen”. Traf man auf eine Haltung, die man auch während der sozialen Bewegungen gegen die Sparmaßnahmen 2010-2012 beobachten konnte und viele Anarchisten verkündeten ihre Weigerung, sich den Massenprotesten anzuschließen, mit der Rechtfertigung, dass diejenigen, die an ihnen teilnahmen, bei anderen Umwälzungen oder Ereignissen, die die Anarchisten für wichtig hielten, “nirgendwo zu sehen waren”.

Noch schlimmer war die unglaubliche und unerklärliche Entscheidung des “Besetzungskomitees” der Polytechnischen Universität, Aufständischen, die entwendete Waren aus geplünderten Geschäften mit sich führten, den Zugang zu verwehren, teilweise unter dem Einsatz von Gewalt. Was eine große Menge von Menschen, insbesondere Migranten, befremdet hat. Die offizielle Entschuldigung für diese Entscheidung, die man in den folgenden Monaten in einigen anarchistischen Publikationen nachlesen konnte, war, dass Plünderer die Unruhen zur persönlichen Bereicherung nutzten. Das war natürlich Unsinn, zumal es die Tatsache zu leugnen scheint, dass viele Anarchisten auch an der Plünderung von Geschäften beteiligt waren. Was eine eher wahrscheinliche (aber nicht erwünschte) Erklärung zu sein scheint, so hing dieses Verhalten wahrscheinlich mit einer Tendenz in den Massenmedien und ihrer Berichterstattung über die Ereignisse zusammen: Unter dem Vorwand eines Verständnisses für die gegen die Polizei gerichteten Reaktionen haben die Medien bei der Plünderung von Geschäften eine Trennlinie gezogen und behauptet, dass solche Aktivitäten nichts mit der berechtigten Wut der Bevölkerung zu tun hätten. So scheint es, dass viele Anarchisten diesen Ansatz verinnerlicht und beschlossen haben, entsprechend zu handeln und so die “Würde” der Bewegung zu schützen. Es besteht kein Zweifel, dass diese Einstellungen eine wichtige Rolle dabei gespielt haben, das Zusammenkommen verschiedener Segmente in der Revolte zu verhindern, lange bevor die durch die Dezemberbarrikaden eröffneten Wege wieder verschwunden waren.

Jubiläen sind kontraproduktiv. Anstatt ihrem offiziellen Anliegen gerecht zu werden, an ein vergangenes Ereignis zu erinnern, dienen sie als Erinnerungen an den Wandel der Zeit oder, was noch schlimmer sein könnte, rufen sie ein Gefühl der Nostalgie hervor, das notwendigerweise die Widersprüche und Missstände verdeckt, die zu jedem Ausbruch eines sozialen Antagonismus gehören. Deshalb neigen sie zur abstrakter Verherrlichung, ein Ansatz, der besonders sichtbar wird, wenn seitdem nicht viel das soziale Gefüge aus seiner gewohnten Selbstgefälligkeit gerüttelt hat.

Aber der Dezember 2008 hatte nicht das Glück oder das Unglück eines solchen Auswegs. Bald darauf trat Griechenland in die zweifellos intensivste Phase seiner modernen Geschichte ein, eine Krise, die weitaus größere Menschenmengen für wesentlich längere Zeiträume mobilisierte. Und da aus heiterem Himmel kein Sprung in die “offene Weite der Geschichte” erfolgt, wurden viele der Merkmale der Dezemberrevolte in diese nächste Phase des Antagonismus hineingetragen, meist von Subjekten, die an diesen Tagen noch nicht einmal teilgenommen hatten. Wenn sich nichts ändert, dient dieses ständige Gedenken dazu, dass das Material, das den sozialen Antagonismus schmiedet, sich seine eigene Geschichte und Erinnerung schafft, wie ein heruntergefallener Stein, der von der nächsten Reihe von Kämpfen aufgegriffen wird. Und dabei lacht es all denen ins Gesicht, die sich als rechtmäßige Vertreter und Wächter eines jeden Aufstandes verstehen, arrogant genug, um seine rituellen Jahrestage zu organisieren.

Pavlos Roufos

Anmerkungen:

Die Übersetzung dieses Textes, der vor wenigen Tagen auf Commune veröffentlicht wurde (https://communemag.com/a-december-to-remember-a-december-to-forget/), erschien mir aus mehreren Gründen wichtig. Zuerst gegen die vorherrschenden Narrative, linker und anarchistischer Prägung, den Dezember 2008 betreffend.

Zweitens weil mich die Schilderung der Verwandlung des Ortes (Exarchia) nicht durch polizeiliche Repression, sondern durch eine subkulturelle, Staats-feindliche/ferne „Szene“ sehr an die Geschichte Kreuzbergs erinnert. Auch hier konnten in den Hochzeiten der „Bewegung“ Streifenwagen nur mit Geleitschutz von Wannen und Zivilstreifen ihre Dienstfahrten verrichten, führte jegliche polizeiliche repressive Maßnahme zu sofortigen Widerstand, an dem sich die Mehrheit der Bewohner des Viertels passiv/aktiv beteiligten. Und läuteten erst die Umwälzungen Ende der 80iger die endgültige Niederlage auf diesem Terrain ein, gebaren das „subversive Disneyland“, das man heute in der Oranienstraße bestaunen kann.

Und drittens weil der Text die Beschränkung einer „Politik des Milieu“ aufzeigt, die Arroganz einer sich antagonistisch gebenden „Szene“, die teilweise mit Arroganz und Abscheu auf den revoltierenden „Pöbel“ schaut. Ein Drama, das sich aktuell teilweise auch im Verhältnis vieler Linksradikaler zu der Bewegung der Gelben Westen wieder spiegelt.

Im Übrigen erfolgte die Übersetzung frei und sinngemäß, Sebastian Lotzer, 4. Januar 2019

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