Ein neuer Anlauf – Der Herbst der Aufstände

Die Gilets Jaunes, Hongkong, Ecuador, Haiti, Ägypten, Algerien, Guinea, Libanon, Katalonien, und jetzt Chile, diese Geschehnisse markieren den Beginn einer neuen Sequenz der Revolte.

Wir (Lundi Matin*) haben dieses schriftliche Kommuniqué gemeinschaftlich aus Santiago und Paris empfangen und hiermit weitergeleitet.

Jene gewissen Jemande (Quidams), noch einen Hieb mehr…

In der Praxis. Selbst der kleinste Zwischenfall, den man dem Zufall zuordnen könnte, kann sich nicht abspielen, ohne die gesamte Situation in Frage zu stellen. Schön wie eine zufällige Begegnung, sich ereignend auf einer Weltkarte, mit den Bullen und der revoltierenden Menge, kristallisierten sich die Unruhen von Santiago in wenigen Stunden zu einem Abbild aller Herausforderungen und Dispositionen unserer Epoche heraus. Vor Ort: Die immer größere Bedeutung der Zirkulation (Waren und Menschen), die jede neue Preiserhöhung zu einer Überlebensfrage macht. Auf der Seite der Macht: Die schäbigen Sicherheitsinfrastrukturen, die den unvermeidlichen Hintergrund des kybernetischen Kapitalismus bilden. Und wenn neue Greuelgesetze noch nicht erlassen worden sind, gibt es immer noch die Möglichkeit, auf alte Reflexe zurückzugreifen. Konkret den Ausnahmezustand und eine Armee, die sich seit Pinochet nicht verändert hat. Auf unserer Seite schließlich: Die unerbittliche Aktualität der strategischen Tendenz, der unbändige Impuls eines Wunsches nach einem dauerhaften und tiefgreifenden Aufstand, die bewussten Anstrengungen einiger Köpfe, einiger Körper, die diese Bewegung tragen, von der unser aller Zukunft abhängt. Schließlich der Mut von einigen tausend Gymnasiasten, die allein wussten, wie man eine ganze Hauptstadt zum Aufstand aufruft.

Ungebändigt sein. “Kein Jäger hat jemals gewusst, was er mit unserer Rohheit anfangen soll, denn sie lässt sich an keine Kette legen, auf die Ausmaße irgendeines Käfig reduzieren, weil sie immer entkommt, immer ihren Weg verfolgt, gerufen wird, auftaucht und verschwindet, zuschlägt, so wie der Schmerz besteht, weil es eben Schmerz ist. Und Schmerz ist unsere Geschichte.”

Diese Geschichte, heute schmerzhaft entzündet, weint, trauert, überfliegt die Tore der Stadt, plündert die feindliche Stadt, die gefangengehaltene Stadt, diese Stadt mit ihren alten und ach so respektablen Kolonialnamen. Die Stadt der Ängstlichen, die Stadt derer, die Pharao gespielt haben. Aber nein. Wir werden uns nicht unterwerfen. Niemand, weder in Santiago noch in Chile noch irgendwo sonst, akzeptiert, mit seinem Leben den Wahnsinn ihres Reichtums zu bezahlen”

Wir. Wir hätten nie daran gedacht, in einer Welt zu leben, in der wir ernsthaft erwägen könnten, einen feierlichen Satz zu schreiben, einen dieser guten alten Sätze, von denen wir dachten, dass sie endgültig in dem Kuriositätenspeicher der Geschichte eingesperrt wären, einen jener Anrufe, die Marx würdig sind, an die “Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!“ Und doch, Aufstand um Aufstand, Stadt um Stadt, Land um Land, Woche um Woche, ist es die Überzeugung, einen gemeinsamen Aufstand zu erleben, der uns ergreift. Die Krise der Regierungsgewalt ist allgemein: Jene gewissen Jemande (Quidams) aller Metropolen, vereinigt euch.

Kollabieren. Wenn diejenigen, die sich vor 3000 Toten und Vermissten nicht zurückgezogen haben, ohne zu zögern 40’000 weitere Menschen gefoltert haben, die Armee nach einem einfachen Aufruhr wieder mobilisieren, erfahren wir in der gleichen Woche, dass China den Verkauf schwarzer Kleidung teilweise verbietet. Das Imperium zittert und der Zusammenbruch des Kapitalismus ist vielleicht näher als das Ende der Welt.

Epoche. Seit 1968 und der Zertrümmerung seines Erbes unter der neoliberalen Gegenreaktion schien das Geschehen noch nie so offen. Die gelben Westen, Hongkong, Ecuador, Haiti, Ägypten, Guinea, Libanon, Katalonien, Honduras und jetzt Chile markieren die Eröffnung einer neuen Sequenz. So reformistisch die Forderungen auch sind, wir stehen an einem Scheideweg. Eine noch immer anonyme Klasse, die sich ihrer in verwirrter Weise bewusst ist, beginnt zu verstehen, dass unsere Schicksale miteinander verbunden sind. Die aktuelle ökologische Katastrophe ist der Schauplatz einer Entscheidung zwischen der „Nacht der Überwachung“ und dem „Glanz der Rückkehr der Welt“.

Quidams, wieder ein Versuch, umfassend revolutionär zu sein. Wir rufen zu unzivilem (!) Ungehorsam in den Städten der Welt auf.

Santiago de Chile – Paris, 19. Oktober 2019



Dieser Text erschien am 21.10.2019 auf Lundi Matin. Leider war es dem Übersetzer nicht möglich, der vollen Schönheit, der Poesie des Textes gerecht zu werden, gleichzeitig hat sich aber auch niemand sonst gefunden, der diese wichtigen Zeilen der deutschsprachigen Leserschaft zur Kenntnis bringt. So muss diese mit dieser Annäherung leben.

Sebastian Lotzer, den 23.10.2019

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