Ein neues Außen finden

»Wir wussten, dass dieses System weltweit immer weniger Menschen eine Möglichkeit für ein Leben in Würde lassen wird. Und wir wussten, dass dieses System den totalen Zugriff auf die Menschen will, so dass diese sich den Werten des Systems selbst unterwerfen und sie zu den eigenen machen. Aus dieser Ahnung kam unsere Radikalität. Für uns gab es mit diesem System nichts zu verlieren.«

»Trotzdem hat die Aufregung über unsere Gewalt auch irrationale Züge. Denn der tatsächliche Terror besteht im Normalzustand des ökonomischen Systems.«

(aus der RAF-Auflösungserklärung, geschrieben im März, veröffentlicht im April 1998)

Vor 20 Jahren verkündete die Rote Armee Fraktion in einer mehrseitigen Erklärung ihre Auflösung. Es waren nur noch wenige Genossinnen und Genossen in der Illegalität, drei von ihnen stehen heute noch zur Fahndung aus und werden, ich greife es vorweg, hoffentlich von solidarischen Strukturen getragen und nie gefangengenommen. Denn sie hätten nichts anderes als die deutsche Niedertracht gegenüber Revolutionären und Aufständischen zu erwarten, die Alternative, alles zu verraten oder den Rest ihres Lebens im Gefängnis zu verbringen.

1970 hatte sich die RAF gegründet, damals war die Erklärung mit einer Aktion verbunden, der Befreiung von Andreas Baader aus dem Gefängnis. Die Schlusserklärung verzichtete auf ein aktionsförmiges Auftreten. 28 Jahre waren in der Zwischenzeit vergangen, die letzte Aktion der RAF, die Sprengung des Gefängnisneubaues in Weiterstadt lag auf den Monat genau fünf Jahre zurück. Fast fünf Jahre zurück lag jener Zusammenstoß mit der GSG 9 in Bad Kleinen, bei der es zur extralegalen Hinrichtung des RAF-Mitglieds Wolfgang Grams kam, der zuvor im Feuergefecht das GSG-9-Mitglied Michael Newrzella erschossen hatte.

Kein Zurück

Politisch hätte die Selbstauflösung der RAF wohl auch früher kommen können, aber niemand aus der RAF war dazu in der Lage. Der Bruch mit der Gesellschaft des Kapitals war zu tief, die Trennung zu endgültig, als dass sie einfach hätte aufgehoben werden können. Ein Zurück war für uns nie eingeplant. Im herrschenden System hatten wir nichts zu verlieren. Die Entscheidung, das intransigente Verhältnis in der Praxis aufzulösen, kam aus der Erkenntnis, einen revolutionären Raum nicht eröffnen zu können. Eine Handlung, die ohne Bitterkeit nicht denkbar ist.

Wer einmal die Erfahrung von Befreiung berührte, wird von ihr nicht mehr losgelassen. Pier Paolo Pasolini hat diesen Tatbestand aus einer düsteren Vorahnung filmisch festgehalten. Sein Film »Teorema« von 1967 behandelte bereits die Folgen aus den Erfahrungen einer real erlebten und dann verschwundenen Befreiung. Der Unbekannte und Namenlose in diesem Film, der gottesgleich im bürgerlichen Milieu auftaucht und alle beglückt, hinterlässt mit seinem ebenso begründungslosen Verschwinden das Drama und die Verletzung einer abgebrochenen Befreiung.

Reale Möglichkeit

Ich erwähne diesen Film, weil er meiner Meinung nach gut als eine Allegorie auf die 68er-Bewegung gesehen werden kann, wobei das »68« hier nur als Chiffre steht für den Aufbruch einer vorwiegend gesellschaftlichen Jugend ab Mitte der sechziger Jahre in der Welt. Damals war am Horizont die Vorstellung eines Lebens in Sicht, das nicht mehr durch Ausbeutung und Unterdrückung, Herrschaft und Knechtschaft, Krieg und Autorität als gebrochen und zerstörerisch erfahren wird. Befreiung davon wurde zur realen Möglichkeit. Aus dieser Realitätserfahrung waren Solidarität und Kollektivität einfach. Heute, im Zustand globalisierter Destruktion, wo jeder Ausweg aus einer dystopischen Gegenwart verschlossen zu sein scheint, ist der Gedanke an gemeinsame Befreiung allenfalls abstrakt und im Alltag durch das reaktionäre »Rette sich, wer kann« ersetzt.

Solidarität und Kollektivität sind nicht mehr aus der gemeinsamen Erfahrung einer linken Zukunft heraus vermittelt. Damals musste jemand diese innerhalb der Linken geradezu libidinös besetzte Hoffnung auf Revolution in die Tat umsetzen und diesen Schritt zum bewaffneten Angriff wagen. Die RAF, die Roten Brigaden und viele andere bewaffneten Gruppen einer grundsätzlich militanten Linken wollten sich den Folgen einer abgebrochenen Befreiung nicht unterwerfen und deren historische Möglichkeit offen halten.

Man kann über die RAF auch viel Negatives sagen. Wie auch anders? Glatt geht eine bewaffnete Konfrontation für niemand auf. Das passiert im übrigen seit Jahrzehnten ständig im medialen Raum des Systems und überschlägt sich oft in dummer Häme und im Suchen nach der niederträchtigsten Interpretation gegen ihre alten Akteure, steht aber heute ironischerweise im Widerspruch zu Äußerungen im privaten und halböffentlichen Gespräch mit teilweise sehr biederen Bürgern, wenn sie gerne ihre Meinung kundtun, dass die RAF »heute passen« und von ihnen unterstützt werden würde.

Der Gegensouverän

Man kann über sie und diese ganzen bewaffneten Gruppen aber auch anders denken: Die RAF war der Versuch, die aus Erfahrung gespeiste Vorstellung eines Lebens außerhalb des Kapitalismus im Angriff auf das Ganze zu stärken. Damit hat sie in der Gesellschaft und gegenüber dem Staat die Frage nach der Souveränität aufgeworfen, die jeder wirkliche Klassenkampf und jede wirkliche Fundamentalopposition stellen muss, will er oder sie nicht reformistisch gebrochen sein. Sie hat sich als Gegensouverän verstanden und wurde als solcher auch bekämpft. Diese Tatsache ist auf staatlicher Seite auch der Hintergrund für jenes Sieg-oder-Tod-Verhältnis, dass Helmut Schmidt bei Hans-Martin Schleyer und bei den entführten Passagieren einer Lufthansa-Maschine als Staatsräson aufrichtete, wie ebenso das Etablieren des Freund-Feind-Verhältnisses, am einfachsten belegt in der uferlosen Sympathisantenhetze, in der das fehlende Bekenntnis zum Staat bereits zum aktiven Feindesakt erklärt wurde.

Die 68er-Bewegung hat die Souveränitätsfrage gegenüber der kapitalistisch verfassten Gesellschaftsordnung theoretisch aufgeworfen, aber nach einigen Scharmützeln auf der Straße fallengelassen. Die Angst vor der Vierteilung war zu groß. In der BRD hat die RAF diese in der Praxis vakante Frage angenommen und zu beantworten versucht.

Heute scheint dieses Außen im Konkreten unvorstellbar und verloren. Das System des Kapitalismus ist zwar verbrecherisch wie nie zuvor, hat sich aber in den Menschen als alternativlos festgesetzt. Kriege werden endemisch, die Totalverwertung von Mensch und Natur ist Alltag geworden. Seine Objektstellung und Zurichtung, seine Kontrolle und seine Konditionierung zum angepassten Bürger und funktionalen Konsumidioten, allzeit bereit für alle Sinnlosigkeiten einer oftmals demütigenden Warenwelt sind totaler organisiert als je zuvor, der Repressions- und Kontrollapparat gigantischer als im alten Faschismus. Statt dem Menschen einen sozialen Horizont zu eröffnen, wird sein Blick auf den Boden niedergerückt und die falsche Existenz zur »alternativlosen« erklärt. Alle Werte sind umdefiniert in den einzig wirklichen Befehl zum Selbstverkauf und zum Konsum. Das hat sich als Rahmen des ganzen Lebens etabliert, sowohl in zeitlicher wie in geografischer Hinsicht. Das System hat mit seiner Strategie aus korrumpierter Integration und Vernichtung gesiegt und siegt tagtäglich in der Ausdehnung der sozialen Entwurzelung und Verohnmächtigung des Menschen weiter.

Die Auflösung der RAF folgte der Erkenntnis, dass eine Minderheit, egal wie sie sich anstrengt, alleine ein Außen nicht herstellen kann. Aber wir werden es brauchen, wenn wir nicht untergehen wollen. Der Kapitalismus ist die größte Bedrohung für die Menschheit. Wir werden nur aus seiner Gefahr herauskommen, wenn wir ein neues Außen finden und zur Systemfrage zurückkehren.

 

taken from here

 

Nach oben scrollen