Ein Volk, ein Reich, ein Frieden

Wenn die Atombomben gezündet werden, sind wir tot. Mit den Gegnern der Nachrüstung und der Neutronenbombe aber müssen wir leben. Wenn die Bombe gefallen ist, leidet niemand mehr. Wir leiden – im Atomzeitalter eilen die Kriegsfolgen dem Krieg voraus – an ihren vorweggenommenen politischen Folgeschäden. Danach soll es angeblich singende Küchenschaben mit fünf Köpfen und vier Meter langen Beinen geben. Die Mutationen aber, die uns interessieren, finden vorher statt, und sie sehen ganz anders aus: Man hat eine Friedensbewegung machen wollen, und es wurde eine deutschnationale Erweckungsbewegung daraus.

 „Kein Deutscher kann diese bedingungslose Unterwerfung der Interessen unseres Volkes unter fremde Interessen, diese Auslieferung der Verfügung über die Existenz unseres Volkes an eine fremde Regierung hinnehmen.“ Das bekannte Wort, der vertraute Klang: Danach müßte das Deutschlandlied ertönen, und dann käme der Fahneneid. Wenn solche Parolen aus dem Volksempfänger dröhnen, dann spüren wir, daß wir in der Heimat sind. Die Bevölkerung zur gedemütigten, ja todgeweihten Schicksalsgemeinschaft zusammengeschweißt, keiner darf abseits stehn, man kennt nur noch Deutsche, aber keine Parteien mehr: So hat der Erste Weltkrieg begonnen, so wurde gegen die Kriegsschuldlüge geeifert, gegen das Versailler Friedensdiktat, gegen die Zinsknechtschaft, dem deutschen Volk auferlegt vom internationalen jüdischen Finanzkapital. Das war, fast wörtlich, Jahre später, die Parole von Strauß, als angeblich die Bundesregierung das Volk an die Russen verschacherte, mittels der Ostverträge.

An diesen Text haben wir uns längst gewöhnt. Wenn niemand mehr die Existenz des Volkes bedroht sehen würde – durch die Ausländer, durch die Roten, die Chaoten, mangelnden Kindersegen, wachsende Staatsverschuldung, anschwellende Asylantenflut –, so würde uns etwas fehlen. Nur hat das diesmal nicht Dr. Seltsam im brief dem Spiegel geschrieben. Und er hat mit der bedingungslosen Unterwerfung, die er der Bundesregierung vorhält, nicht etwa, wie man denken sollte, eine von den Alliierten verordnete Demobilisierung der Bundeswehr gemeint, sondern die Stationierung von Raketen. Ein Kriegstreiber ist Gollwitzer, ein Mann von unbestreitbaren Verdiensten, natürlich nicht. Sein Aufruf zur Generalmobilmachung für den nationalen Befreiungskampf hat nicht die Wehrertüchtigung bezweckt, sondern die Erhaltung des Friedens. Mit guten Absichten aber ist der Weg zur Hölle dann gepflastert, wenn die gute Absicht als Wechsel auf eine Generalabsolution verstanden wird, die auch unverzeihliche Fehler deckt.

Mögen anderswo menschliche Vernunft, menschliche Absicht und menschlicher Wille bloß eine List der Geschichte gewesen sein – in Deutschland waren sie allesamt ausgekochte, abgefeimte Hinterlist. Sogar die „antikapitalistische Sehnsucht der Massen“ führte hier gegen alle Erwartung nicht zur revolutionären Befreiung von der Herrschaft des Kapitals, sondern zu deren Krönung, Vollendung und Aufhebung im KZ. Die Teilung hat dieses Land nicht, wie von den Alliierten beabsichtigt, halbiert, sondern verdoppelt. Im nationalen Größenwahn ist es untergegangen, aber Untergänge waren für Deutschlands Wirtschaftskraft eine Frischzellenkur. Hier hat man sich nach der Gleichheit aller gesehnt, und der Eintopfsonntag ist dabei herausgekommen. Hier hat man die Abschaffung von Privilegien so verstanden, daß der kleine Mann, so er Blockwart ist, keine Nachteile befürchten muß, wenn er die Privilegierten denunziert. Hier hat man wortgewaltig den Krämergeist und die Kapitalisten beschimpft, und das Kapital gedieh prächtig dabei, aber danach waren alle Juden tot. Hier ist nichts ungefährlich, nicht mal die Begeisterung für den Frieden – schon gar nicht, wenn die Friedensbegeisterung eine deutschnationale Erweckungsbewegung katalysiert.

 Man könnte nun einwenden, daß Pershingraketen und Neutronenbomben eine Bedrohung seien, gegen die man zu Recht sogar mit dem Teufel paktiert: und wenn wir täglich dreimal sämtliche Strophen des Deutschlandliedes singen, dem kleinen Mann (Ausländer raus) aus der Seele sprechen und Adolf von Thadden, so er noch lebt, zum Bundeskanzler wählen – Hauptsache, die Atomraketen fliegen raus; und wenn wir die Internationale nur noch heimlich hören und sämtliche Einsichten, Erkenntnisse und Prinzipien an die demagogischen Phrasen einer deutschnationalen Friedensbewegung verraten – Hauptsache, die Atomraketen kommen weg. Man vergißt dabei, daß von all den Dingen, welche eine deutschnationale Friedensbewegung attackiert – die Nachrüstung einerseits, aber andererseits beispielsweise die Einsicht, daß kein Sozialist diesem reaktionären Land, so wie es ist, noch mehr Souveränität wünschen kann, und daß wir überhaupt keinen Grund haben, es gegen irgendeine fremde Macht zu verteidigen und es gar zu lieben – man vergißt also, daß von all den Dingen, welche eine deutschnationale Friedensbewegung attackiert, die Atomraketen am widerstandsfähigsten sind. Mit Sicherheit sind die Raketen am Ende immer noch da, und nur unser Verstand, unsere Glaubwürdigkeit, unsere Einsichten, und Erkenntnisse sind weg. Eine Friedensbewegung, die keine Parteien und Klassen mehr, sondern nur noch Deutsche kennt, kann nur einen Teilerfolg erringen: die endgültige Niederlage der Linken.

So könnte man lange weitersprechen. Man könnte an Brechts Diktum erinnern, wonach es die vielen alltäglichen kleinen Lügen sind, durch die wir uns mitschuldig machen an der großen Katastrophe. Wenn Gollwitzer und mit ihm die neue Friedensbewegung diese Bevölkerung in „unser Volk“ verwandelt, dann wurde nicht nur ein Possessivpronomen gesetzt, wo ein Demonstrativpronomen am Platze wäre. Das Volk ist kein Begriff, den die Nazis erst ruinieren mußten, sondern seit hundert Jahren schon die Lüge von der notwendigen schicksalhaften Verbundenheit der einzelnen im nationalen Zwangskollektiv – die Lüge also, welche die aufklärerische Idee der Menschheit und mit ihr das bis heute uneingelöste Versprechen der sozialistischen Revolution dementiert, den Verein freier Menschen.

Man könnte Gollwitzer fragen, ob er wirklich ernsthaft meint, das Verfügungsrecht über die Existenz einer Bevölkerung müsse erst in fremde Hände fallen, um ein Unrecht zu werden – als wäre nicht dieses Verfügungsrecht selbst schon der Skandal. Man könnte ihn um eine Erklärung bitten, woraus er denn die sonderbare Zuversicht schöpft, eine vom Ausland unabhängige Bundesregierung würde auf die Bevölkerung insgesamt und vor allem auf Gollwitzer selber mehr Rücksicht nehmen. Nicht von fremden Mächten, sondern von deutscher Polizei, von der Gestapo und der SS wurden die Menschen, an die wir uns erinnern, ermordet und vertrieben. Im Ausland fanden manche Asyl. Daß wir hier weitgehend unbehelligt leben können, verdanken wir keiner deutschnationalen Souveränität, sondern dem Sieg der Alliierten. Und vor Jahresfrist hat man gewünscht, im Falle eines Wahlsieges von Strauß werde das Ausland, notfalls der CIA, das Schlimmste verhüten.

Wenn Albertz jetzt öffentlich hofft, daß der Patriotismus in Deutschland nie ganz verlorengegangen sei, so ist dem entgegenzuhalten, daß sich zwar niemand das Land, in dem er geboren, und die Sprache, in der er erzogen wird, aussuchen kann. Die Entscheidung aber, jene Zufallsbedingungen, denen er seine Existenz verdankt, zu schätzen oder zu verfluchen, steht jedem frei. Wer Gründe findet, ausgerechnet dieses Land zu schätzen, soll sie nennen. Wer keine findet und trotzdem liebt, soll schweigen, was jemanden im Innersten seines Herzens bewegt, geht uns nichts an. Und wenn die „taz“, im Zusammenhang mit der Friedensbewegung, fragt: „Warum haben wir 36 Jahre nach dem 2. Weltkrieg noch immer keinen Friedensvertrag?“, dann ist neben dem Erstaunen über das nationale „Wir“ im Alternativblatt die Gegenfrage berechtigt: Warum wurde Deutschland damals nicht einfach unter seine Anlieger aufgeteilt – für Auschwitz und 50 Millionen Tote ein vergleichsweise bescheidener und vor allem unblutiger Preis.

So könnte man also lange und geduldig fragen, argumentieren, erklären – wenn die Matadore der neuen Friedensbewegung statt routinierter Veteranen unwissende Anfänger wären. So könnte man Irrtümer aufdecken und korrigieren, so könnte man manierlich über Strategie und Taktik diskutieren – wenn jene Linken, die plötzlich deutschnationale Phrasen im Munde führen, wenigstens windige Opportunisten und durchtriebene Taktiker wären und nicht das, was sie sind, nämlich aufrechte, grundehrliche, treu- und reinherzige Überzeugungstäter. Längst ehe man von der Nachrüstung, der Neutronenbombe und der Friedensbewegung sprach, haben sie, die im Gegensatz zu Millionen von der Not vertriebenen Ausländern in der Bundesrepublik ihr Sprachgebiet nie verlassen mußten und meistens seit Jahren schon im selben Kaff und in derselben Wohnung nisten, ihrer angeblich verlorenen Heimat nachgeflennt.

Wenn Piwitt in konkret meint: „Dieses gedrückte Nationalgefühl der Deutschen rührt auch daher, daß ihnen die revolutionären nationalen Traditionen abgeschnitten wurden“, so ist dies – weil niemand anders als die Deutschen selber ihre (falls überhaupt vorhandenen) revolutionären Traditionen abgeschnitten haben und weil einer den Finger hinhalten muß, damit ihn ein anderer einfach abschneiden kann – eine weinerliche Lüge, die weder dem Frieden noch der Abrüstung dient, sondern einzig dem Gemütshaushalt ihres Erfinders. Wenn Piwitt, der Mann mit der Moralinspritze und dem Zeigefinger, fortfährt: „Dadurch entstand diese amerikahörige Kultivation, dadurch entstand diese Yankee-Sprache, die mit ,fighting‘ und ‚dope‘, ‚Power‘ und ‚message‘ uns selbst dort noch beherrscht, wo wir Widerstand leisten“, dann kommt er mit seinem Vorschlag, die deutsche Sprache von Amerikanismen, also Fremdwörtern zu reinigen, natürlich wieder mal zu spät. Die deutsche Schlagerwelle ist längst am Rollen. Wenn der linke Schriftsteller Gerd Fuchs im Gespräch mit Piwitt, abgedruckt in konkret, behauptet: „Diese Leute haben uns die Ehre abgeschnitten. Ein ganzes Volk haben sie zu ihren Komplizen gemacht. Das ist eine ideelle und auch politische Vergiftung“ – dann braucht es gar nicht klarzuwerden, ob er mit „diesen Leuten“ die amerikanische Regierung, die Bundesregierung oder die Nazis meint. Dies Volk jedenfalls hat nichts Böses getan, man hat es nur aufs Kreuz gelegt und verführt, und Schuld hatten immer die anderen. Wenn Piwitt schließlich das deutsche Kulturerbe tapfer gegen die Überfremdung verteidigt, indem er herzzerreißend über die Besetzung seiner Heimat durch die „Yankee-Kultur“ stöhnt, und wenn er dann jene Frage stellt, welche die Hauptnutznießer wirklicher Ausbeutung und Unterdrückung in der Dritten Welt offenbar am meisten quält: „Also: wie kann ich mich wehren gegen den täglichen Kolonialismus?“ – dann tut er genau das Richtige, freilich am einzigen falschen Ort auf der ganzen Erde.

Mögen anderswo dem amerikanischen Kulturimperialismus die tradierten Lebensformen ganzer Nationen zum Opfer gefallen sein – in Deutschland aber begann mit dem amerikanischen Kulturimperialismus nicht die Barbarei, sondern die Zivilisation. In diesem Land ist jede weitere Filiale der McDonald-Hamburgerkette eine neue Insel der Gastfreundschaft und eine erfreuliche Bereicherung der Eßkultur. Die USA wegen ihrer Rüstungspolitik und ihrer Unterstützung für so ziemlich sämtliche Folterregime auf der ganzen Welt anzugreifen ist eine Sache, aber der Satz, wonach „in einer einzigen Symphonievon Beethoven mehr Kultur liege, als ganz Amerika bisher zusammengebracht hat“, stammt von Hitler, und der Jazz war hier schon mal verboten. Im Dritten Reich galt Amerika als ordinäres, vielsprachiges Rassengemisch, und dabei ist es, wie man aus dem gehässigen Wörtchen „Yankee-Kultur“ schließen muß, geblieben. Die großen politischen Verbrechen, die von Deutschland begangen wurden, entbinden uns nicht von der Pflicht, die kleineren Amerikas anzugreifen. Aber jener begründete Protest gegen die US-Politik ist hier bloß reaktionär, wenn er eine kleine Tatsche vergißt: Hätte Deutschland jemals die militärischen Machtmittel der Vereinigten Staaten besessen, würde auf diesem Planeten niemand mehr leben. Den Protest gegen den Vietnamkrieg – wie lang ist das schon her – haben wir noch im Zusammenhang mit dem deutschen Faschismus begriffen. Kein Deutscher, der sich so nennt, hat das Recht, Amerika zu richten. Wer in Deutschland lebt und trotzdem zu den Verbrechen, die überall auf der Welt begangen werden, nicht schweigen will, muß zuallererst auf seine Nationalität verzichten. Die Deutschtümelei und die nationale Demagogie, welche die neue Friedensbewegung gegen die Nachrüstung und die Neutronenbombe angeblich stärken sollen, entziehen ihr in Wahrheit jede moralische und politische Legitimation.So muß man argwöhnen, nicht erst – was entschuldbar wäre – die Neutronenbombe habe den deutschen Linken den Verstand geraubt, sondern sie hätten ihn längst vorher verloren. So wird man den schlimmen Verdacht nicht los, daß es der Friedensbewegung gar nicht so sehr um die Nachrüstung gehe. Das Blut-und-Boden-Geraune, das Heimatgeflüster, die Gebärfreude undder Mutterkult, die Liebe zu den bleichen Müttern, den Trümmerfrauen, zur Rohkost, zur Natur und zum Heidekraut – dies explosive, Gemisch aus den landesüblichen Gefühlsvaleurs, Larmoyanz und Brutalität, hat es lange vor der Nachrüstung gegeben, und es hat nur noch der Funke gefehlt. Nun ist die Neutronenbombe zum Zünder für eine deutschnationale Erweckungsbewegung geworden. Die Alternativen sind ihre Massenbasis, und das Vaterland hat seine verstoßenen Kinder wieder fest in seine Arme geschlossen. Dies Land zu einen, hat es schon immer überirdischer Kräfte und halber Weltuntergänge bedurft. Was daraus folgt? Natürlich, nichts. Amerika ist mächtig und groß, die D-Mark fällt, die Deutschen sind Anpassungskünstler und Meister darin, sich nach der Decke zu strecken. Übers Jahr ist das alles wieder vergessen, die Nachrüstung und die Neutronenbombe natürlich auch. Dann geht es gegen die Türken.

Wolfgang Pohrt 1982

 
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